Keine Heimat, nirgends

Yelena Akhtiorskayas Roman „Der Sommer mit Pasha“ erzählt vom nostalgieschweren Emigrantendasein

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn man, von Manhattan kommend, Brooklyn in südlicher Richtung durchquert, durch angesagte Hipsterquartiere und Viertel, die sich mit dem Titel „one of Americaʼs ten best neighborhoods“ schmücken, erreicht man den Strand des Atlantik, nur circa 25 Kilometer vom Times Square entfernt. Gelandet ist man dann am Brighton Beach, und nur der Name verhindert die Illusion, sich plötzlich in Russland zu befinden. Ohne russische Sprachkenntnisse, ohne die Fähigkeit, kyrillische Schriftzeichen zu entziffern, kann man sich hier bisweilen etwas verloren vorkommen – als wäre man durch einen verzauberten Kleiderschrank von New York City, der Hauptstadt des Westens, mitten in die ehemalige Sowjetunion gestolpert.

Brighton Beach ist ein Sehnsuchtsort in doppelter Hinsicht: Unzählige Restaurants tragen die Namen von in der Heimat zurückgelassenen Städten, sodass sich die Familie Nasmertow aus Yelena Akhtiorskayas Roman Der Sommer mit Pasha gar nicht entscheiden mag, in welches „Odessa“ sie zum Essen geht. Pasha, jener titelgebende Verwandte, der noch in der geliebten Stadt wohnt und nun im Sommer 1993 zu Besuch bei seiner Emigranten-Familie ist, wundert sich über diese Heimatverbundenheit. Soll doch gerade er dazu überredet werden, endlich ebenfalls die Ukraine zu verlassen. Allerdings erscheint ihm Brighton Beach so gar nicht wie der Sehnsuchtsort, als der er wiederum in seiner Heimat gilt – als ein Ort der unbegrenzten amerikanischen Möglichkeiten.

Tatsächlich gelingt es der Familie nicht, Pasha in jenem Sommer zum Umzug zu bewegen. Man mag es ihm nicht verdenken, wird doch seine Sippe, die aus Eltern, Schwester und deren Familie besteht, als Haufen neurotischer, hyperaktiver und streitsüchtiger Charakterköpfe gezeichnet.

Der Sommer mit Pasha geht dann auch relativ ereignislos vorüber, während der Leser noch die Hälfte des Buches vor sich hat. Unverständlich deshalb der Titel des Romans, da die sich Handlung noch über einige Jahre und sogar Jahrzehnte hinweg fortspinnt. Wenig besser ist allerdings der Originaltitel Panic in a Suitcase. Immerhin wird mit ihm nicht die falsche Erwartung geweckt, dass es sich bei Pasha um die Hauptfigur des Romans handelt. Eine solche gibt es nämlich (leider) nicht. Vielmehr wird jedes Familienmitglied einmal in den Fokus genommen, skurrile Eigenschaften und generelle Lebensuntüchtigkeit diagnostiziert und dann wieder fallengelassen. Ein stringenter Handlungsstrang wird durch diese erratische Erzählweise nicht geschaffen. Die Sprache hingegen passt sich in wirrer Weise an; sie ist geprägt durch kurze, im Stakkato gehaltene Sätze, wozu zuweilen ein mehr oder minder schiefes Bild kommt: „Sie traten ins Freie, über ihnen breitete sich der Himmel aus wie eine alte Decke. Kopfschmerzen waren wie Werbeflyer, man hatte sie, ehe man sichʼs versah.“

Was dadurch entsteht, ist Stimmung. Eine Familie, die zwischen Heimatsehnsucht und -verachtung hin und hergerissen ist, die Konflikte explosiv austrägt, deren Lebensweise keinem Hochglanzprospekt entspricht. Aber es ist wenig mehr, was der Roman transportiert. Sobald eine Person interessant erscheint, bricht die Erzählung ab und nimmt einen anderen Faden auf. Am Ende ist die zu Beginn neun Jahre alte Nichte von Pasha, Frida, plötzlich im College und unternimmt erstmals eine Reise zu ihrem Onkel nach Odessa. Nachdem am Anfang des Romans aus Pashas Augen die merkwürdige Rückwärtsgewandtheit von Brighton Beach bemerkt wurde, wird nun das Bild von Odessa, das von der Familie gesponnen wurde, als Illusion enttarnt. Heimat wird so zum fiktiven Ort, der in der Realität keinen Bestand hat. Die Familie Nasmertow, die ihr Zuhause in Odessa verloren hat, ohne in den Vereinigten Staaten ein neues zu gewinnen, mag diesen Verlust in ihren alltäglichen Spannungen an die Oberfläche bringen. Die Autorin scheint diese Irritation in Form der Sprache noch einmal betonen zu wollen. Dieser Prosa dann allerdings, wie es in der „Los Angeles Times“ getan wird, die „Intensität eines Red-Bull-Koffeinschocks“ zu bescheinigen, ist übertrieben. Oder aber man müsste hinzufügen: Die Müdigkeit nach dem Schock sollte ebenfalls nicht unterschätzt werden.

Titelbild

Yelena Akhtiorskaya: Der Sommer mit Pasha. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné.
Rowohlt Verlag, Berlin 2016.
384 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783871348198

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