Geisterstunde

Markus Bernauer bringt die Schaueranthologie „Fantasmagoriana“ erstmals nach Deutschland

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„I maintain that terror is not of Germany, but of the soul“, schreibt Edgar Allan Poe 1840 im Vorwort zu seinen Tales of the Grotesque and Arabesque, um sich damit eines Vorwurfs seiner Rezensenten zu erwehren: „I speak of these things here, because I am led to think it is this prevalence of the ‚Arabesque‘ in my serious tales, which has induced one or two critics to tax me, in all friendliness, with what they have been pleased to term ‚Germanism‘ and gloom. The charge is in bad taste, and the grounds of the accusation have not been sufficiently considered.“ Auch wenn Poe auf der kreativen Eigenständigkeit seiner Kurzgeschichten beharrt, gesteht er den deutschsprachigen Autoren seiner Zeit doch genrebildendes Potenzial zu: „Let us admit, for the moment, that the ‚phantasy-pieces‘ now given are Germanic, or what not. Then Germanism is ‚the vein‘ for the time being“, schreibt er in Anspielung auf E. T. A. Hoffmann, dessen Einfluss auf Poes Werk in zahlreichen Aufsätzen und Monografien nachgewiesen werden konnte.

Aus dieser Anekdote können wir einiges lernen: über die Strategien eines Schriftstellers in der öffentlichen Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, über die Selbstinszenierung eines Autors zwischen ‚Hoch-‘ und ‚Unterhaltungsliteratur‘, vor allem aber über die internationale Sicht auf die deutschsprachige Literatur nach 1800: Nicht Goethe, Schiller und Co. standen stellvertretend für die Belletristik ihrer Heimat, sondern Autoren der Schauer-, Ritter- und Räuberliteratur. In Teilen des europäischen Auslands nahm man Schriftsteller wie Hoffmann, Ludwig Tieck oder die heute eher unbekannten Christian Heinrich Spieß, August Apel und Friedrich Laun deutlich stärker wahr als die Weimarer Klassiker. Während die Schauerliteratur im deutschsprachigen Raum höchst umstritten war, erfreute sie sich im Ausland außerordentlicher Beliebtheit.

Davon zeugen auch verschiedene Anthologien, in denen die beliebtesten deutschsprachigen Schauergeschichten gesammelt und in andere Sprachen übertragen wurden. Eine der bedeutendsten Sammlungen dieser Art besorgte Jean-Baptiste Benoît Eyriès, der zwischen 1767 und 1846 als Händler, Geograf, Autor und Übersetzer in Frankreich lebte. Nach dem Vorbild des erfolgreichen Gespensterbuchs – und unter Verwendung einiger Texte daraus – gab er 1812 eine zweibändige Sammlung mit Erzählungen von August Apel, Heinrich Clauren, Friedrich Laun und Johann Karl August Musäus heraus, die er selbst übersetzte und teilweise bearbeitete. Seine Anthologie versah er mit dem klingenden Namen Fantasmagoriana, ou Recueil d’histoires d’apparitions de spectres, revenans, fantômes, etc. Die Anthologie war so beliebt, dass Teile daraus nur ein Jahr später von Sarah Elizabeth Utterson ins Englische übersetzt und unter dem Namen Tales of the Dead veröffentlicht wurden; die Lektüre der Fantasmagoriana inspirierte mit Mary Shelleys Frankenstein und John Polidoris Vampyre außerdem zwei der bedeutendsten Texte der ,Gothic fiction‘.

Trotz ihrer literaturhistorischen Bedeutung lag die Sammlung – im Gegensatz zu den darin enthaltenen Einzelerzählungen – bislang nicht auf Deutsch vor; ein Desiderat, das dank der Anstrengungen von Markus Bernauer und dem Verlag Ripperger & Kremers nun der Vergangenheit angehört. Bernauers Neuausgabe ist ein großer Gewinn – zumindest für das interessierte Lesepublikum.

Fatasmagoriana beginnt mit einem Vorwort des französischen Originalherausgebers Benoît Eyriès, das in Bernauers Version erstmals auf Deutsch erscheint. In zeittypischer Manier setzt sich Eyriès darin unter anderem mit der Frage nach dem Geisterglauben und dessen realweltlichen Ursprüngen auseinander:

Es herrscht allgemein die Ansicht, niemand glaube mehr an Gespenster. Diese Meinung erscheint mir bei genauerer Betrachtung jedoch nicht ganz zutreffend. Denn auch wenn man von den Bergleuten und Gebirgsbewohnern absieht […], so darf man sich vielleicht doch fragen, warum mancher von uns nach Einbruch der Dunkelheit ungern über einen Friedhof geht […]. Wenn man schließlich als erwiesene Wahrheit annimmt, dass es bis auf wenige Ausnahmen keinen Geisterglauben mehr gibt und all die eben erwähnten Schrecken nur auf eine dem Menschen natürliche Angst vor der Dunkelheit zurückzuführen sind, so ist doch sicher, dass Geschichten über Gespenster, Geister und Wiedergänger sehr gern gehört werden.

Hier scheint die Debatte zwischen aufklärerischer Vernunft, Freiheit der Kunst und volkstümlichem Aberglauben auf, die zu dieser Zeit auch in Deutschland intensiv geführt wurde. Dieser Konflikt, der schon seit Schillers Geisterseher von 1787 auch in der Literatur ausgetragen wird, spielt in den Texten der vorliegenden Sammlung immer wieder eine zentrale Rolle. Das zeigt sich etwa, als Franz, der Protagonist in Musäus’ Stumme Liebe, eines Nachts die ersten Schritte eines sagenumwobenen Geisterbarbiers hört: „‚O wehe! wehe!‘, raunte die Furcht ihm ins Ohr, ‚das ist fürwahr der Poltergeist!‘ – ‚Es ist der Wind und weiter nichts‘, tröstete die Herzhaftigkeit.“ Obwohl die Gruselszene nur einen kleinen Teil des ‚Volksmärchens‘ ausmacht, lässt sich Stumme Liebe als ein Höhepunkt der Sammlung Fantasmagoriana bezeichnen: Gekonnt verwebt Musäus darin literatursatirische Passagen mit Elementen aus der Unterhaltungsliteratur; entstanden ist ein anspielungsreichen und dennoch leicht lesbarer Text.

Die rationale Herleitung des Übernatürlichen, die Franz in der oben zitierten Szene anstrebt, ist im sogenannten ‚Geistertee‘ aus August Apels Die Bilder der Ahnen wiederum verpönt. Als Ferdinand, der Protagonist der Erzählung, dort eine Gespenstergeschichte zum Besten geben soll, erklärt ihm die Gastgeberin die zentrale Regel der Zusammenkunft: „Es ist hier ausgemacht, dass keine Erklärung versucht werden darf, wäre sie auch noch so wahrscheinlich. Das Erklären nimmt einem die ganze Freude an der Erzählung.“ Es folgt eine wendungsreiche und komplizierte Geschichte, die dem Leser hohe Konzentration abverlangt: Rahmen- und Binnenhandlung überschneiden sich mehrfach, die Identität einiger Charaktere wird verschleiert oder bewusst vage gehalten, verschiedene Zeitebenen verbinden sich miteinander. Dennoch ist die Erzählung äußerst lesenswert, kann sie doch dafür bürgen, dass der allgemeine Trivialitätsvorwurf, der Schauerliteratur als simplen Schemaschund abtut, nicht gerechtfertigt ist.

Deutlich geradliniger als Die Bilder der Ahnen gestaltet sich der dritte Text der Sammlung: Der Totenkopf von Friedrich Laun verdient aufgrund seines Umfangs und Inhalts die Bezeichnung ,Anekdote‘ und stellt eine misslingende Geisterbeschwörung in ihr Zentrum. Die folgenden drei Texte, die ebenfalls von Laun stammen, sind teilweise deutlich umfangreicher: Während Die Totenbraut eine unheimliche Geschichte über zwei Zwillingsschwestern und einen untreuen Ehemann erzählt, schildert Die Verwandtschaft mit der Geisterwelt die Auswirkungen eines verhängnisvollen Familienfluchs. Der Geist des Verstorbenen berichtet wiederum von der Ritterstochter Julie, die nach dem Tod ihres Ehegatten von dessen Schatten verfolgt wird. Was sie zunächst als ersehnten Gruß aus dem Jenseits wahrnimmt, empfindet sie schließlich als Heimsuchung. Ein rationalistischer Beobachter zieht den übernatürlichen Ursprung der Erscheinung jedoch in Zweifel.

In den Komplementärgeschichten Die graue Stube von Heinrich Clauren und Die schwarze Kammer von August Apel spielt dann noch einmal der Konflikt zwischen Geisterglauben und Aufklärung eine zentrale Rolle: Clauren erzählt eine klassische Gespenstergeschichte, um sie anschließend als verhängnisvollen Kinderstreich aufzulösen; Apel geht in Die schwarze Kammer ähnlich vor, reichert seine Erzählung jedoch mit einer Rahmenhandlung an. Darin diskutieren Aktuarius Wermuth, Stadtphysikus Bärmann und der namenlose Ich-Erzähler über Die graue Stube und berichten einander ähnliche ‚übernatürliche‘ Erlebnisse natürlichen Ursprungs, was in einer Debatte über das Verhältnis von Aufklärung und fantastischer Literatur gipfelt. Bärmann ist der Meinung, dass beides nicht in Einklang zu bringen ist:

„Geht mir“, rief er, „wir leben in einer schlechten Zeit! Alles Alte geht zugrunde, nicht einmal ein rechtschaffenes Gespenst kann sich mehr halten. Komme mir keiner wieder mit einer Gespensterhistorie!“
„Bewahre!“, erwiderten wir andern beiden. „Gerade wenn es mit den Gespenstern aus ist, geht das rechte Zeitalter für ihre Geschichte an. Kommt doch jede Geschichte erst hinter der Wirklichkeit, und der Leser dadurch, wenn das Glück gut ist, hinter die Wahrheit!“

Dieser Schluss lässt sich als Pointe zur vorangegangenen Erzählung verstehen, vor allem aber als Reaktion ihres Autors August Apel auf die Vorwürfe seiner Zeitgenossen, welche die moralische Gesinnung der Schauerliteratur und ihrer Verfasser immer wieder in Zweifel zogen. Schließlich klagte Moses Mendelsohn schon im September 1784: „Wir träumten von nichts als Aufklärung – und glaubten durch das Licht der Vernunft die Gegend so aufgehellt zu haben, daß die Schwärmerey sich gewiß nicht mehr zeigen werde. Allein wir sehen, schon steiget von der andern Seite des Horizonts die Nacht mit allen ihren Gespenstern wieder empor.“

Insgesamt sind die Texte, die Fantasmagoriana versammelt, sehr lesenswert, wenngleich sie den inhaltlichen und stilistischen Variantenreichtum der deutschsprachigen Schauerliteratur um 1800 nur ansatzweise abzubilden vermögen. Aus literaturhistorischer Sicht können sie vor allem deshalb das Interesse der Leser hervorrufen, weil sich die die Schauerliteratur darin als ein Genre erweist, das stark in gesellschaftlichen Zusammenhänge und philosophischen Debatten verankert ist. Immer wieder erzählen die Texte von Menschen, die sich zu Gespenstertees, Geisterbeschwörungen und Séancen treffen; immer wieder verweisen sie auf zeitgenössische ‚Sachbücher‘ wie Johann Heinrich Jung-Stillings Theorie der Geister-Kunde, auf aufklärerische Textsammlungen wie Samuel Christoph Wageners Die Gespenster. Kurze Erzählungen aus dem Reiche der Wahrheit und Abhandlungen wie Justus Christian Hennings’ Von Geistern und Geistersehern.

Den Anmerkungen im Anhang sowie dem Nachwort des Herausgebers gelingt es, diese Zeitumstände verständlich darzustellen. Das Nachwort, das erfreulich ausführlich ausfällt, erweist sich ohnehin als genau recherchiert und kundig dargestellt: Herausgeber Bernauer weist darin auf die Entstehungsumstände der in der Anthologie enthaltenen Texte hin, erklärt deren literaturhistorische Bedeutung und beleuchtet deren Weg nach Frankreich. Dabei stellt er auch die Verfasser der Texte und den Originalherausgeber und -übersetzer vor. Bernauer präsentiert Benoît Eyriès als sprachbegabten Seehändler, der selbst schrieb, lange mit Alexander von Humboldt befreundet war und sich als „aufmerksamer Beobachter der Literaturszene in Deutschland“ hervortat. Insgesamt erleichtert das Nachwort auch denjenigen Leser das Verständnis der Anthologie, die sich mit den darin versammelten Autoren und deren Epoche bislang nur wenig auseinandergesetzt haben.

Dass solche Leser das Zielpublikum der deutschen Neuausgabe der Fantasmagoriana darstellen, zeigt sich schon im vergleichsweise niedrigen Preis der Sammlung und dessen schmökerfreundlicher Aufmachung, leider jedoch auch in der Textgestalt. Die Erzählungen sind nämlich nicht im deutschsprachigen Original abgedruckt, sondern in „behutsam der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst[er]“ Orthografie. Das erleichtert ungeschulten Rezipienten zwar das Lesen, schränkt die wissenschaftliche Brauchbarkeit der Ausgabe jedoch ein. Das Buch richtet sich also eher an ein breites Lesepublikum als an editionsphilologisch ausgebildete Germanisten, ist eher eine Einladung für interessierte Laien als ein Appell an die Forschung. Diese Ausrichtung ist zwar nachvollziehbar und – weil sie konsequent umgesetzt wird – für sich genommen auch nicht zu kritisieren, macht aber umso deutlicher, dass es der germanistischen Schauerliteraturforschung noch immer an verlässlichen, historisch-kritisch aufbereiteten und kundig annotierten Textausgaben fehlt.

Titelbild

Markus Bernauer (Hg.): Fantasmagoriana. Geisterbarbiere, Totenbräute und mordende Porträts.
Ripperger & Kremers Verlag, Berlin 2017.
288 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783943999884

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch