Erschriebene Lesbarkeit

Ein Sammelband verortet Physiognomisches Schreiben zwischen Gestaltdeutung und Literatur

Von Maik M. MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maik M. Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Versprechen der Physiognomik, aus den sichtbaren äußeren Merkmalen von Gesicht und Körper eines Menschen die Erkenntnis seiner verborgenen inneren Charaktereigenschaften abzuleiten, erreichte mit den zahlreichen Veröffentlichungen des Zürcher Geistlichen Johann Caspar Lavater um 1800 den populären Höhepunkt. Lavaters Bemühungen, die Physiognomik methodisch zu systematisieren und im Kanon zeitgenössischer Wissenschaft zu verankern, ist jedoch bekanntermaßen gescheitert. Schon kritische Zeitgenossen wie Johann Wolfgang von Goethe oder Georg Christoph Lichtenberg erkannten ihren spekulativen Charakter. Dennoch war den physiognomisch inspirierten Anschauungsformen ein langes Nachleben beschert, denn das „unsichere Wissen“ physiognomischer Entzifferungen aktualisiert eine geradezu universale Struktur: Als Semiotik der wahrnehmbaren Oberflächen und Gestaltformen inspiriert sie Lektüren und Schreibweisen, die den Zeichencharakter der Welt im Hinblick auf einen in der Tiefe verborgenen Gehalt explorieren.

In der Wissenspraxis der Physiognomik wird der Mensch um 1800 zur Hieroglyphe, zur entzifferbaren Schrift. Diese Verwandlung beruht aber selbst auf Prozessen des Schreibens, des Schrift- und Bildeinsatzes. Der von Hans-Georg von Arburg, Benedikt Tremp und Elias Zimmermann herausgegebene Band Physiognomisches Schreiben folgt dieser Spur, indem Aspekte einer Überlagerung von diskursiver Theoriebildung und spezifisch ästhetischen Ausdrucksformen beleuchtet werden. So demonstrieren die Aufsätze des zweiten Kapitels „Fiktionen und Figuren“, wie physiognomisches Wissen in zeitgenössischen Romanen zirkuliert, dort aber auch bereits kritisch diskutiert und problematisiert wird.

Umgekehrt erweisen sich Artefakte aus den Bildenden Künsten als wichtige Faktoren der Konstituierung und Formierung des physiognomischen Schreibens, wenn Lavater auf Beispiele klassischer Malerei verweist, um die Evidenz der physiognomischen Interpretation menschlicher Ausdrucksqualitäten zu steigern. Aber auch auf unmittelbar medientechnischer Ebene entfalten die Signifikanten in Lavaters Texten ein ästhetisches Eigenleben, das die Intentionen des Autors in Aporien führt, wie der Aufsatz von Hans-Georg von Arburg zeigt: Das Paradigma des Schreibens ist der Physiognomik selbst tief eingeschrieben. Gilt der Mensch selbst als (göttliche) Zeichenschrift, so wird seine eigene Handschrift zur materiellen Manifestation seines Geistes. Aber wie kann Lavaters von fremder Hand gestochene und dann gedruckte Handschrift noch vom authentischen Geist des Autors künden? Lavater nutzt geschickt das Manuskript im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zur Inszenierung der eigenen Autorität.

Metaphern der Schrift durchziehen auch die Architekturgeschichte, wie Elias Zimmermann anhand der Etymologie des caractère-Begriffs demonstriert: Als Begriff aus der französischen Revolutionsarchitektur changiert er zwischen „Schriftzeichen“, „Handschrift“, „Prägestempel“ und „Charakter“. Damit wird ein architektursemiotisches Spielfeld definiert, auf dem die gestalterische Formensprache von Bauten als entzifferbare äußere Hülle einer repräsentierten höheren Idee in die Erscheinung eintritt und so eine spezifische Wirkungsästhetik entfalten soll.

Konnte sich die klassische Physiognomik um 1800 noch auf eine theologische Legitimation von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen berufen, so bilden in der klassischen Moderne gänzlich andere Parameter den Kontext physiognomischer Kulturarbeit. Der Aufsatz von Peter Utz zeigt, wie das Feuilleton um 1900 zum Schauplatz physiognomischer Großstadtwahrnehmung wurde, auf dem Literaten wie Alfred Polgar oder Joseph Roth in skizzenhafter Darstellung idealtypischer Erscheinungen die Charakteristika der Zeit zu erfassen suchten. Hier wird deutlich, wie physiognomische Perspektiven im Zeitalter eines beschleunigten Zerfalls der Welt in unendliche Facetten eine spezifische Ordnungsfunktion übernehmen, indem sie mit dem Anspruch auftreten, das Detail mit einem Ganzen in totalisierendem Gestus nochmals zu vereinen. Der Fotografie kam beim Bemühen, das gültige und authentische ‚Antlitz des Zeitalters‘ zu erfassen, eine zentrale Bedeutung zu. Wolfgang Brückle zeigt in diesem Zusammenhang, wie durch fotografische Gestaltungstechniken (Detailaufnahmen, serielle Montagen, Konfrontation von Motiven) Ausdruckszusammenhänge hergestellt werden: Erfahrung und Gestaltung greifen ineinander, indem die Fotografie selbst zur physiognomischen Schrift wird.

In den Kontext kulturphysiognomischer Schreibweisen, deren Deutungsbemühungen sich an den materiellen Erscheinungen abarbeiten, lassen sich auch Texte Siegfried Kracauers einordnen sowie Walter Benjamins Projekt einer „Urgeschichte der Moderne“. Die Perspektiven beider Autoren konfrontiert Benedikt Tremp im Schnittpunkt einer Phänomenologie der Untergrundbahn als einem „ikonischen Schauplatz“ und Kulminationspunkt der urbanen Kultur der Moderne. Während die strudelhafte Dynamik der modernen Großstadt Kracauers kulturkritisches Schreiben unmittelbar physiognomisch inspiriert, wird die Pariser Métro in Benjamins Passagen-Werk zur mythologisch aufgeladenen Traumwelt. Die konkrete Erfahrung sprunghafter Translokation, die die U-Bahn ermöglicht, korrespondiere dabei eng mit Benjamins Poetik multipler Anschlussstellen, mit denen verschiedene Textorte quer verbunden werden. Die Texttopografie erscheint als physiognomisch-räumlich inspiriert.

Insgesamt präsentiert der Band ein anspruchsvolles theoretisches Setting zwischen Diskurs- und Medientheorie im weiteren Umfeld der Literature and Science Studies mit ihrem Interesse an Austauschprozessen zwischen ästhetischen und szientifischen Wissensformen. Auf den Feldern von Literatur, Architektur, Fotografie, Tanz und Film wird gezeigt, wie die Beschreibungs- und Entzifferungsleistungen einer deutenden Kulturtechnik nicht nur auf spezifischer ästhetischer Gestaltung beruhen. Vielmehr kommt der Einwanderung und Integration materieller Signifikanten, diskursiver Versatzstücke und spezifischer Trägermedien zunächst fremder Wissensformen besondere Bedeutung zu. Lesbarkeit wird erschrieben, physiognomische Deutung stimuliert wiederum die ästhetische Produktion.

Als Manko ist jedoch zu verzeichnen, dass sich in historischer Perspektive die Sattelzeit der Physiognomik mit ihren Charakterlektüren und die Hochmoderne mit ihren multiplen Formen physiognomischer Gestaltdeutung einander relativ unvermittelt gegenüberstehen. So bleibt der im 19. Jahrhundert erfolgte Prozess der wissenschaftlichen Ausdifferenzierung, in dem Versatzstücke der Physiognomik keine unbedeutende Rolle spielten, ebenso unbeleuchtet wie die im Rahmen des gewählten Ansatzes zentrale Frage nach den Formen diskursiver Vermittlung physiognomischen Wissens ins 20. Jahrhundert.

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Hans-Georg von Arburg / Benedikt Tremp / Elias Zimmermann (Hg.): Physiognomisches Schreiben. Stilistik, Rhetorik und Poetik einer gestaltdeutenden Kulturtechnik.
Rombach Verlag, Freiburg 2016.
292 Seiten, 52,00 EUR.
ISBN-13: 9783793098560

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