Katastrophe und literarische Heilung

Zu Luisa Bankis Studie über W.G. Sebald und Walter Benjamin

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Rezension über neueste Sekundärliteratur zu W.G. Sebald damit zu beginnen, darauf hinzuweisen, dass die Forschungslage zu dem 2001 in England verstorbenen Schriftsteller und Germanisten mittlerweile extrem unübersichtlich geworden ist, ist wenig einfallsreich, beschreibt aber nichtsdestoweniger die Lage recht treffend.

Luisa Bankis Dissertationsschrift erscheint unter dem vielversprechenden Titel Post-Katastrophische Poetik und widmet sich, wie schon der Untertitel verrät, W.G. Sebald und Walter Benjamin. Und dies schon vorweg: Die Publikation ist in ihrer Prägnanz und Anschlussfähigkeit eine der besten Sebald-Analysen der letzten Jahre.

Trotz aller Vorzüge der Studie macht es Banki zu Beginn dem Leser nicht gerade leicht. Man braucht eine Weile, bis man ihre Argumentationsweise versteht und nachvollziehen kann, wie sie den Begriff der Katastrophe angewandt wissen will. Nach Sebald handelt es sich bei diesem Katastrophischen, das als bedeutsam für sein eigenes Werk proklamiert wird, um „die Designation einer in den Zustand der Permanenz übergegangenen Zerstörung“ beziehungsweise „die Unmöglichkeit jeglicher Rückkehr: Sie ist der Name für das Übergegangen-Sein der Zerstörung in die Definition der Dauer selbst.“ Der Katastrophenbegriff, wie er im Folgenden in der Arbeit entfaltet wird, ist entsprechend schwer und oft nur vage zu verstehen. Hinzu kommt, dass die Überlegungen dazu immer wieder mit Texten von Walter Benjamin kontrastiert werden, der schon den Begriff des Fortschritts mit der Katastrophe korreliert sah.

Luisa Bankis Großthese, auf die sich ihre Dissertation ausrichtet, lautet, „dass sich anhand einer Betrachtung der ‚Idee der Katastropheʻ in Benjamins und Sebalds Denken nicht nur deren Verhältnis genauer fassen und erklären, sondern anhand der Analyse und Interpretation ihrer literarischen Darstellung bei Sebald auch neues Licht auf dessen Schreiben werfen lässt.“ Das ist ebenso innovativ gedacht wie auch offengehalten, denn irgendwie muss man theoretisch ja den Zusammenhang zwischen zwei Autoren stiften, die man zusammendenken will. Banki sieht keine intertextuelle Nähe zwischen den beiden Autoren, sondern rekonstruiert philologisch hierzu den Begriff einer post-katastrophischen Poetik, weil diese „sowohl in einem Paradigma der Katastrophe – ihrer Kontinuität oder Permanenz – verortet ist als auch nach der (verschiedentlich datierbaren) Katastrophe, die die Wirksamkeit ebendieses Paradigmas offenbar und in seiner Gültigkeit für die Gegenwart erkennbar macht.“ Manifest werden diese Überlegungen zu katastrophischen Brüchen, die sich bei Benjamin und Sebald verorten lassen; bei ersterem in den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, bei letzterem in der Erfahrung des Nachgeborenen, was den Zweiten Weltkrieg und die Shoa betrifft.

Besonders angenehm zu lesen ist diese Studie in denjenigen Passagen, in denen sie gleichsam essayistisch drei Verstehensmodi der Benjamin-Forschung umkreist und dann auf Sebald anwendet: Lesbarkeit, Erzählbarkeit, Schreibbarkeit. Dabei werden die Nachwirkungen einer Lektüre der Schriften der Frankfurter Schule bei Sebald und deren Einfluss auf ihn rekonstruiert. Hierbei ist insbesondere hervorzuheben, dass Banki in diesem Zusammenhang immer wieder ganz konkret auf Textstellen und Passagen aus Sebalds Werk eingeht, beziehungsweise sie aus seinem Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ermittelt. Bankis Studie belegt, wie ertragreich es sein kann, Sebalds in Marbach verwahrte Autorenbibliothek in Bezug zu seinen Erzähltexten zu lesen, indem etwa die Schreibbewegung seiner Manuskripte gedeutet wird oder die Verwendung von ausgewählten Fotos in seinen Texten. Dabei tritt der Begriff der postkatastrophischen Poetik etwas in den Hintergrund, doch nichtsdestoweniger gelingt es Banki, augenfällig zu klären, dass die „Besonderheit dieses Nachlasses in der Spannung zwischen seiner planvoll wirkenden Zusammenstellung und seiner letztlich zufälligen Gestalt mit ihren offensichtlichen Lücken und Absenzen“ liegt.

Überzeugend wirkt die post-katastrophische Poetik, wenn es um die Darstellung einer im Erzähler verorteten Paranoia geht. Dem Sebald’schen Ich-Erzähler steht die ganze Welt und ihre Deutung stets in Beziehung zu ihm selbst, sodass alles mit allem zusammenhängt: „Was der Erzähler liest, ist, mit einem Wort, was interpretiert ist: Sein Sehen und Sinnieren ist immer ein Interpretieren, er liest immer Bedeutsames – das als solches sinnig oder unsinnig sein kann, aber immer bedeutet, ihm bedeutet, für ihn bedeutet, und zwar weil es ihn gewiss angeht.“ Diese bis hin zu Verfolgungswahn und zu unterdrückter Homosexualität gesteigerte Paranoia wird nach Bankis Deutung in den Erzähltexten Sebalds offenkundig. Im Kontrast zu Benjamin heißt das: „Bei Benjamin steht die Melancholie für die Lesbarkeit der Welt: Alles kann alles bedeuten. Gewendet auf die hier verwendeten erzähltheoretischen Begriffe ist jetzt möglich, genau zu bestimmen, dass der sebaldsche Erzähler kein bloßer Melancholiker ist, sondern dass er gleichsam durch die Brille der Paranoia liest“.

Vor allem im Kapitel „Erzählbarkeit“ illustriert Banki, dass es „Benjamins entscheidende Beobachtung seiner Zeit ist, dass die katastrophischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs kaum mitgeteilt werden können. Auf diesem Verlust der Mitteilbarkeit der Erfahrung gründet seine These, ‚daß es mit der Kunst des Erzählens zu Ende geht‘.“ Entsteht aus Benjamins Beobachtung der Katastrophe also das Problem, dass nicht mehr erzählt werden kann, wird daraus bei Sebald ein Erzählenwollen oder Erzählenmüssen im Verhältnis zur Katastrophe. Denn bei Sebald steht der Benjamin’schen Haltung „ein Erzähler gegenüber, der in Duktus, Habitus und Anliegen an Erzähltraditionen anknüpft, die gerade auf Mitteilbarkeit beruhen, und der gleichzeitig, weil er am Ende des 20. Jahrhunderts mit Blick auf dessen Katastrophen sowie auf die sie ermöglichenden politischen und materiellen Bedingungen blickt, dennoch eindeutig als post-katastrophisch zu beschreiben ist.“

Besonders die gründliche Auseinandersetzung mit Sebalds Dissertation zu Alfred Döblin gehört zu den besten Analysen des Buches. Banki arbeitet dabei in der Lektüre dieser Dissertation eine Vorwegnahme von Positionen heraus, die Sebald erst in seinem Erzählwerk entfalten wird. Zeichnen sich auch Sebalds literaturkritische Arbeiten später immer wieder dadurch aus, dass sie im Ton entweder unfair oder übertrieben affirmativ sind, so mag auch Sebalds Dissertation für „die akademische Döblin-Forschung […] keine weiterführenden An- oder Einsichten geboten haben, für eine Einschätzung seines Literaturverständnisses jedoch bietet diese frühe Arbeit entscheidende Hinweise.“ Es ist hier ein an Sebald geschulter Biographismus, den Banki nicht in autorintentionalem, sondern im interpretativen Sinne auf Sebald selbst anwendet. Für die Drucklegung der Dissertation wäre es dennoch empfehlenswert gewesen, die Arbeiten von Uwe Schütte zu den literarturkritischen Schriften Sebalds zu berücksichtigen.

Manche Forschungsergebnisse, die beispielsweise im Unterkapitel „Polybiografik“ vorgestellt werden, sind der Sebald-Forschung zwar grundsätzlich bereits bekannt und erscheinen ohne theoretischen Überbau selbstverständlich, doch ändert dies nichts an ihrer Gültigkeit: „Damit meine ich, dass sich – analog zur Überlagerung verschiedener Textebenen – in den Lebensbeschreibungen, die die sebaldschen Werke durchziehen, niemals nur eine Beschreibung eines Lebens findet, sondern eine Überblendung mehrerer Lebensgeschichten.“

Schließlich liefert Banki im Kapitel „Schreibbarkeit“ den Begriff der Ikonotextualität. Sie kann ausgesprochen fruchtbar demonstrieren, wie sich die barocke Emblematik, die semiotische Dreigliederung aus Bild und Text, auf Sebalds Textgeflechte übertragen lässt.

Das Resümee der post-katastrophischen Poetik besteht nun darin, dass sich Sebalds Schreiben in der Suche nach einer Poetik gründete, die nach der Shoa und unter den Bedingungen des von Benjamin als das Enden von Erfahrung und Erzählung beschriebenen (post-)katastrophischen Paradigmas die restitutive Dimension von Literatur ausgestalten und wirksam machen könne.

Luisa Banki hat der Forschung dadurch demonstriert, wie Walter Benjamin und W.G. Sebald gewinnbringend zusammengeführt werden können und dabei über diese Demonstration hinaus eine Lücke in der Sebald-Forschung geschlossen. Es ist nun Aufgabe der Sebald-Philologie, Sebald weiterzudenken und ihn jenseits eines inzwischen oftmals überforscht erscheinenden Terrains zu einem Schriftsteller zu machen, dessen unheimliches, magisches Werk die Zeiten zu überdauern vermag jenseits der Katastrophe.

Titelbild

Luisa Banki: Post-Katastrophische Poetik. Zu W. G. Sebald und Walter Benjamin.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
245 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560721

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