Behinderung, alternative Lebensformen und Sexualität

International

Von Romina BaumgartenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Romina Baumgarten und Franziska WagnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Wagner

Das Buch Sosu’s Call, geschrieben vom ghaneischen Autor Meshack Asare (Sub-Saharan Publishers, 1997) ist ein wichtiges Beispiel für nicht-westliche Kinderliteratur, die Behinderung und die im kulturellen Kontext entstehenden Schwierigkeiten thematisiert. Ausgezeichnet mit dem UNESCO Kinderliteratur Preis für Toleranz 1999, ist Sosu’s Call eines der international bekanntesten Kinderbücher des afrikanischen Kontinents. Sosu, ein gelähmter Junge, lebt in einem afrikanischen Dorf, wo er weitgehend von der Gemeinschaft ausgegrenzt wird. Als dem Dorf eines Tages eine Flutkatastrophe droht, schleppt sich Sosu auf allen Vieren zu den Trommeln des Dorfoberhaupts und warnt durch sein Trommeln die Bewohner, wodurch das Schlimmste verhindert werden kann. Sosus Heldentat erweist sich als Wendepunkt der Geschichte, da ihm zum ersten Mal in seinem Leben Anerkennung und Toleranz entgegengebracht werden. Das Kinderbuch erweist sich als kommerziell erfolgreiches Beispiel für Literatur, die das Thema Behinderung direkt in den Vordergrund stellt, dabei jedoch die Wir-Ihr-Dichotomie zusätzlich verstärkt, anstatt sie aufzubrechen. Hier wird nicht die Gleichheit, sondern weiterhin das Anders-Sein betont. Durch die relativ hohe Textmenge stehen die Illustrationen im Buch eher begleitend dem Text zur Seite, wobei auf der Textebene Fälle von Ausgrenzung und Diskriminierung zum Narrativ gehören. Problematisch erscheint an Sosu’s Call, dass Sosu von der Gesellschaft erst akzeptiert wird, nachdem das Dorf von ihm profitieren konnte und er sich als ‚nützlich’ erwiesen hat.

So wird dem Leser jedoch suggeriert, dass Menschen mit Behinderungen sich erst beweisen müssten, um Teil der Gesellschaft zu werden. Allerdings ist es nicht ganz unerheblich, dass Sosu’s Call bereits im Jahr 1997 erschien und somit auch die Kluft beschreibt, die frühere Kinderbücher von heutigen Ansprüchen an Diversität trennen.

Das amerikanische Buch And Tango Makes Three (Simon & Schuster, 2005) von Peter Parnell und Justin Richardson, illustriert von Henry Cole, ist ein gutes Beispiel dafür, dass Bücher über alternative Lebensformen durchaus kommerziell erfolgreich sein können. Die Geschichte handelt von zwei Pinguinen und deren Kinderwunsch. Es wird explizit erwähnt, dass es sich hierbei um eine wahre Begebenheit handelt. Im Buch werden eingangs viele verschiedene Familien gezeigt, die alle eines gemeinsam haben: die Liebe zu ihren Kindern. Das Verhältnis zwischen Text- und Bildebene ist ausgeglichen und es wird sowohl in den Illustrationen als auch im Text das gleichgeschlechtliche Paarverhalten von Roy und Silo im Vergleich mit dem der anderen Pinguinen im Zoo geschildert. Als die anderen Paare Nachwuchs bekommen, bauen auch Silo und Roy ein Nest, legen einen Ei-ähnlichen Stein hinein und versuchen ihn auszubrüten. Ein Zoowärter beobachtet den Brutversuch und gibt Roy und Silo ein übrig gebliebenes Ei.[1] Tango schlüpft und die in den Zoo kommenden Kinder sind begeistert von Tango, dem ersten Pinguin mit zwei Vätern. Auf der Bildebene wird Diversität auch im Hinblick auf Ethnizität realisiert, und nicht nur weiße Menschen abgebildet. Die Geschichte endet damit, dass Tango und seine beiden Väter abends genau wie alle anderen Familien schlafen gehen. Es findet also eine eher konfliktfreie Thematisierung des Lebens eines gleichgeschlechtlichen Pinguinpaares statt, aber der Aspekt der wahren Begebenheit und die sehr realistischen Zeichnungen verleihen dem Buch besonders in den USA Sprengkraft, da konservative Gruppen oft die Unnatürlichkeit von Homosexualität betonen. Das Buch ist zudem eher polythematisch konzipiert, da das generelle Zusammenleben und die Herausforderungen der beiden Pinguine Silo und Roy und nicht ihre Homosexualität im Fokus stehen. Dabei wird immer wieder betont, dass Silo und Roy genau wie alle anderen Pinguine sind, sozusagen gleichberechtigter Teil der Pinguingesellschaft. Das Buch erhielt zahlreiche Preise (darunter American Library Association Notable Children’s Book Preis, Nick Jr. Family Magazine Best Book of the Year, Bank Street Best Book of the Year, Cooperative Children’s Book Council Choice Award) und löste eine große Debatte in den USA aus, da konservative Gruppen Probleme mit den „moralischen Auswirkungen“ auf Kinder befürchteten. Deshalb wird das Buch auch unter den „15 Most Controversial Picture Books“ aufgelistet stellt die gesellschaftliche Bedeutung des Themas ‚Diversität im Kinderbuch‘ eindrucksvoll unter Beweis.

Mes Deux Papas (Ronds dans L‘O, 2013) ist ein französisches Beispiel, das sowohl gleichgeschlechtliche Liebe und Kinderwunsch, als auch Adoption anhand einer Tierfabel thematisiert. Wie And Tango Makes Three, das möglicherweise als Vorbild diente, setzt das Bilderbuch auf die Unverfänglichkeit der Tierfabel, in welcher harmonisches Zusammenleben im Fokus steht und Konflikte gar nicht erst entstehen. Die utopische Herangehensweise wird durch die polythematische Struktur der Geschichte unterstützt, die damit beginnt, dass das Zusammenleben zweier Vögel narrativ und bildlich beschrieben wird. Bei der Futtersuche findet das Vogelpaar, bestehend aus Tom und Enzo, ein verlassenes Ei in einem Nest und beschließt, sich um das Ei zu kümmern und es vor Wind und Wetter zu beschützen. Tom und Enzo wünschen sich ein Vogelkind und als endlich das Küken schlupft, adoptieren sie es. Fortan wird das Leben der Vogelfamilie bis hin zur Einschulung von Tochter Lilou beschrieben, wodurch letztendlich gezeigt wird, dass Diversität in Familienkonstellationen etwas ganz Alltägliches ist.

Das Buch My Princess Boy (Aladdin, 2010) wurde von Cheryl Kilodavis geschrieben und von Suzanne DeSimone illustriert. Es ist eines der populärsten Bücher zum Thema Geschlechtsidentität und der Nicht-Entsprechung von Gendernormen. Die Autorin ist selbst Mutter eines Jungen, der gerne Kleider trägt und bereits auf den ersten beiden Seiten wird der Grund und das Ziel des Buches klar: „As a community, we can accept and support our children for who they are and however they wish to look“[2]. Im Verlauf der Geschichte werden sowohl positive, akzeptierende Situationen, als auch negative Vorfälle geschildert. Nach den Schilderungen wendet sich die Mutter als Erzählerin direkt an die Leser*innen, indem sie fragt: „If you see a princess boy… Will you laugh at him? Will you call him a name? Will you play with him? Will you like him for who he is?“[3]. Zum Ende hin verschiebt sich also die Perspektive und die rezipierende Person wird selbst zum Nachdenken angeregt, sodass es auf der letzten Seite nicht mehr um den Princess Boy der Mutter, sondern um alle Princess Boys und unseren Umgang mit ihnen geht: „My Princess Boy is your Princess Boy“.[4] Insgesamt wird die Geschichte zwar aus der Perspektive der Mutter erzählt und handelt von positiven wie auch negativen Erfahrungen, durch den Bruch am Ende wird jedoch auch die Leserschaft selbst mit einbezogen. Die Wir-Ihr Dichotomie wird aufgebrochen, indem betont wird, dass der Princess Boy wie jedes andere Kind ist. Es findet eine monothematische Auseinandersetzung mit dem Thema Geschlechtsidentität statt, wobei laut Empfehlung der Autorin sich das Buch an alle Menschen richtet.

Insgesamt zeigt die Analyse, dass es auf dem internationalen Markt eine Vielzahl an Büchern gibt, die das Thema Geschlecht, Sexualität, sowie alternative Lebensformen aufgreifen. Die Auseinandersetzung geschieht vorherrschend monothematisch, was als kritisch zu betrachten ist, da die Fokussierung von Diversität zugleich deren Abgrenzung impliziert, indem von einem vermeintlich neutralen Punkt aus, der oder die „Andere“ als „divers“ bezeichnet und dadurch die Wir-Ihr-Dichotomie verstärkt wird, die es aufzubrechen gilt. Neutraler Ausgangspunkt bzw. die Norm sollte also nicht das Weißsein, das Mann-Sein oder die Heterosexualität sein, sondern die Inkludierung sämtlicher Menschen, so verschieden sie sein mögen. Durch die Abbildung verschiedener Menschen in Büchern, sowohl in Bezug auf Geschlecht als auch Hautfarbe, Religion, Ethnien, Behinderungen und aus verschiedenen monetären Klassen wird der Realität entsprochen, da es eine „rein“ weiße, heterosexuelle Gesellschaft schon lange nicht mehr gibt bzw. sie es noch nie gab. Immerhin haben sich Kinderbücher endlich auf den Weg zur Diversität gemacht.

Anmerkungen:

[1] Im Buch wird nicht explizit erwähnt, dass Pinguine in der Regel Einzelkinder und kainistisch sind, das erstgeschlüpfte Küken also ein zweitgeschlüpftes tötet.

[2] My Princess Boy (2010), o. S.

[3] Ebenda, o. S.

[4] Ebenda, o. S.

Der Beitrag ist Teil des Seminar-Projekts „Diversität im Kinder- und Jugendbuch“ an der Universität Bayreuth, dessen Ergebnisse in der Dezember-Ausgabe 2017 von literaturkritik.de veröffentlicht sind.