Gewerkschaftsgeschichte reloaded

Die Zerschlagung der Gewerkschaften durch die Nationalsozialisten im Licht der Erinnerungsgeschichte

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“ Diesen Satz des spanischen Philosophen Santayana, dessen tonnenschwere Bedeutsamkeit sich empirisch kaum verifizieren lässt, gibt es gleich im Doppelpack. Zwei Gewerkschaftsfunktionäre bemühen ihn in ihren Grußworten für den von Stefan Berger verantworteten Sammelband, in dem Gewerkschaftsgeschichte im Gewand der Erinnerungsgeschichte daherkommt. Dargeboten werden darin die Referate für eine Konferenz, die 2013 das Bochumer Institut für soziale Bewegungen in Kooperation mit der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie und der Hans-Böckler-Stiftung organisiert hat. Die „deutschen Gewerkschaften“ hätten „ihre Lektion gelernt“, heißt es selbstgewiß in einer der beiden Ansprachen, und aus der anderen entnehmen wir, dass es „nur durch einen selbstkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte“ möglich geworden sei, „Lehren aus der Geschichte zu ziehen und den Standort der Gewerkschaften in der Gegenwart zu bestimmen“.

Nun gehört Selbstkritik für gewöhnlich nicht zu den Lieblingsbeschäftigungen von Politikern, Institutionen, Industrie- und Verbandsgewaltigen. Das gilt gleichermaßen für Vergangenheit und Gegenwart, für die politische Rechte wie für die Linke. Wenn es um Aufklärung über das Handeln von gestern geht, neigt man zu Schönfärberei, nicht jedoch oder nur widerstrebend zu tiefer schürfenden Analysen. Nicht untypisch ist daher, dass sich der gewerkschaftliche Blick eher auf den 2. als auf den 1. Mai mitsamt den Perioden davor richtet. Am 2. Mai wurden die Gewerkschaftshäuser besetzt, die Organisationen zerschlagen, deren führendes Personal ebenso wie einfache Mitglieder drangsaliert, misshandelt oder getötet. Jahrzehntelanges Wirken und jahrzehntelang gewachsene Überlieferungen wurden damit in den Orkus geworfen. Am 1. Mai, den das NS-Regime zum nationalen Feiertag ausgerufen hatte, machten die Gewerkschaften, als sich die Marschkolonnen formierten, allerdings an sichtbarer Stelle mit. Auch zuvor schon waren Gesten der Anpassung nicht zu übersehen, war die Bereitschaft unverkennbar, mit dem neuen Regime einen wie immer gearteten modus vivendi auszuhandeln. Hier waren sie, mit aller Vorsicht sei das gesagt, von den Umständen getriebene Akteure, dort waren sie unzweifelhaft Opfer, in beiden Fällen aber waren sie längst nicht mehr Herren der Lage, sondern Objekte eines fremden, ihren eigenen Überzeugungen und Traditionen zuwiderlaufenden totalitären Machtwillens.

Erinnerungsgeschichte, das zeigen etliche Beiträge in Bergers Anthologie, ist nicht fern von Lerngeschichte. Was aber haben die Gewerkschaften aus ihrem Scheitern am Ende der Weimarer Republik gelernt, welche Bedeutung hat, wie vor Jahren bereits der Historiker Gerhard Beier formulierte, das „Lehrstück vom 1. und 2. Mai 1933“? Darüber nachgedacht haben Beteiligte und Beobachter nicht erst seit 1945, sondern gleich schon nach dem Desaster im Frühjahr 1933. Die Fragen und Antworten fielen naturgemäß unterschiedlich aus, hingen ab von den Lebensumständen der Betroffenen, je nachdem, ob sie sich für gehen oder bleiben entschieden hatten, hingen ab vom Verband, dem sie angehörten, den dort herrschenden Strömungen und Weltbildern, nicht zuletzt spielten Prozesse der Ernüchterung oder Radikalisierung eine Rolle, die hier früher, dort später oder auch gar nicht einsetzten. Aus dem Chor der Stimmen schälte sich recht bald eine Dominante heraus. Die einst so stolze Arbeiterbewegung, hieß es, hätten die Nazis deshalb so leicht zerbrechen können, weil sie aufgespalten in miteinander rivalisierende – sozialdemokratische, christliche, liberale und nationalkonservative – Richtungsgewerkschaften gewesen sei. Dies wertete man als Ausdruck struktureller Schwächen, die durch die Schaffung schlagkräftiger Einheitsgewerkschaften überwunden werden sollten, also von Gewerkschaften, die divergierende weltanschauliche Positionen unter ein und demselben Dach versammelten.

Dies war die Parole nach dem Ende des Krieges, und sie ist es gegenwärtig noch immer. Dass sie der Komplexität des damaligen Geschehens gerecht geworden wäre, lässt sich schwerlich behaupten. Aber sie hatte eine gleichsam barmherzige, die unbequemen Tatsächlichkeiten teils verhüllende, teils überhöhende, zum Mythos gerinnende Funktion, denn sie enthob die Verantwortlichen, sich intensiver mit der eigenen Vergangenheit, den eigenen Defiziten, Versäumnissen und Illusionen zu beschäftigen. Davon gab es etliche, und sie waren keineswegs auf das Jahr 1933 beschränkt. Damit eng verschwistert war ein häufig bemühter Rechtfertigungstopos, welcher der Entwicklung den Charakter von Zwangsläufigkeit zumaß, ganz so, als habe es keine Alternativen gegeben, als hätten sich Handlungsräume und Handlungsmöglichkeiten vor dem Ansturm der NS-Bewegung plötzlich in Luft aufgelöst. Die Strategie abzuwarten, bis es zu spät war, der Attentismus und die Immobilität, die heillosen, am Ende vergeblichen Versuche, sich dem Regime anzudienen, auch die Fantasielosigkeit der Spitzengremien, die den Abwehrkampf auf papierne Proteste beschränkten, sich inmitten grassierender, von der Regierung Hitler gedeckter und ermutigter Gewalt auf Legalität versteiften – all dies wurde bemäntelt, dem kritischem Zugriff entzogen. „Erinnerungsgeschichtlich“ sei der „DGB bis heute eine an weißen Flecken reiche Landschaft geblieben“, konstatiert nicht von ungefähr der Historiker Stefan Remeke, der sich auf die „Suche nach einer“ gewerkschaftsspezifischen „Heldengeschichte“ macht und dies mit dem „politischen Gestaltungsanspruch“ der Funktionärselite im DGB der 1970er-Jahre verknüpft.

Kein Zweifel, der 2. Mai 1933  ist „ein sperriges und schwieriges Erinnerungsfeld“, ja, eine „historische Last“. Dies hebt Knud Andresen hervor, der seinen Aufsatz mit einen provokanten Titel versieht: „Die Anpassung vergessen?“ Seine Untersuchung zählt zur Minderheit jener Beiträge, die einer explizit erinnerungsgeschichtlichen Perspektive verpflichtet sind. Sein Anliegen ist nicht die Rekonstruktion von Ereignissen, ihm geht es vielmehr um die Deutungen, die den Entscheidungsabläufen nach dem Zusammenbruch der NS-Diktatur angeheftet worden sind. Das Augenmerk richtet sich hier auf zwei in den gewerkschaftlichen Milieus anzutreffende Erzählstränge, die der Autor das „Organisationsnarrativ“ und das „Aktionsnarrativ“ nennt. Jenes rücke die „Perspektive der Funktionäre“ und die „Unmöglichkeit, die Nazidiktatur auf legale Weise zu verhindern“, in den Vordergrund, dieses sei stärker an den – von oben nicht ergriffenen, von unten aber vielfach erwarteten und zum Teil praktizierten – Möglichkeiten einer  „Gegenwehr“ orientiert.

Zugespitzt formuliert, lief letzteres auf den Vorwurf hinaus, energischer, auf formale Legalität keine Rücksicht nehmender Widerstand, selbst ein Bürgerkrieg, und selbst dann, wenn man ihn, ähnlich wie 1934 die österreichischen Sozialisten gegen das autoritäre, halbfaschistische Dollfuß-Regime, verloren  hätte, „wären angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen ehrenvoller gewesen als der Anpassungskurs.“ Andresen zeigt, wie im Laufe der Jahrzehnte die beiden eigentlich konträren Positionen in eine konsensuale, beinahe salomonische Betrachtung eingemündet sind. Einerseits akzeptierte man, dass aktive Verweigerung an und für sich wünschenswert gewesen wäre, warnte aber, so 2013 auf einer Gedenkveranstaltung der DGB-Vorsitzende Sommer, im selben Atemzug vor personalisierten Schuldzuweisungen. Das „Versagen der Organisation“ sei ein  „strukturelles Problem“ gewesen, was der Suche nach individueller Verantwortung von vornherein den Boden entzieht. Immerhin, der als Gastredner geladene Bundespräsident Joachim Gauck nutzte die Gelegenheit, den Zuhörern ins Gedächtnis zu rufen: „Anpassung bis zur Unterwerfung ist politischer Selbstmord und beraubt den Menschen zusätzlich seiner Selbstachtung.“

Zu den Begleiterscheinungen des „Organisationsnarrativs“ gehörte die relativ bruchlos verlaufende Karriere von Funktionären, die 1933 unter die Fittiche der NS-Diktatur geschlüpft, teils sogar im Rahmen der „Deutschen Arbeitsfront“ tätig gewesen waren und nach 1945 in die wiedererstehenden gewerkschaftlichen Apparate reintegriert wurden. Dies ist einer der Befunde, die Klaus Mertsching präsentiert, ähnlich denen von Dieter Nelles, der von  „verdrängtem Widerstand“ handelt und Edo Fimmen zitiert, den Sekretär der Internationalen Transportarbeiter Föderation. Dieser hatte sich Anfang Februar 1933 brieflich an einen Kollegen in Deutschland gewandt. Über die Lage dort wolle er „am liebsten schweigen“, notierte er: „Hitler ist da, wo ihn die deutsche Arbeiterschaft hingebracht hat. Die Geschichte wird mal erbarmungslos über unsere Bewegung und unsere Bonzen urteilen“. So wie hier argumentierten, was Willy Buschak verdeutlicht, auch andere, der Chef der französischen Sozialisten Leon Blum etwa, der am 4. Mai 1933 in einem Zeitungsartikel massive Bedenken gegen die Führungselite der deutschen Gewerkschaften äußerte, die – einer materiell gesättigten Bewegung vorstehend – aus Furcht, die verbandseigenen Besitztümer zu verlieren, sich zu einer Politik des Stillhaltens entschieden hätte. Nicht viel milder klang das, was im Frühjahr 1933 der Schweizer Gewerkschafter Jean Schifferstein zu Papier brachte. Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund habe, lautete das Argument, „in den Gefahrenmomenten die falsche Entscheidung getroffen, nämlich die gewerkschaftlichen Machtmittel nicht für politische Zwecke zu verwenden“.

Gewerkschaftsgeschichte hatte ihre Hochzeiten in den 1960er-, 70er- und 80er-Jahren. Mittlerweile ist es vergleichsweise still um sie geworden. Einen herausgehobenen Platz im Themenspektrum der historischen Wissenschaften hat sie nicht mehr. Der von Stefan Berger mit einer ermüdend langen Einleitung versehene Band versucht, hier Remedur zu schaffen, ihr ein breiteres Interesse zurückzugewinnen. Dem dient die Kulturalisierung des Gegenstandes. Denn nichts anderes bezweckt „Erinnerungsgeschichte“. Insofern hat das vorliegende Buch durchaus programmatischen Charakter, selbst dann, wenn dem nicht alle der darin versammelten Beiträge Folge leisten. Mit Erinnerungsgeschichte absolut nichts zu tun haben zum Beispiel die Erwägungen über den „Weg der Gewerkschaften in die Soziale Marktwirtschaft“, die Walther Müller-Jentsch ausbreitet. Auch anderes wäre zu nennen. Nicht dass das, was dort zu lesen ist, uninteressant wäre, ganz im Gegenteil, es ist Gewerkschaftsgeschichte comme il faut, solide recherchiert, informativ und anregend, aber das branding „Erinnerungsgeschichte“ trifft auf sie nicht zu. Insofern weckt der Titel des Sammelbandes Erwartungen, die nicht durchgehend eingelöst werden. Ob unter dem neuen, möglicherweise viel versprechenden Label die Gewerkschaftshistorie revitalisiert werden kann, bleibt jedenfalls abzuwarten.

Titelbild

Stefan Berger (Hg.): Gewerkschaftsgeschichte als Erinnerungsgeschichte. der 2. Mai 1933 in der gewerkschaftlichen Erinnerung und Positionierung nach 1945.
Klartext Verlagsgesellschaft, Essen 2015.
428 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783837515800

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