Gewaltgeschichten

Dietrich Beyrau über russische Erfahrungen mit Krieg und Revolution

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Elite von Besitz und Bildung in der russischen Hauptstadt schwelgten nicht wenige in Patriotismus. Die heute weithin vergessene, damals aber bestens vernetzte Schriftstellerin Sinaida Hippius jedoch blieb davon unberührt. Als entschiedene Gegnerin der zarischen Autokratie begegnete sie den im Sommer 1914 aufwallenden Stimmungen mit Skepsis und innerer Distanz. Im ersten Eintrag ihres Petersburger Tagebuchs, in dem sie – einer Chronik gleich – die Ereignisse festhielt, notierte sie am 14. August, Europa sei „von einem Flammenring umgeben“. Der Krieg, in ihren Augen ein „Weltkrieg“, werde nicht, wie viele meinten, von kurzer Dauer sein. Niemand verstehe, resümierte sie, was ein Krieg überhaupt sei und was er für Russland bedeute: „Auch ich begreife es noch nicht. Doch ich spüre ein beispielloses Grauen.“

Das hier zunächst nur geahnte Grauen lässt sich in Zahlen fassen: Die Verluste an Offizieren und Mannschaften beliefen sich auf 1,2 bis 1,4 Millionen, der Umfang an Gefangenen – je nach Schätzung – auf 2 oder 3,9 Millionen. Der eigentliche Schrecken aber sollte erst noch kommen, denn der im Frieden von Brest-Litowsk formal beendete Krieg gegen Deutschland und Österreich mündete nahtlos ein in einen Interventions- und Bürgerkrieg. Die Bevölkerung der später in der UdSSR versammelten Territorien verringerte sich zwischen 1917 und 1922 von 142 auf 132 Millionen. Die infolge von Bürgerkrieg und Hungersnot zu beklagenden Einbußen sollen für Russland 2,5 bis 3, für die Ukraine 1 bis 1,5 Millionen Menschen betragen haben. In der Roten Armee sind von den bis zu 5 Millionen rekrutierten Männern ungefähr 700.000 gefallen oder ihren Verwundungen erlegen, unter den weißen, den gegenrevolutionären Truppen waren es um die 225.000. Antijüdischen Pogromen fielen 300.000 bis 600.000 Personen zum Opfer, bolschewistischen Repressalien und Befriedungsaktionen bis zu 1,3 Millionen. Epidemien forderten bis zu 2 Millionen Tote. In polnischen Kriegsgefangenenlagern starben vermutlich Zehntausende Rotarmisten, in sowjetischen Konzentrationslagern saßen Ende 1921 ungefähr 50.000 Inhaftierte ein, die Hungersnot 1921/22 kostete Millionen von Einwohnern das Leben, allein im Wolgagebiet und in der Ukraine geschätzt je 1 Million Männer, Frauen, Kinder und Greise.

Diese und weitere Daten finden sich in dem material- und gedankenreichen, stark erfahrungs-, verhaltens- und diskursgeschichtlich argumentierenden Buch des Osteuropahistorikers Dietrich Beyrau, das von Krieg und Revolution, von deren Vor- und Nachgeschichte berichtet. Dabei handelt es sich um teils andernorts bereits publizierte und nun noch einmal überarbeitete, teils um neu geschriebene Aufsätze. Zusammengehalten werden sie von durchgehenden Fragestellungen. Diese lenken das Augenmerk auf das Problem der Kontinuität in der russischen Geschichte. Oder anders gewendet: Wie viel vorrevolutionäres Russland steckt in der Epoche der Revolution und des Bürgerkriegs? Wo sind die entscheidenden Wegmarkierungen, an denen die Entwicklung diese und keine andere Richtung genommen hat? Vor allem aber: Wie lassen sich die uferlosen Eruptionen von Gewalt in den Ereignissen nach der Februarrevolution, besonders aber dann seit der Oktoberrevolution von 1918 erklären? Gibt es Vorläufer dafür, gar Vorbilder oder Präfigurationen, sind sie in Strukturen, Mentalitäten, in spezifischen Konstellationen oder wesentlich in den zentralen Akteuren wie Wladimir Iljitsch Lenin oder Leo Trotzki zu suchen, wie viel davon entspricht dem idealtypischen Verlauf von Revolutionen und wie viel ist den eigentümlichen Verhältnissen im russischen Vielvölkerstaat geschuldet? „War die Revolution“, fragt Beyrau, tatsächlich „der welthistorische Bruch“, den die Bolschewiki für sich reklamierten, oder war „sie nur eine kurze Unterbrechung in der Kontinuität autoritärer Herrschaft in Russland?“ Wenn letzteres stimmt, welche Faktoren waren es dann, die das „Freiheitsversprechen der Februarrevolution“ ebenso wie die von der Oktoberevolution evozierten egalitären Erwartungen „desavouiert“ haben? Eine der möglichen Antworten liegt in dem, was der Verfasser die „Kriegsspur“ nennt, jene beispiellose „Abfolge tiefgreifender Gewalteinbrüche von außen und von innen“, welche die auf die Revolution gemünzten Verheißungen und Ideale Makulatur werden ließ.

Die Armee des Zarenreichs, seit 1874 eine Armee von Wehrpflichtigen, litt unter zahlreichen Defiziten. Den Krieg gegen die Deutschen verlor sie nicht allein wegen wirtschaftlicher und technologischer Schwächen, sondern vor allem deshalb, wie Beyrau hervorhebt, weil die politischen und militärischen Eliten nicht fähig waren, die gegebenen Ressourcen zu organisieren und den „Erfordernissen eines modernen Krieges gerecht zu werden.“ Die gesellschaftlichen Spaltungen verlängerten sich bis in die Truppenteile hinein. Hinzu kamen die Spannungen zwischen den einzelnen Ethnien, die Antagonismen zwischen dem Nationalismus der Russen und dem der Polen, deren Aufstandsversuche 1830/31 und 1864/64 blutig niedergeschlagen worden waren, ferner das Aufbegehren der autochthonen Bewohner der Ostseeprovinzen gegen den deutschbaltischen Adel, der sich zäh gegen jedwede Verminderung althergebrachter Privilegien sperrte, schließlich die soziale Unrast in den entstehenden industriellen Ballungsräumen.

In den breiten Schichten der Bevölkerung war weder 1905 der Krieg gegen Japan noch 1914 der gegen Deutschland und Österreich-Ungarn populär. Offiziere und Mannschaften waren durch tiefe, unüberbrückbare Gräben voneinander getrennt und existierten in Form zweier „relativ strikt separierter Kommunikationsgemeinschaften“. Soldaten, ungebildet und vielfach nicht alphabetisiert, galten als minderwertiges, beliebig verfügbares, nur mit harter Hand und Knute zu bändigendes „Material“, gar als „sprechendes Vieh“. Weder hatten sie eine klare Vorstellung vom Sinn des Krieges noch ein auf den militärischen Gegner konzentriertes, ideologisch aufgeladenes und jederzeit abzurufendes Feindbild. Klagen der Offiziere über die „zivilisatorische Rückständigkeit“ und den „mangelnden Patriotismus“ ihrer Leute waren daher Legion. Feinde waren weniger die Deutschen jenseits als die diesseits der Fronten, die Deutschbalten, die Deutschen am Hof des Zaren, überhaupt alle, die einen deutschen Namen trugen, die als fünfte Kolonne verdächtigt und des Verrats bezichtigt wurden.

Gewalt prägte in Russland nicht nur den militärischen, sondern auch den zivilen Alltag. Beyrau spricht in diesem Zusammenhang von „neuer Gewalterfahrung“, die in der Revolution von 1905 ihren Ausgang nahm. Hier wirkten sich vor allem vier Krisenpotenziale aus: der katastrophale Verlauf des Krieges gegen Japan, der soziale Protest der Industriearbeiterschaft, die Rebellion der Bauern gegen die Gutsherren sowie die Souveränitätsbedürfnisse der Nationen an der Peripherie des Reichs, im Baltikum, in Polen und im Kaukasus. Zwar gelang es, die Aufstände mit drakonischen Strafmaßnahmen und blutigen Befriedungsfeldzügen niederzuschlagen, aber 9.000 Opfer des revolutionären Terrors, die bis 1907 gezählt wurden, sprachen eine deutliche Sprache. Ähnliches galt für die Kriegs- und Feldgerichte, die bis 1910 beinahe 2.500 Todesurteile fällten. Hatte in dieser Phase die Armee als Instrument der Petersburger Regierung mehr oder minder funktioniert, so stieß ihre Brauchbarkeit nach 1914 relativ schnell an Grenzen. Verantwortlich dafür war zum einen die Mentalität der Soldaten, zum andern waren es fortdauernde Misserfolge und anschwellende Verluste an den Fronten, die Unfähigkeit der Behörden, die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten, Autoritäts- und Legitimitätsverlust der zarischen Autokratie, Chaos, Desorganisation und dramatisch schrumpfende Ressourcen.

Zermürbt, desillusioniert und kampfesmüde, wie die russischen Truppen waren, zudem erfüllt von Hass auf die Monarchie und die von ihr begünstigten Schichten, ermöglichte der Krieg die Revolution und die wiederum nach dem Zwischenspiel der Provisorischen Regierung die Beendigung des Krieges unter Führung der Bolschewiki. Aber weder das von den Deutschen erzwungene Diktat von Brest-Litowsk noch die 1919 ausgehandelten Pariser Vorortverträge brachten den ersehnten Frieden. Im Gegenteil, die bewaffneten Auseinandersetzungen dauerten unvermindert fort, nun allerdings mit höchst unterschiedlichen Akteuren, wenig eindeutigen und mobilen Fronten, mit unvorstellbaren Ausbrüchen von Gewalt, mit Strafaktionen und Massenexekutionen, ein Zustand, der nun für etliche Jahre anhalten sollte. Der große Krieg wurde abgelöst von Bürgerkrieg und Kriegskommunismus, von Interventions- und Staatsgründungskriegen in „ethnisch gemischten“ Räumen, die mit einer Erbitterung und Erbarmungslosigkeit sondergleichen ausgefochten wurden. „Im nationalen Gedächtnis der betroffenen Völker – von Finnland über Russland und Polen bis zur Türkei – hinterließen diese Kämpfe tiefere Spuren als der Weltkrieg, der im Osten Europas gemeinhin als der vergessene Krieg gilt.“ Dieser markierte, so Beyrau weiter, „für die Völker des russischen Reiches und für Osteuropa insgesamt den Beginn einer Abfolge von Katastrophen, die erst mit dem Sieg über das nationalsozialistische Deutschland und Stalins Tod endete.“

Ungeachtet tiefgreifender Traditions- und Zivilisationsbrüche behaupteten sich in den Jahren zwischen 1917 und 1922 auch Elemente von Kontinuität, waren nicht nur Verlierer, sondern auch Gewinner, nicht nur Verelendung und Abstieg, sondern auch Aufstieg zu verzeichnen. Die aus dem Boden gestampfte Rote Armee zum Beispiel wurde mehrheitlich von Offizieren des alten Regimes kommandiert. Sie zu kontrollieren und auf Linie zu halten, oblag den politischen Kommissaren, die in den Einheiten als verlängerte Armee der Partei fungierten: wie es zeitgenössisch hieß, als „lebendige Träger der Idee der Revolution“. Der Aufbau eines zuvor propagierten Milizsystems wurde rasch zugunsten professioneller Strukturen aufgegeben. Damit verabschiedete man sich zugleich von einer Programmatik, die auf eine volkstümliche und demokratisch organisierte Militärmacht gezielt hatte. Profiteure in der Armee wie in der Sowjetbürokratie waren in mancher Hinsicht die unter dem Zarismus diskriminierten Juden, was nicht ausschloss, dass antisemitische Ressentiments auch unter den Bolschewiki zu Hausen waren. Kommissare mit jüdischem Hintergrund waren recht zahlreich, was in den oppositionellen Segmenten der Bevölkerung, vor allem aber in den weißen, den gegenrevolutionären Truppen die Gleichsetzung von Kommissar, Kommunist und Jude beförderte. Antijüdische Ausschreitungen und Pogrome, Plünderungen, verwüstete Häuser und Vergewaltigungen mit tausenden von Opfern gehören in diesen Zusammenhang. Auch sie sind schwarze Flecken in einer an Schattenseiten reichen Entwicklung.

Die Art und Weise, wie die Soldaten traktiert wurden, war nicht allzu fern von der in der zarischen Armee. Der Ton war herablassend: gewissermaßen die Fortsetzung des Paternalismus mit bolschewistischen Mitteln. Nun aber figurierten die Bauern, die ergiebigste Rekrutierungsquelle, nicht mehr als Untertanen, sondern – gepaart mit Zwang – als Objekte von Belehrung, Erziehung und missionarischem Eifer. Bildungsprogramme und Indoktrination liefen hier Hand in Hand. Schließlich galt es, in einer widerstrebenden Bevölkerung „ständige Bereitschaft zum revolutionären Krieg“ zu wecken, ihr fortwährend ins Bewusstsein zu rufen, dass „Frieden und Krieg“ nur „unterschiedliche Aggregatzustände“ des Klassenkampfes im nationalen wie im internationalen Maßstab seien. Der Ausnahmezustand wurde zum Normalfall umgepolt. Die Partei fungierte dabei als Faktor der Mobilisierung und Disziplinierung, als Vollstreckerin höherer, ideologisch legitimierter Menschheitsziele, tatsächlich, wie Beyrau schreibt, ein „Herrschafts- und Patronageverband, der in  Lenin  und dann in Stalin einen charismatischen Führer fand.“

Ausgeschlossen vom zukunftsfrohen Marsch in die verheißenen besseren Welten blieben die Angehörigen all jener Schichten des Bürgertums und der Intelligenz, die sich dem nicht unterwerfen mochten. „Unser ‚Heute‘ ist in keiner Hinsicht eine Revolution“, notierte die eingangs zitierte Sinaida Hippius am 2. Dezember 1918: „Nicht nur das, es ist ein ganz gewöhnlicher Friedhof. Nur kein würdiger, sondern einer, wo die Leichen nur oberflächlich verscharrt werden und vor aller Augen, wenn auch in aller Stille, verwesen.“

Titelbild

Dietrich Beyrau: Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017.
311 Seiten, 56,00 EUR.
ISBN-13: 9783506785282

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