Die Zerfleischung der French Theory im Mondschein

Laurent Binet liefert mit „Die siebte Sprachfunktion“ einen extravaganten Beitrag zum hundertsten Geburtstag des französischen Semiotikers Roland Barthes

Von Sarah NeelsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sarah Neelsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In seinem Debütroman HHhH (Himmlers Hirn heißt Heydrich, 2011) konfrontierte sich Binet mit dem Attentat auf den SS-Schergen Reinhard Heydrich in Prag 1942, indem er die Vorbereitung des Anschlags mit Heydrichs Porträt alternierend verflocht. In dem nun vorliegenden Roman (deutsche Übersetzung von Kristian Wachinger) greift der Autor erneut auf ein historisches Ereignis zurück, nämlich den Tod des französischen Semiotikers und Professors am College de France, Roland Barthes, im Jahre 1980.

Wer bisher glaubte, Barthes sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, wird von Binet eines Besseren belehrt und erfährt en passant manch andere unerhörte Details aus dem (Privat)leben jener Pariser PhilosophInnen und SprachwissenschaftlerInnen aus Barthes’ Umkreis, die in den 1980-90er Jahren in den USA als French Theory zelebriert wurden.

Der Verkehrsunfall in der Rue des écoles, der Roland Barthes das Leben kostete, strahlt auch knapp vierzig Jahre danach noch eine geheimnisvolle Faszination aus, die vor allem an seiner tragischen Banalität liegt: Der zutiefst vom Tod seiner Mutter erschütterte Professor geriet aus Zerstreuung, nach einem gemeinsamen Mittagessen mit dem Präsidentschaftskandidaten François Mitterrand, unter die Räder eines Wäschelieferanten. Eine geradezu unerträgliche Unachtsamkeit für jemanden, der sich Zeit seines Lebens den kleinsten Details des Alltags und ihrer symbolischen Deutung gewidmet hatte. Sein bekanntestes, zugänglichstes Werk, Mythen des Alltags (auf Deutsch 1964; neue, vollständige Ausgabe 2010) beschäftigte sich etwa mit dem französischen Nationalgericht steak frites oder dem 2CV von Citroën. Die 2015 bei Suhrkamp auch auf Deutsch erschienene wissenschaftliche Biografie von Tiphaine Samoyault erzählt den Vorfall gleich zweimal und macht daraus das symbolisches Chiffre von Barthes’ Leben und Denken.

Binet seinerseits will der Sache auf den Grund gehen und befasst ein ungewöhnliches Ermittlerduo mit dem Fall. Der mürrische Veteran aus dem Algerienkrieg, Kommissar Bayard, und der schlaksige, gelegentlich etwas freche Doktorand, Simon Herzog, finden bald heraus, dass Barthes vor seinem Tod wichtige Arbeitsnotizen bei sich trug, die ihm aber unmittelbar nach dem Unfall und vor Ankunft des Notarztes vom eigentlich für den bulgarischen Geheimdienst arbeitenden Wäschelieferanten gestohlen wurden. Auf der Suche nach dem kostbaren Dokument – Barthes stand kurz davor, eine „siebte Sprachfunktion“ zu entdecken, wo bei Roman Jakobson immer nur die Rede von sechs gewesen war! – klappern Bayard und Herzog nicht nur alle Must Sees des Quartier Latin ab (Cafe de Flore, rue d‘Ulm), sondern begegnen auch dem Who’s who der französischen Intelligentsia (Michel Foucault, Julia Kristeva, Philippe Sollers, Louis Althusser, und sogar Jean-Paul Sartre). Mythische Figuren der französischen (Sprach-)Philosophie treffen vor mythischer Kulisse zusammen und ergänzen mit steak frites und 2CV das zeitlose Frankreichbild – bzw. wie Karl-Heinz Götze in seinen Französischen Affären einst meinte, sie ergeben das typisch deutsche, nicht mehr ganz aktuelle Frankreichbild.

Indem er sich auf eine nostalgische Durchsuchung der Pariser Dachkammern der French Theory begibt, knüpft Binet an eine lange, in Frankreich gut vertretene Tradition grotesken, vulgären Humors an, die man auf François Rabelais Mitte des 16. Jahrhunderts zurückführen, oder, will man nicht so weit ausholen, 1896 mit Alfred Jarrys Theaterstück König Ubu und dem initialen Ausruf der Hauptfigur „Schoiße“ beginnen lassen kann. Über die Entstehung von Jarrys Stück berichtete einer seiner Klassenkameraden, Vorbild von König Ubu sei ihr Physiklehrer Monsieur Hébert gewesen, über den sich die Schüler in eigens geschriebenen Possen, in denen er als „Andouille“ (zugleich Blödmann und Wurst) dargestellt wurde, lustig machten. Ähnlich ergeht es bei Binet den verehrten Professoren des College de France, der Ecole Normale Supérieure und der Université de Vincennes: Michel Foucault überraschen Bayard und Herzog in der Männersauna bei einer Sexorgie, Derrida wird von Hunden im Mondschein zerfleischt und die Werke des Nouveau Roman dienen der ungestörten Beobachtung einer (weiteren) heißen Sexszene auf dem Kopierer, nachts in der Universitätsbibliothek der Cornell University. Denn die „Karnevalisierung“ der Ideengeschichte, wie Michail Bachtin es genannt hätte, bleibt bei Binet nicht allein den Pariser Kreisen vorbehalten. Sie gilt auch ihren amerikanischen WegbereiterInnen und ErbInnen (John Searle, Judith Butler).

Ihre Ermittlungen führen Kommissar und Doktorand nämlich in fünf Stationen von Paris über Bologna nach Ithaca/USA und zurück zu Umberto Eco (der einzige, der einigermaßen unversehrt davonkommt), womit sie das Netzwerk europäischen Denkens (mit seinen amerikanischen Satelliten der Ostküste) in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts nachzeichnen.

Binets neuester Roman liest sich als unterhaltsamer Pop-Thriller, auch insofern „pop“, als sein Anspruch durchaus „popularphilosophisch“ wirkt. Der Autor bemüht sich um die allgemeinverständliche Darstellung wissenschaftlicher Inhalte (was kann Sprache über ihre Kommunikationsfunktion hinaus bewirken?). In Die siebte Sprachfunktion werden Forschung als spannende Spurensuche und Semiotik als Entzifferungsarbeit einer geheimen Sprache des Alltags beschrieben. Binet gelingt es, linguistische Überlegungen in comichafte Situationen einzubetten, macht aber dann immer nachdrücklicher Monsieur Hébert zum König Ubu. Sein schwungvoller Stil treibt Binet immer weiter voran in der doch nicht ganz neuen Schmäh der (kleinen) universitären Welt, und so bestätigt sein über fünfhundert Seiten langer Roman zuletzt auch den französischen Spruch: Die kürzeren Witze sind meistens auch die besseren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion.
Übersetzt aus dem Französischen von Kristian Wachinger.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016.
524 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498006761

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