Der Strom so weiß

„Mäusefest“: Über eine Neuausgabe von Johannes Bobrowskis Erzählungen

Von Stefan JägerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Jäger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist nichts: Beobachter sein, der Beobachter sieht nichts.
(Johannes Bobrowski)

Pünktlich zum 100. Geburtstag Johannes Bobrowskis legt der Verlag Klaus Wagenbach die Erzählungen Mäusefest neu auf, die er 1965, noch zu Lebzeiten des Autors, zum ersten Mal veröffentlichte. Hinzugekommen zur Neuausgabe sind die Erzählungen aus dem Band Der Mahner, der 1967 zunächst im Union Verlag (DDR) publiziert wurde, wo Bobrowski von 1959 bis zu seinem plötzlichen Tod am 2. September 1965 Lektor für Belletristik war. Ein Jahr später, 1968, folgte die Veröffentlichung der Erzählungen Der Mahner auch in der BRD, wiederum bei Wagenbach. Insgesamt versammelt der Band jetzt 22 Erzählungen, von denen der titelgebende Text Mäusefest sowie Lipmanns Leib, Rainfarn, Der Mahner und Der Tänzer Malige die bekanntesten sein dürften. Dass sie im faksimilierten Schriftbild gedruckt wurden, ist wohl eine Reverenz an die Erstausgabe. Dennoch hätte den Texten eine modernere Type sicher gutgetan. So wirkt die Ausgabe trotz des hochwertigen Leineneinbandes etwas angestaubt. Bei aller Freude über die Neuausgabe ist ebenso bedauernswert, dass auf ein Nachwort verzichtet wurde, das Aufschluss über Motive und thematische Verbindungslinien zwischen den Kurztexten oder auch zur Lyrik und den beiden Romanen hätte geben können. Dem ästhetischen Wert der Texte tut dies aber keinen Abbruch.

Die Erzählungen und Kurzgeschichten Bobrowskis weisen deutliche Gemeinsamkeiten mit seinen beiden Romanen, aber ebenso mit seiner Lyrik auf. Man könnte die Texte in diesem Sinne als „Scharnier“ bezeichnen, ohne dass sie dadurch ihren Eigenwert verlören. Auch wenn die Kenntnis anderer Texte Bobrowskis von Vorteil ist, um die Kurzprosa adäquat deuten zu können, bieten sie sich als Einstieg in das Werk des „Sprachmagiers“ an, denn sie zeigen in komprimierter Form die zentralen Themen und Motive desselben auf. In einem Interview im Zuge des 1965 an Bobrowski verliehenen Heinrich-Mann-Preises ging er auf die Beweggründe für das eigene Schreiben ein. Im Zentrum seines Schaffens ständen „Landschaft und Menschen“; er will seinen „deutschen Landsleuten etwas […] erzählen, was sie nicht wissen. Sie wissen nämlich nicht über ihre östlichen Nachbarn Bescheid. Bis heute nicht.“ In Bobrowskis Werk spielt die „deutsche Verschuldung gegenüber den Ostvölkern, seit dem Auftreten des Ritterordens bis in die jüngste Vergangenheit“, eine große Rolle. Es ist damit einzigartig in der DDR-Literatur der 1960er-Jahre. Bobrowski ist sich bewusst, dass er „diese Schuld natürlich nicht abtragen“ kann, aber er könne sie zumindest „sichtbar […] machen. An sehr handgreiflichen und sehr einfachen Dingen.“

Was er mit den „handgreiflichen und sehr einfachen Dingen“ meint, wird beispielsweise in der titelgebenden Erzählung Mäusefest deutlich. Eine Geschichte, die sehr zurückgenommen und auf den ersten Blick „einfach“ im Sinne von minimalistisch daherkommt, jedoch von einer bedeutungsschweren Motivik und Symbolik durchzogen ist. In ihr sitzt Moise Trumpeter, ein polnischer Jude, zunächst ganz unbehelligt in seinem Laden und beobachtet zusammen mit dem personifizierten Mond, der „immer“ durch die Tür eintritt, „wenn er vorbeikommt“, den Tanz der Mäuse um eine Brotrinde, die Moise ihnen hingeworfen hat. Die Atmosphäre ändert sich, als „ein Soldat, ein Deutscher“ den Laden betritt. Als Moise ihn bittet, auf dem Stuhl Platz zu nehmen, wiederholt sich das Schauspiel mit den Mäusen. Die Gefahr, die von dem deutschen Soldaten kurz nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs ausgeht, ist mit Händen zu greifen, dem Mond ist ganz „unbehaglich“, weil „dieser Deutsche da herumsitzt. Was will er denn bloß?“ Doch der Soldat erhebt sich nach der Vorführung und verlässt „dann einfach“ den Raum. Auch die Mäuse „sind fort, verschwunden. Mäuse können das.“ Moise kann das nicht, denkt man sich hinzu. Der Verweis auf die Shoa, wenn auch nicht beim Namen genannt, ist hier nicht zu übersehen; als Leser antizipiert man das Zukünftige, nicht nur hier, sondern ebenso in anderen Texten Bobrowskis, immer schon mit. Auffallend ist, dass Moise – der Gleichklang mit „Mäuse“ ist nicht zufällig – trotz des Unheils, welches ihm droht und das er selbst voraussieht, ruhig bleibt und keine Übersprungshandlung begeht. Die Gefahr, in er sich befindet, wird durch die Rede des Mondes – Phantastisches mischt sich hier mit der Darstellung von vermeintlich Realem – noch zusätzlich bekräftigt: „Weglaufen willst du nicht, verstecken willst du dich nicht, ach Moise.“ Am Ende der Geschichte füllt das Mondlicht den Laden raumgreifend aus, sodass der Ladenbesitzer kaum mehr auszumachen ist: „man denkt, er werde immer mehr eins mit der Wand.“ Die Farbe Weiß, die in Bobrowskis Werken an vielen prominenten Stellen vorkommt, weist hier wie auch anderorts auf das Verschwinden und die Auslöschung nicht nur Moises, sondern fast der gesamten Juden in den von den Nationalsozialisten besetzten Gebieten hin. Allein in Polen wurden in der Zeit von 1939 bis 1945 ca. drei Millionen Juden ermordet. „Ich weiß, sagt Moise, da hast du ganz recht, ich werde Ärger kriegen mit meinem Gott.“

Um Gewalt gegen Juden geht es auch in Lipmanns Leib, zusammen mit Begegnungen die erste Prosaveröffentlichung Bobrowskis überhaupt. In ihr schildert Bobrowski den Mord des Juden Leib, der zur Zeit des Ersten Weltkriegs von den Russen verschleppt wurde und psychisch versehrt in sein Heimatdorf zurückkehrte. Dort wird er von den Bewohnern aufgrund seines sonderbaren Verhaltens verspottet, obwohl er keiner Fliege etwas zuleide tut: „Er geht umher, redet ein bißchen, kümmert sich um Torf und Reisig, besorgt Seifenstein gegen Schnaps, tränkt die Pferde, wenn die Bauernwagen vor dem Krug halten“. Der „Krug“ ist die Kneipe Rosa Lipmanns, seiner Frau. Sie scheint die einzige im Dorf zu sein, die sich um Leib sorgt. Als er in der Gegend umherstreift, trifft er auf einige angetrunkene Dorfbewohner, die ihn zunächst aufs Heftigste beschimpfen, wobei auch Tiervergleiche nicht gescheut werden. Hier schwingt bereits das rassenideologische Vokabular der NS-Zeit mit. Jedoch bleibt es nicht bei den verbalen Ausfällen: „Sie zerren ihn auf die Anlegestelle, über den Steg auf das Floß. Er wehrt sich gar nicht, er lacht ein bißchen. Jetzt wird er getaucht, sechsmal, siebenmal. Dreckiger Jud, sagt Potschka. Bißchen länger, sagt Köhn, der Dreck ist von Weihnachten.“ Was anfänglich wie ein Dumme-Jungen-Streich anmutet, mündet schließlich in einen handfesten Mord. Als Leib nicht mehr aus dem Fluss auftaucht, unternehmen die Männer keinerlei Versuch, ihn zu finden, geschweige denn zu retten, sondern flüchten überstürzt vom Ort des Geschehens. Bobrowski zeigt in Lipmanns Leib, dass Antisemitismus nicht den Nazi-Schergen vorbehalten war – die Handlung ist zwischen den beiden Weltkriegen angesiedelt –, sondern dass er bereits vor den Pogromen tiefgreifend in alle Gesellschaftsschichten eingesickert war. Hier am „Exempel“ des vermeintlich kleinbürgerlichen Milieus in einem Dorf am Rande Ostpreußens. Alles deutet darauf hin, dass es sich um dieselbe Gegend handelt wie im Roman Litauische Claviere. Auch die für Bobrowski so typischen poetischen und eindrücklichen Landschaftsbeschreibungen mitsamt der ausgeprägten Farbsymbolik finden sich in der Kurzgeschichte: „Von den Sandgruben leuchtet es grünlich, das Ufer färbt sich schwarz, und wenn es dunkelt, wird der Strom ganz weiß.“

In einigen der im Band versammelten Erzählungen sind die autobiografischen Anspielungen überdeutlich. Die Handlung in Rainfarn spielt in einer Stadt „über die man immer sagt: Es ist wie vor hundert Jahren.“ Im Laufe der Kurzgeschichte wird ein ganzes Arsenal an konkreten Ortsnamen – „Engelsberg, Schloßberg, Splitter oder Rennplatz, Preußen oder einfach Fletcherplatz, Luisenbrücke, Kleinbahn“ – genannt, nie aber der Name der Stadt: Tilsit – heute Sowetsk (Kaliningrad). In seinem Geburtsort verbrachte Johannes Bobrowski die ersten acht Jahre seines Lebens. In der Zwischenkriegszeit bildete die an der Stadt vorbeifließende Memel den Grenzfluss zwischen Ostpreußen und dem Memelland, das 1923 von Litauen annektiert wurde. Die Spannungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten, vor allem zwischen den Deutschen und Litauern, sind nicht nur in Litauische Claviere ein Thema, sondern auch in Rainfarn. Die Brücke über die Memel überquerende Familien „können erst wieder stehn bleiben und atmen, wo Deutschland zuende ist. // Bleibt gesund, wollen wir sagen. Aber das können wir nicht.“

Einen Bogen zwischen Ostpreußen und Ost-Berlin spannt die Kurzgeschichte Das Käuzchen. Liest man sie als autobiografischen Text, so erkennt man Bobrowskis Arbeitszimmer in seinem Haus in der Ahornallee in Berlin-Friedrichshagen wieder, anhand dessen Gerhard Wolf in Beschreibung eines Zimmers (1971) Bobrowskis Leben und Werk auf so wunderbare Weise beschrieben hat. In Das Käuzchen heißt es: „Wir sind hier doch in der Stadt, eine Fabrik ist in der Nähe, nicht weit die S-Bahn, aber drüben der Friedhof und dann der Schulhof, der abends still ist, und die Häuser haben kleine Gärten, in dieser Straße.“ Hier hat sich Bobrowski mit seiner Familie niedergelassen – und sehnt sich doch in die Weiten seines „Herkunftslandes“ zurück, das nur noch mittels Träumen imaginierbar ist:

Aber wenn du träumst: wie reden da die Leute, wie sehen die Wege aus, aus welchem Haus kommst du, in welches gehst du hinein?
Die Traumhäuser sind aus Holz, aber nicht alle, das ist es auch nicht. Und die Wege?
 Ein eingefahrener Sandweg. Ohne Gräben. Wie breit ist er, kann man das sagen: Er geht über in die Wiese. Oder die Wiese hört auf. Oder geht über in einen Weg. Wie ist das genau? Es gibt keine Grenze. Der Weg ist nicht zu Ende. Und die Wiese fängt nicht an. Das ist nicht ausdrückbar. Und ist der Ort, wo wir leben.

Mit den Füßen in Berlin, mit dem Kopf in Ostpreußen. Oder, um mit der Hauptfigur in Georg Büchners Dantons Tod zu fragen: „Nimmt man das Vaterland an den Schuhsolen mit?“ Die Orte von Bobrowskis Kindheit waren nach den Verwerfungen des Zweiten Weltkriegs nicht mehr dieselben – gerade in ihnen hatte sich Vieles unwiderruflich verändert. Bobrowski hat trotz der meist provinziellen Orte, die seine Kurzgeschichten und Erzählungen so eindrücklich prägen, keine Idyllen beschrieben, keine verklärende Heimatliteratur geschrieben, sondern wusste, dass der vermeintlich paradiesische Zustand verloren war. Ganz in diesem Sinne äußerte Stephan Hermlin in seiner Grabrede für Bobrowski: „Ein kleineres Talent als er hätte sich in muffige Heimatdichtung und bornierten Nationalismus verloren, oder auch sich umgesiedelt in unproblematisch-gängigeres Milieu.“ Ein Glück für uns Leser, dass sich die poetische Meisterschaft Johannes Bobrowskis ebenfalls in den meisten seiner Erzählungen und Kurzgeschichten eindrücklich zeigt.

Titelbild

Johannes Bobrowski: Mäusefest. Zweiundzwanzig Erzählungen.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017.
144 Seiten, 17,00 EUR.
ISBN-13: 9783803113252

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