Vom Unglück des Menschen in fortschrittlichen Zeiten

Gernot Böhmes „Ästhetischer Kapitalismus“ kritisiert ein weiteres Mal Warenästhetik, Konsumismus und Materialismus unserer Zeit

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 Ein Zeitreisender aus dem 18. Jahrhundert hielte uns für Götter. Wir fliegen sitzend durch die Lüfte, sind in ein paar Stunden am anderen Ende der Welt und währenddessen nehmen wir eine warme Mahlzeit ein. Wir sprechen in ein Kabel und sind in jeder Sekunde mit den entferntesten Menschen verbunden. Magische Würfel verraten uns jederzeit, wo wir sind und wo wir hinmüssen. Manchmal sogar, wo wir hinwollen. Die Kindersterblichkeit ist so gering wie nie in der Menschheitsgeschichte und unser Leben dauert oft mehr als achtzig Jahre. Unser Brot verdienen wir nicht mehr im Schweiße unseres Angesichtes; wir essen Kuchen und Arbeit dient jetzt der Selbstverwirklichung. Die Unbilden der Natur haben wir weitestgehend gezähmt – uns im Westen bleiben oft nur Erste-Welt-Probleme, Luxussorgen und die Angstlust am Untergang.

Und trotzdem – sind wir glücklicher als unser Zeitreisender? Richten wir uns in Behaglichkeit und Zufriedenheit ein? Danken wir minütlich unserem Schicksal, das uns in diese Zeit und an diesen Ort geboren hat? Empfinden wir uns selber als glückselige Menschen? Sind wir frei von Last und Mühsal des Menschenlebens?

Die wenigsten werden diese Fragen mit ja beantworten. Warum ist das so? Warum will und will das Zeitalter der Freiheit nicht anbrechen? Warum sind wir nie zufrieden mit dem Fortschritt? Obwohl wir mit ein wenig Genügsamkeit doch nur ein paar Stunden die Woche zu arbeiten bräuchten, arbeiten, kaufen, investieren, sorgen wir uns ständig fort. Warum bedauern wir unseren Zeitreisenden nicht, sondern neiden ihm heimlich-nostalgisch die Ruhe und Bedächtigkeit seines eigenen Zeitalters?

Gernot Böhmes neues Buch Ästhetischer Kapitalismus gibt eine – nicht originelle, aber doch nachvollziehbare, weil naheliegende – Antwort darauf: „Der Kapitalismus“ ist darauf angewiesen, immer mehr, immer neues Begehren zu produzieren. Weil er wachsen muss, braucht er neue Absatzmärkte. Diese finden sich in bislang nicht ökonomisierten Bereichen unseres Alltags: in Familie, Freundschaft, Reisen, Freizeit, Sport, Entspannung. Wenn sich der Mensch nämlich auf seine Grundbedürfnisse beschränken würde, wäre der Kapitalismus dank Automatisierung und Effizienzdenken bald am Ende der Fahnenstange angekommen. Das Ergebnis wäre ein Heer von unglücklichen Arbeitslosen und schließlich der Zusammenbruch des Systems. Daher hat sich der Kapitalismus unlängst darauf verlegt, auch dem sogenannten einfachen Menschen Luxus und Überfluss als notwendig erscheinen zu lassen. Bedürfnisse, die befriedigt werden können, werden zunehmend abgelöst von Begehrnissen, die noch gesteigert werden, sobald man ihnen nachgibt.

Ein Teufelskreis der Leidenschaften beginnt. Wer nicht mitmacht bei Innovation und Konsum, wird abgehängt. So beutet der Kapitalismus auch weiterhin die Kapitallosen aus – indem ihnen von Werbung und PR-Strategien suggeriert wird, sie bräuchten immer Neues, Besseres, Schöneres. Allein als Ausweis der eigenen Überlegenheit oder als Marker der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht. Die Produkte dieses neuen Kapitalismus versprechen Distinktionsgewinn. Und das, obwohl wir doch alle leben könnten wie Götter. Obwohl wir Mensch sein könnten, wo wir spielen. Morgens Fischer, abends Kritiker sein, wie Marx prophezeite. Warum ist das Reich der Freiheit nicht angebrochen, obwohl wir das Reich der Notwendigkeit doch nach drei Stunden Arbeit pro Woche hinter uns gebracht haben?

„Der Kapitalismus ist schuld!“ 2.0

Das ist, kurz gefasst, die Analyse von Ästhetischer Kapitalismus. Böhme beschreibt, was wir stressgeplagten Burnout-Patienten der spätkapitalistisch-schlaflosen Erschöpfungsgesellschaft wiedererkennen können. Wir fühlen uns ertappt, vielleicht aber auch gebauchpinselt. Mit dem erhebenden Gefühl des Bescheidwissens kritisieren wir Konsumismus und Materialismus und preisen Nachhaltigkeit, Genügsamkeit, Minimalismus. Leben es vielleicht sogar. Sein statt Haben – auch das ist eine Art Distinktionsgewinn. Diese Kritik am „ästhetischen Kapitalismus“, einem Kapitalismus 2.0 gewissermaßen, ist es auch, die in den letzten Jahrzehnten die herkömmliche marxistische Kritik abgelöst hat, nachdem nicht mehr zu leugnen war, dass der freie Markt den Wohlstand steigert und das große Armut eher in sozialistischen Ländern ein Problem ist.

Der österreichische Ökonom und Sozialphilosoph Ludwig von Mises hat die Widersprüche der Kapitalismuskritik hervorgehoben: „Fast alle Menschen sind sich einig, dass Armut ein Ergebnis des Kapitalismus ist. Andererseits beklagen viele die Tatsache, dass Kapitalismus einen krassen Materialismus fördere, indem er verschwenderisch Wünsche nach mehr Annehmlichkeiten und besseren Lebensbedingungen bringe.“ Um diesen Widerspruch zu umgehen, muss sich der Kapitalismuskritiker auf die „ästhetischen“ Folgen des Systems konzentrieren.

Zuckererbsen für jedermann?

Böhmes Kritik, die sein schmaler Band nun in mehreren zuvor erschienenen Aufsätzen bisweilen redundant vorträgt, unterläuft der beliebte Nirvana-Fehlschluss: Nur weil „der Kapitalismus“ noch nicht alle Probleme der Welt beseitigt hat, ein ewiges Manna und „Zuckererbsen für jedermann“ (Heinrich Heine) vom Himmel fallen – sei er als „System“ unbrauchbar und muss ersetzt werden. Wenn jemand doch bloß wüsste, wodurch?

Darauf gibt Böhme keine Antwort. Fest steht nur: Wo Verausgabung zur Pflicht geworden ist, kann es so nicht weitergehen. Nachdem nämlich der Kapitalismus immer neue Begehrnisse erschaffen hat, wodurch wir aus dem ökonomischen Hamsterrad der Selbstausbeutung nicht herauskommen – es sei denn ausgebrannt –, ist das eigentliche Problem neben der Erschöpfung des modernen Selbst die Endlichkeit der Ressourcen. Auf einem endlichen Planeten gibt es nämlich kein unendliches Wachstum. Der Kapitalismus aber will es sogar dem Krebsgeschwür gleichtun und exponentiell wachsen! Da ist der Zusammenbruch des Systems in ihm selber angelegt. Denn da der Planet nur eine begrenzte Anzahl von Menschen verkraften kann, wird der heiß gelaufene Motor des Turbokapitalismus ihn früher oder später zur Apokalypse treiben. Die Ressourcen werden ausgehen, der Platz wird knapp, die Senken werden voll sein, Vermüllung, auch mit Atommüll, dann die Überfischung, die Klimakatastrophe! Verteilungskämpfe werden das Ende der Tage begleiten wie die von Böhme bemühten Warnungen des Club of Rome (Waldsterben, Ozonloch, Peak Oil). Fazit: Der ästhetische Kapitalismus, der ewiges Wachstum zur Existenzgrundlage hat, frisst seine Kinder – und am Ende sich selbst.

Die Voraussagen des Club of Rome, überhaupt seine ganze politische Agenda, sind schon oft genug kritisiert und angezweifelt worden. Ob der Planet tatsächlich nicht 10 Milliarden und mehr Menschen beherbergen kann, wenn Technik und Wissenschaft weitere Fortschritte machen, ist so ausgemacht nicht. Und Skepsis an den Kassandra-Rufen der Mainstream-Kapitalismuskritiker muss keine Befürwortung des Status quo oder des unbeirrten „Weiter so!“ bedeuten. Im Gegenteil.

Zudem hat Böhme einen verengten Begriff von Wirtschaftswachstum. Für ihn ist Wachstum stets Ausweitung, daher auch der Vergleich mit dem Wachstum natürlicher Dinge. Exponentielles Wachstum also, wie sie „der Kapitalismus“ (der Begriff selber wird weder definiert noch reflektiert) „fordert“, sei daher unnatürlich und führe unweigerlich zum Zusammenbruch – auch der beliebte Tumorzellenvergleich darf da nicht fehlen. Dass aber ökonomisches Wachstum eben auch Reduktion des Ressourcenverbrauchs, Effizienz, Einsparung bedeuten kann, ja letzten Endes sogar muss, zieht Böhme nicht in Betracht. Für ihn ist Wachstum die reine Fortsetzung des Gewohnten, weshalb er dann aus den bekannten Daten eine mögliche Zukunft extrapoliert und als unausweichlich hinstellt.

Und dass – wenn exponentielles Wachstum nicht möglich ist, früher oder später also von unvorhergesehenen Ereignissen unterbrochen wird – auch das Bevölkerungswachstum nicht exponentiell steigen wird (weshalb dann wiederum die Kritik am Wirtschaftswachstum ins Leere läuft), diese Logik erschließt sich Böhme nicht. Auch der Zinseszins in seinem Verhältnis zum staatlichen Geldsystem, der Cantillon-Effekt oder die Wirkungen der Inflation werden nicht angesprochen. Böhme jedoch stünde nicht in der Tradition der Kritischen Theorie, würde er sein Augenmerk auf diese Instrumente staatlicher Planwirtschaft legen, die den genannten Verwerfungen in nicht geringem Umfang zuträglich sind.

Der Mensch wird von den Notwendigkeiten des Kapitalismus ausgebeutet!

Der Hauptaspekt seiner Analyse liegt jedoch bei der Warenästhetik, die er in den späteren Artikeln an gut beobachteten Beispielen durchspielt. Die Konsumökonomie habe einen repressiven Charakter, der zu Standardisierung des Menschen führe. In diesem Punkt bezieht sich Böhme intensiv und erkenntnisbringend auf Adornos und Horkheimers Analyse der Kulturindustrie, auf Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik oder auf Namen wie Thorstein Bunde Veblen, Werner Sombart und Jean Baudrillard. Der Mensch, so das Fazit, entspricht genau den Notwendigkeiten des kapitalistischen Wirtschaftswachstums, indem er seinen Begehrnissen frönt.

Und es ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass der Markt sich darauf spezialisiert hat, die Wünsche der Menschen anzustacheln und zu befriedigen, weil ihm die reine Bedürfnisbefriedigung so leichtfällt. Dass aber genau dies der Grund ist, warum dem Kapitalismus trotz Mechanisierung nicht – wie befürchtet – die Arbeit ausgeht, will Böhme nicht zugestehen. Dass die Warenästhetik Menschen heutzutage ein Auskommen ermöglicht, indem diese ihre Träume verwirklichen; oder dass Produkte für die breite Masse immer billiger werden (oder würden, zieht man den unkapitalistischen Kaufkraftverlust ab), sich somit auch Arbeitsverhältnisse angenehmer gestalten lassen – darüber verliert Böhme kein Wort.

Dass ein Mensch, um seine Bedürfnisse zu befriedigen (um seine Arbeitskraft zu reproduzieren, mit Marx gesprochen), dank „ästhetischem Kapitalismus“ nur den Bruchteil dessen arbeiten muss, was er zu vorkapitalistischen Zeiten arbeiten musste, wird nicht erwähnt. Auch dass Luxusgegenstände mit der Zeit immer selbstverständlicher werden, auch für die ärmeren Schichten, und neue Erfindungen anregen, wird dem Kapitalismus nicht zugutegehalten. Damit nämlich steigen auch Lebensqualität, Lebenserwartung, Gesundheit, Wohlstand und Chancen zur Selbstverwirklichung.

Gernot Böhmes Blick aber gilt allein der schädlichen, weil ausbeuterischen Mechanik des Kapitalismus. Man mag unterstellen, dass eine solche Rhetorik dem Erfolg eines Buches auf dem Buchmarkt förderlicher ist als die optimistische Haltung etwa eines Johan Norberg, der in Progress zehn Gründe anführt, sich auf die (kapitalistische) Zukunft zu freuen. Böhmes Buch hingegen soll dazu dienen, Bewusstsein für die Schattenseiten der Konsumwelt zu schaffen – und das gelingt ihm auch, wenn auch auf ideologisch fragwürdige Weise. Er betont die Auswüchse der Leistungsgesellschaft, die den Gefühlshaushalt des modernen Menschen ins Chaos treibt. Zwar plädiert er – nachvollziehbar – angesichts dieser Verwerfungen für einen Akt der Selbstsorge, der durch Askese und klugen Konsumverzicht geprägt ist, doch diesen Gedanken führt er praktisch nicht aus. Weiterlesen könnte man hier bei Wilhelm Schmids Philosophie der Lebenskunst, die eine solche Selbstsorge propagiert, ohne sich eines doch recht überkommenen Neomarxismus zu bedienen.

Titelbild

Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
159 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518127056

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