Zum tiergestützten Blick auf Kultur und Geschichte

Zwei Sammelbände unterstreichen die Gewalt in der Mensch-Tier-Beziehung

Von Juliane Prade-WeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Prade-Weiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das von Roland Borgards herausgegebene Kulturwissenschaftliche Handbuch zum Stichwort Tiere bietet einen vorzüglichen Überblick über wichtige Themen, Fragen und Disziplinen des „tiertheoretischen Blick[s] auf die Kultur“, der im angelsächsischen Raum animal turn genannt wird, human-animal studies, critical animal studies, oder cultural animal studies. Borgards betont im Vorwort zu Recht, dass dieser Forschungsansatz Tiere nicht lediglich als einen Forschungsgegenstand neben anderen versteht, sondern dass die Reflexion der kulturell informierten Auffassungen von und Interaktionen mit Tieren den Rang einer Methode einnimmt: einer „tiergestützten Methode“. Diese erlangt mit der Analyse der Auffassung von Tieren als „nützlich“ bzw. „schädlich“, „unterlegen“ bzw. „überlegen“ nicht nur eine Kritik konkreter Praktiken, sondern zugleich auch eine Kritik begrifflicher Unterscheidungen wie etwa zwischen Natur und Kultur oder Subjekt und Objekt, die diesen Praktiken zugrunde liegen und damit eine Basis jenes Handelns und Denkens bilden, denen die gegenwärtige ökologische Krise aufruht. Eine große Stärke des Bandes liegt darin, in durchgehend gut informierten Einführungen aus der Hand von Spezialisten sowohl verschiedene Problemfelder (wie Gesellschaft, Umwelt, Medien), philosophische Ansätze (wie Geist und Ethik), Künste und Denkformen (wie Mythologie, Psychologie) zu präsentieren, als auch die Geschichte von Institutionen und Praktiken wie Jagd, Domestizierung, Tierversuch und Zoos. Solche Institutionen und Praktiken erscheinen in der orientierenden Literatur häufig lediglich als Beispiel; die gesonderte Aufmerksamkeit, die dieser Band ihnen zollt, baut leichtfertige Selbstverständlichkeiten ab, indem er etwa auf die komplexen Traditionen und Kontexte hinweist, in denen die Unterscheidung von Nutz- und Haustieren steht.

Zwei Fragen ziehen sich als roter Faden durch das Handbuch: zum einen die Historizität des Verstehens, zum anderen die Gewaltsamkeit der Interaktion mit Tieren. Der Band konzentriert sich auf die Neuzeit sowie die „abendländisch-westliche Tradition“. Dieser Konzentration ist Borgards Eingangsdiagnose geschuldet, dass die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf Tiere lange Zeit fast allein bei der Zoologie lag – denn vor der Neuzeit war die Zoologie die längste Zeit Element der Philosophie. Die Artikel zu Rhetorik, Politischer Theorie und Psychologie diskutieren denn auch eingehend antike Denkmodelle, die den Diskurs über Tiere bis in die Moderne prägen, wie die Auffassung des Menschen als politischem, vernünftigem bzw. sprachfähigem Tier, und wie den Kurzschluss zwischen Achilles und einem Löwen, dem Urmodell eines sprachlichen Bildes. Ob die Geschichte der westlichen Neuzeit und Moderne aber als eine der generellen Distanzierung und gar des Vergessens von Tieren geschrieben werden muss, oder ob das Absehen von Tieren nicht eher ein Zug der theoretischen Weltauffassung ist, die Descartes (in Absehung zuallererst von seinem eigenen Körper) begründet hat, während das menschliche Handeln auch in der Moderne eng mit Tieren versponnen bleibt – diese Frage wird etwa von den Beiträgen zur Soziologie, zur Metapher und zur Jagd in sehr unterschiedlicher Weise kommentiert. Und der Gewinn der Lektüre des Handbuchs wird vielleicht am meisten in diesem interdisziplinären Gespräch liegen.

Die Frage der Gewalt in der Interaktion mit Tieren wird nicht allein von Praktiken wie der Jagd oder der Tierhaltung aufgeworfen, sondern zu Recht in nahezu jedem Beitrag des Bandes auch als Frage des hermeneutischen Standpunkts der „tiergestützten Methode“ diskutiert. Denn die Terminologie der Verhandlung von Tieren, sowie ihre kulturelle Konnotation als Symbolträger hat konkrete Auswirkungen auf die Behandlung und damit das Leben von Tieren. „Mit jeder Zuordnung, Verortung, Ein- oder Ausschließung“, so schreibt Lukacz Nieradzik pointiert, „fügen wir Tieren Gewalt zu. So ist nicht nur die Geschichte der Nutztiere eine Geschichte der menschlichen Gewalt; vielmehr eignet auch dem Schreiben dieser Geschichte ein gewalttätiger Zug.“ Die Gewaltsamkeit selbst des analytischen Diskurses über Tiere liegt fundamental in seinem Anthropozentrismus. Als ontologische Annahme, Tiere gebe es nur um der Menschen willen, weist Borgards Anthropozentrismus zurück, in epistemologischer Hinsicht erklärt er ihn hingegen für unumgänglich. Zu Recht, denn die Annahme, als Mensch in der Analyse der kulturell und historisch variablen Bedingungen des Lebens anderer Lebewesen nicht notwendig einen parteiischen Standpunkt einzunehmen, reproduziert gerade die strukturelle Gewalt des Zusammenlebens, die es zu analysieren gilt. Die Reflexion des analytischen Standpunktes erlaubt auch die Einsicht, dass die so genannte anthropologische Differenz bei wichtigen Fällen struktureller Gewalt eben keine Rolle spielt: etwa bei Auffassungen von Männlichkeit, die sich sowohl im gewalttätigen Umgang mit Tieren zeigen als auch in häuslicher Gewalt, oder bei der gesellschaftlichen Distanzierung von der Industrialisierung der Nahrungsproduktion, die in der Unterdrückung und Entrechtung sowohl von Schlachttieren als auch von Schlachthofarbeiter_innen resultiert. Die Grenze zwischen Menschen und Tieren wird nicht anders gezogen als mit Gewalt und mit derselben Gewalt auch ignoriert, daran lässt der Band keinen Zweifel.

Dem historischen Organisationsprinzip und Erkenntnisziel der meisten Beiträge in Borgards Handbuch folgt auch der kleine Band Tiere und Krieg, herausgegeben von Jessica Ullrich und Mieke Roscher (die im obigen Handbuch die Beiträge zur Kunstgeschichte beziehungsweise zum Tierschutz verantworten). Tiere und Krieg folgt dem Grundsatz, dass menschliches Leben stets ein Zusammenleben mit anderen Lebewesen ist und dass darum auch die menschlichen Kriege nicht ohne Tiere gedacht werden können. Die Beiträge des Bandes zeigen exemplarisch sowohl die Beteiligung von tatsächlichen Tieren in Kriegen der Vergangenheit und Gegenwart auf als auch die Rolle der rhetorischen Entmenschlichung des Gegners zum „bloßen Tier“. Angesichts der so anschaulich gemachten Omnipräsenz verschiedener Tiere in der Kriegsführung erscheint es schlüssig, in einem weiteren Abschnitt des Bandes den Umkehrschluss zu ziehen und Gewaltsamkeit der modernen Interaktion mit Tieren als Krieg gegen Tiere zu betrachten. Anders als Borgards Handbuch geht es diesem Band aus der Reihe Tierstudien nicht um die Darstellung der ganzen Breite des Bildes, das sich dem „tiergestützten Blick“ zeigt, sondern um punktuelle Illumination, die Assoziationen anregt. Etwas aus dem historischen Panorama heraus fällt Renke Kruses Interpretation des Tierepos Der Mückenkrieg von 1600, die über die Konzentration auf das Medium der Parodie „anhand unheroischer Kleinsttiere“ keinen Raum findet zum Hinweis auf ganz ernst gemeinte Vorlagen wie die Myrmidonen und Bienenvölker. Ein großer Gewinn für die Lektüre ist der abschließende Teil des Bandes, der drei zeitgenössische Künstler mit mehreren Werken präsentiert. Denn diese Werke veranschaulichen, wie logisch der Schritt von Tieren im Krieg zum Krieg gegen Tiere ist, indem sie die Positionen des modernen Jagdsports so verfremden, dass deutlich wird: Er hieße Kriegsführung – würde er sich nicht gegen Tiere richten, sondern gegen Menschen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Roland Borgards (Hg.): Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2016.
323 Seiten, 89,99 EUR.
ISBN-13: 9783476025241

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Mieke Roscher / Jessica Ullrich (Hg.): Tiere und Krieg. Tierstudien 12/2017.
Neofelis Verlag, Berlin 2017.
184 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783958081390

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