Behütete Kindheit

Zum literarischen Debüt von Matthias Brandt

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Keiner da.“ – Mit diesen Worten eröffnet der aus 14 Erzählungen resp. „Geschichten“, wie die Genrebezeichnung lautet, bestehende Band „Raumpatrouille“. Verfasst wurden sie von Matthias Brandt – bekannt aus Film, Funk und Fernsehen, wie es früher einmal so schön hieß. Segen und Fluch gleichermaßen ist es, so allein zu sein in dem viel zu großen Haus, das das Kind durchstreift. Die Brüder, Mutter, Vater (zu diesem Zeitpunkt – irgendwann in den frühen siebziger Jahren – Kanzler der Bundesrepublik Deutschland): alle ausgeflogen. Also tut der Junge, was er am liebsten tut: heimlich am Hundekuchen knabbern. Denn ein Gefährte ist ihm ja geblieben: Gabor, der Familienhund mit der dicken weißen Mähne. Also geht er mit Gabor raus, um ein paar Runden mit dem Rad zu drehen, um das von Sicherheitsleuten bewachte Haus herum und durch den angrenzenden Park, an dessen Ausläufern sich ein Schlupfloch und eine Baracke für die Leute vom Wachdienst befinden. Brandt selbst spricht vom Leben in einer „höfischen Situation“, in der die Familie von Hausangestellten, Wachpersonal und Fahrern umgeben ist, die in dieser Zeit zum engsten Kreis des Jungen gehören. Eine privilegierte Situation also, die einengt und zugleich Freiheiten gewährt. Märchenhaft oder entrückt erscheinen Brandts Geschichten indes nicht.

Eine von vielen Coming-of-age-Stories, könnte man denken, in denen Charaktere gezeichnet werden, die auf der Schwelle zum Aufbruch in das eigene Leben stehen, dabei zahlreiche Krisen durchzustehen haben, mitunter das Leben als eine einzige große Krise erleben, und in denen all das wiederaufgerufen wird, was das eigene Leben in dieser inszenierten Vergangenheit ausmachte: Markennamen, Fernsehserien, medial vermittelte historische Ereignisse (wie die Mondlandung), Musik. Es sind Details, lebensweltliche und kulturelle Orientierungsmarken einer Generation, die – man denke nur an Frank Witzels 2015 erschienenen und mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman mit dem barocken Titel „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“ – die Lektüre stimulieren, doch zeitgleich ihre eigene Verfallszeit ausstellen. Im Falle von Brandts Geschichten sind sie jedoch nicht nur nostalgisches Requisit einer mehr fiktiven als realen Vergangenheit oder bloßes Oberflächenornament, vielmehr kreisen Erzählen und Erinnern um sie, sodass diese Details zu Gedächtnisorten im Kleinen werden, wenn man so will. Man denke nur an die sich rasch aufzehrende Leidenschaft des Jungen fürs Briefmarkensammeln, von der in Attaché erzählt wird. Oder an die „sogenannte Astronautenausrüstung“ in Form eines gummierten Pyjamas mit silberfarbener Beschichtung, die auf „Höhe des Herzens […] mit der amerikanischen Flagge bedruckt“ war und die von ihm mit dem für die Schulbücher vorgesehenen Geld erstanden wird (Kleiner Schritt noch). Oder an den sensationell außergewöhnlichen Fernsehabend in der kulturindustriell abgeschotteten ‚Gegen-Welt‘ des gemeinen Volkes in den frühen siebziger Jahren, die der Ich-Erzähler kennenlernt, als er bei einem Freund übernachtet. Das ganz Alltägliche wird für ihn zum Abenteuer – gemeinsam mit der Familie schaut er eine ZDF-Fernsehshow mit Wim Thoelke an, zu der schließlich Fürst-Pückler-Eis mit Kekswaffel, Fischlis und Weingummi gereicht werden –, in dessen Verlauf sich das absolut Unvorhergesehene in der Erfahrung von Heimweh ereignet (Nirgendwo sonst).

Dass das Kind trotz (oder gerade aufgrund) seines Alters auch die Rolle des ‚Zeitzeugen‘ übernimmt, führt insbesondere die Geschichte Welthölzer vor, in der von einem Fahrrad-Ausflug berichtet wird, den Vater und Sohn unternehmen. Allerdings ist auch Herr Wehner, „ein Arbeitskollege“ des Vaters, dabei. Wehner und Brandt verstehen sich nicht gut, weswegen „Mitarbeiter der beiden auf die Idee einer gemeinsamen Fahrradtour gekommen“ waren, um das Verhältnis zu entspannen. „Mir war in dem Plan die Rolle des, falls es so etwas gibt, Anstandskindes zugedacht worden. Man versprach sich von meiner Teilnahme wohl eine aufheiternde und gleichzeitig disziplinierende Wirkung, die beiden würden im Beisein des Jungen nicht gleich aufeinander losgehen. Ich selbst sah mich allerdings eher als der für das Gelingen verantwortliche Zeremonienmeister.“ Ohne es dezidiert zu benennen, wird der Junge Zeuge eines kleinen politischen und persönlichen Dramas, das er vorhersieht und vergeblich abzuwenden sucht. Denn der Vater ist, im Gegensatz zu Herrn Wehner, alles andere als sattelfest. „Nachdem der weinbewachsene Pfeilergang durchfahren war, ging es dann schnell. Ob es wirklich so war oder meine Erinnerung es mir nur so erscheinen lässt – mein Vater stürzte auf eine Art, wie ich es noch nie zuvor gesehen hatte.“ – Was eigentlich vom Jungen durchschautes, innerparteiliches und politisches Kalkül ist, wird mit einer Vater-Sohn-Geschichte verwoben, in der sich der Sohn in die Rolle des Für-den-Vater-Sorge-Tragenden hineinbegibt. In der letzten Geschichte des Bandes (Was ist) geht es noch einmal um die Beziehung zwischen Vater und Sohn. Mit dem Buch unterm Arm, aus dem die Mutter ihm noch am Abend zuvor vorgelesen hatte, durchstreift er abermals das bis auf den Vater und ihn leere Haus. Auf dieser Wanderung dringt der Junge in den ihm für gewöhnlich verschlossenen Arbeitsbereich des Vaters vor. Brandt spielt in dieser an Kafka erinnernden Szene des heimlichen Besuchs im Arbeitszimmer des Vaters mit bekannten Versatzstücken, wie etwa dem Haar, das dem am Schreibtisch eingenickten Vater aus der Nase schaut und „das ich vor einigen Tagen, ohne von ihm bemerkt zu werden, eingehend studiert hatte.“ Die unheimlich-absurde Szene löst sich auf, indem der Vater erwacht und der Junge, vom eigenen Mut überrascht, fragt: „‚Kannst du mir vorlesen?‘“ Das Bild erhascht einen Moment überraschender und kostbarer, jedoch fragiler Nähe zwischen Vater und Sohn.

Er habe eigentlich nicht eine Autobiografie schreiben wollen, sagte der Autor in einem Interview für den Deutschlandfunk anlässlich des Erscheinens des Bandes (und eines Musikalbums, das im Kontext von Brandts Arbeit am Buch und gemeinsam mit dem Musiker Jens Thomas entstanden ist). Vielmehr habe er Erkundungen im Reich der kindlichen Wahrnehmung anstellen wollen. Wenn also in diesem Buch Geschichten, kleine Episoden aus dem Leben eines Jungen zwischen sieben und zwölf Jahren geschildert werden, dann sind diese frühen Erfahrungen für ihn zugleich ein „emotionaler Fundus“. Und vielleicht sollte man diese Miniaturen auch tatsächlich so lesen: als schreibendes Zurück- und Hineinfantasieren in ein früheres, jedenfalls anderes Leben, als Durchspielen von Möglichkeiten des Verhaltens, Wahrnehmens und Sprechens, mit dem sich erzählerische Freiräume öffnen; als Fragmente im Schreiben behüteter Kindheit. Das mag einem genügen oder auch nicht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Matthias Brandt: Raumpatrouille. Geschichten.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
192 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783462045673

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