Zur philologischen Kohärenz im Werk von August Wilhelm Schlegel

Zu Héctor Canals Buch „Romantische Universalphilologie“

Von Edith HöltenschmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Edith Höltenschmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon der griffige Obertitel von Héctor Canals Buch Romantische Universalphilologie. Studien zu August Wilhelm Schlegel, in dem der seinerzeit von Jochen Bär geprägte Begriff „progressive Universalphilologie“ abgewandelt wird, erheischt Aufmerksamkeit. Denn bei jedem, der nur ein wenig mit der Literaturtheorie der Frühromantik vertraut ist, stellt sich unweigerlich die Assoziation an Friedrich Schlegels Definition der „romantischen Poesie“ als „progressive Universalpoesie“ im berühmten Athenäums-Fragment 116 ein; und diese Assoziation ist – wobei der Akzent auf „Universal“ liegt – im Hinblick auf Canals Buch durchaus gerechtfertigt.

Was versteht nun Héctor Canal unter „Universalphilologie“? Die ganze Bandbreite der Philologie, von der Erforschung der mikrologischen Buchstabenebene bis hin zur enzyklopädisch ausgreifenden, kulturell-geschichtlichen Situierung von in Sprache niedergelegten Produkten des menschlichen Geistes, also vorrangig die Gesamtheit von Sprach- und Literaturwissenschaft. So weit gefasst, und zwar in dem von August Wilhelm Schlegel selbst angegebenen Umfang der Philologie, hat Canal einen Universalschlüssel in der Hand, der alle mit Sprache und Literatur befassten Tätigkeiten zu erschließen vermag. Mit seiner Behandlung von Schlegels wichtigen Ausführungen zur Philologie in den Vorlesungen über die Encyklopädie der Wissenschaften rückt ein bisher eher vernachlässigter Text in den Fokus. Nicht nur für die Bedeutung der Philologie in Schlegels System der Wissenschaften ist dieser Text zentral, sondern auch für seine Darstellung der unter den Philologie-Begriff gefassten Forschungsgegenstände und methodischen Trias von Grammatik, Kritik und Hermeneutik.

Sprach man bisher in der Forschung von den Berliner Vorlesungen, so waren damit in der Regel die drei Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst (1801–1804) gemeint. Seit Erscheinen der Encyklopädie-Vorlesungen im Rahmen der Kritischen Ausgabe von August Wilhelm Schlegels Vorlesungen beginnt sich das Blatt zu wenden: So ordnet Canal wie zum Beispiel Roger Paulin 2016 in seiner August-Wilhelm-Schlegel-Biografie die Encyklopädie-Vorlesung den Berliner Vorlesungen als integrale vierte Reihe zu und geht detailliert auf den thematischen Zusammenhang aller vier Reihen ein. Canals IV. Kapitel „Enzyklopädik“ mit den genannten Ausführungen zur Philologie wird umrahmt von Kapiteln zur „Ästhetik“, „Sprachtheorie“ sowie „Geschichte und Theorie der Literatur“, die zwar weithin Bekanntes bieten, aber unverzichtbar als Grundlage für Canals Analyse der philologischen Vernetzung dieser Gebiete mit demjenigen der Übersetzung sind, welchem das gleichnamige zentrale und mit knapp 140 Seiten umfangreichste VI. Kapitel gewidmet ist.

Am Beispiel von Schlegels Calderón-Übersetzung zeigt Canal den Konnex zwischen Schlegels literarhistorischer Kanonisierung Calderóns (als Frontfigur romantischer Kunstpoesie), seiner Aufstellung Calderóns als ästhetisches Muster im Rahmen des Repoetisierungsprogramms von Literatur (womit die geschichtliche Perspektive normativ in die Zukunft verlängert wird), seiner Selektionskriterien der zu übersetzenden Literatur (welche die literarhistorische Wertung als ‚angewandte‘ Literaturkritik auf produktiver Ebene fortsetzen) und zwischen seiner Übersetzungspoetik (die sich wiederum in sein ästhetisches Programm einpassen lässt).

Es wird weiter deutlich, dass die Übersetzungstätigkeit wie keine andere dazu angetan ist, die Schnittstellen zwischen den Bereichen Kunst und Wissenschaft beziehungsweise Poesie und Philologie zu illustrieren. „Das philologische Studium der Ausgangstexte […] dient als notwendige Grundlage für die poetische Übersetzung, die im Bereich der Kunst anzusiedeln ist“, konstatiert Canal. Bei der Übersetzung geht es eben nicht nur um Universalphilologie, sondern zugleich um Universalpoesie im Sinne von Friedrich Schlegel, wo weitestgehende Synthetisierungen, so auch die von Kunst und Wissenschaft, zum ästhetisch-literarischen Programm erhoben werden.

Den Blick enger auf Schlegels Übersetzungspraxis gerichtet, untersucht Canal die Formen und Metren – denen tabellarische Schemata zum Vergleich Schlegel-Calderón angehängt sind – sowie Inhalt und Stil von Schlegels Übersetzung. Er kommt, gestützt durch umfassende und einlässliche Detailanalysen, zu dem Ergebnis, dass Schlegel durch größte Formtreue und größtmögliche inhaltliche beziehungsweise wörtliche Treue ‚Wirkungsäquivalenz‘ mit seiner spanischen Vorlage erreicht hat.

Nachdem Jochen Strobel seine Neuedition von Schlegels Übersetzungsanthologie aus der Romania (den Blumensträußen von 2007) vorgelegt hat, leistet Canal mit seinem Übersetzungs-Kapitel einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der Schlegel’schen Rezeption eines der romanischen Paradeautoren. Zugleich möchte er mit seinen Untersuchungen die „ersten Weichen für eine kritische zweisprachige Ausgabe“ von Schlegels Calderón-Übersetzung stellen. Nicht nur solch ein wünschenswertes Unternehmen würde die weitere Schlegel-Forschung befeuern – das gilt ebenso für ein weiteres Forschungsdesiderat, nämlich die immer noch ausstehende kritische Gesamtedition von Schlegels Shakespeare-Übersetzung.

Ähnlich wie im Übersetzungs-Kapitel zieht Canal im folgenden VII. Kapitel anhand exemplarischer „Philologische[r] Dichtungen“  – so der Titel, über dessen Wahl sich streiten ließe – Verbindungslinien zwischen Schlegels eigenem poetischen Schaffen, seiner literarhistorischen Verortung der adaptierten Sujets sowie den damit verknüpfbaren ästhetischen Prinzipien, die sich letztlich als Vorgaben zur poetischen Umsetzung (alt)romantischer Synthetisierungsbestrebungen fassen lassen und ebenfalls dem Ziel der Repoetisierung von Literatur verpflichtet sind. Gewissermaßen als wichtiges Begleitprodukt für die Quellenforschung zu Schlegel erbringt Canal den Nachweis, dass das Fragment Die Amazonen höchstwahrscheinlich eine Dichtung von Schlegel selbst ist und nicht die Übersetzung eines bisher Calderón zugeschriebenen Werks – das entsprechende Verfahren zur Klärung von Verfasserfragen hat Schlegel übrigens in der Encyklopädie-Vorlesung als Aufgabe der philologischen ‚höheren Kritik‘ beschrieben.

Mit Schlegels Beendigung der Calderón-Übersetzung um 1809 (das Spanische Theater erschien in zwei Bänden 1803 und 1809) ist auch das Ende des von Canal gewählten Untersuchungszeitraums markiert. Zwar hätten sich der philologischen Untersuchungsperspektive noch mühelos Schlegels spätere linguistische, etymologische und editionsphilologische Arbeiten, die sich bis in seine Bonner Professorenzeit erstrecken, einfügen lassen. Doch abgesehen davon, dass diese Studien schon ansatzweise erforscht sind oder aktuell intensiv beforscht werden (zum Beispiel gegenwärtig Schlegels indologische Studien von Jürgen Hanneder), zeigt Canals Beschränkung auf Schlegels frühere Schaffensphase gerade, wie sehr auch hier das philologische Denken präsent ist und in welche Wechselwirkungen dadurch Schlegels sprach- und literaturwissenschaftliche Bestrebungen sowie seine poetische Aneignung der Weltliteratur treten.

Fast scheint es so, als wäre die in der Friedrich-Schlegel-Forschung geführte Diskussion über Werk-Kontinuität oder -Diskontinuität auf die Forschung zu seinem Bruder übertragen worden. So konnte man beim Blick in die frühere Forschung den Eindruck gewinnen, es handele sich bei August Wilhelm Schlegels vielfältigen Tätigkeitsfeldern um disparate, fein säuberlich zu separierende, wenn beispielsweise der Literaturtheoretiker, -kritiker und -historiker, auch noch der Übersetzer oder Dichter Schlegel von der Romantikforschung, dagegen der Verfasser mediävistischer Studien vorzugsweise von der Altgermanistik wahrgenommen wurde. Sicher gibt es in Schlegels Leben Zäsuren, verbunden mit Projektabbrüchen oder Verlagerungen des Forschungsinteresses von alten auf neue Gegenstände. Doch das sollte nicht den Blick dafür verstellen, dass  – wie Canal mehrfach hervorgehoben hat – sämtliche wissenschaftlichen und poetischen Wirkungsbereiche von Schlegel innerlich zusammenhängen. Diese Kohärenz aus philologischer Perspektive gezeigt zu haben, darin liegt ein großes Verdienst des Buches. Jüngst hat Roger Paulin auf den literarischen Kosmopolitismus und das damit verknüpfte Motiv, den Ursprüngen von Sprache, Literatur sowie deren Überlieferungsträgern auf die Spur zu kommen, als kontinuitätsstiftenden Impuls von Schlegels Forschungen hingewiesen. Héctor Canal hat die Angemessenheit einer ganzheitlichen Sichtweise auf Schlegels Werk mit seiner Untersuchung bestätigt.

Titelbild

Héctor Canal: Romantische Universalphilologie. Studien zu August Wilhelm Schlegel.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017.
412 Seiten, 64,00 EUR.
ISBN-13: 9783825367299

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