Antigone im Libanon

In Sorj Chalandons Roman „Die vierte Wand“ wird der Krieg zum Theaterstück

Von Lisa HeinrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisa Heinrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist das Jahr 1982, im Libanon herrscht Bürgerkrieg. Die verfeindeten Lager, Drusen, Phalangisten, Schiiten, Palästinenser, drehen sich in einem Karussell der Gewalt. Die perfekte Kulisse für eine Tragödie – das denkt sich jedenfalls der Theaterregisseur Sam Akounis. Seine Idee ist so idealistisch wie naiv: Eine Aufführung der Antigone in Beirut, Darsteller aller Kriegsparteien sind auf der Bühne vertreten und das Theater muss, muss unbedingt, von Kugeln durchlöchert sein. Da Akounis sterbenskrank ist, erlegt er seinem Freund, dem Ich-Erzähler George, die Aufgabe auf, das Vorhaben in die Tat umzusetzen. Dieser lässt bereitwillig, fast erleichtert, Frau und Kind zurück, um den Traum zu verfolgen, mit der Kunst den Krieg zu besiegen.

Bei dem Versuch, die Darsteller zu einer ersten Probe zusammenzubringen, riskiert er sein Leben, verschluckt den palästinensischen Pass und dabei stellvertretend ganz Palästina, sitzt mit einem Loch im Strumpf auf dem Gebetsteppich eines Schiiten und erlebt, dass man auch ihm den Satz „Ich hasse die Menschen nicht“ soufflieren muss. Er hält den Mund auf, wenn Granaten fallen, sonst platzt das Trommelfell. In seinem eigenen Leben scheint er sich selbst zu einer Antigone zu inszenieren, die das Leben verneint – obwohl er im Theaterstück diese Rolle mit der Palästinenserin Imane besetzt hat. Mit allem ausgestattet, was ein tragischer Held braucht – Mutter früh gestorben, Vater abweisend, radikale Gesinnung – übertreibt er seine Rolle so sehr, dass man durch seine Augen das Gefühl hat, die Welt nur zweidimensional zu sehen.

Der Roman jongliert mit zentnerschweren Themen wie Krieg, Liebe und Frieden, lässt sie aber immer wieder fallen. Und so gelingt ihm nicht, was er eigentlich erreichen sollte: Zu treffen und tief zu berühren. Dabei nehmen sich die Romanfiguren Zeit, alles in Ruhe zu erklären: Es soll nicht die Antigone von Sophokles gespielt werden, sondern die von Anouilh, 1944 während der deutschen Besatzung in Paris uraufgeführt und damit der Inbegriff des Widerstandsstückes. Die vierte Wand ist die unsichtbare Barriere, die im Theater Schauspieler und Publikum trennt. Leider ist diese im Roman so dicht, dass kaum etwas sie mehr durchdringen kann. Da ist der Vorwurf, der dem Ich-Erzähler gemacht wird, sehr passend: „Deine Dialoge haben nichts mit dem wahren Leben zu tun.“

Als Inszenierung wäre der Roman gelungen. Der Krieg wird zur Kulisse, die Menschen zu Theaterfiguren. Aber soll es nicht, so glaubt man dem Ich-Erzähler, „um die Herzen der Menschen“ gehen? Diese werden mit abgenutzten Adjektiven wie am Fließband abgefertigt. Eine Palästinenserin wird als „schön“, ein Druse als „anmutig und zart“, ein Phalangist als „groß, hart und furchterregend“ bezeichnet. Die Romanfiguren werden überhöht, auf eine Bühne gestellt, bekommen Regieanweisungen, mit denen sie nichts anfangen können. Ihnen bleibt nichts Anderes übrig, als hilflos zu lächeln und ihren Text vom Blatt abzulesen.

Man kann nicht umhin, die Metaebenen zu bemerken: Ein Roman, der das Scheitern der Tragödie zeigt, scheitert selbst daran, Tragödie sein zu wollen. Die größte Schwäche des Romans wird zu einer ungewollten Stärke. Will Die vierte Wand es mit der Wirklichkeit des Krieges im Libanon aufnehmen, so kommen lauter schiefe Töne heraus. Will er dagegen zeigen, dass eine Tragödie inmitten des zerbombten Beiruts nicht funktioniert, beweist er dies auf doppelte Art.

Bittere Realität wird natürlich angesprochen, wie das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila in Beirut, von libanesisch-christlichen Milizen verübt, unter Billigung der Israelischen Armee. Der Autor war als ausländischer Journalist einer der ersten vor Ort und verarbeitet das Erlebte in einer Szene, in der Georges über die Leichen der ermordeten Zivilisten steigt, darunter vieler Kinder. Von dem tatsächlich Geschehenen zu lesen, berührt, aber nicht so stark, wie es sollte. Das ist leider auch der Beschreibungsarmut des Textes geschuldet: „Ich zitterte“, wird man vom Ich-Erzähler in jeder Situation getreu informiert. Ansonsten nicht verlegen, sich in blumigster Sprache auszudrücken, scheinen ihm hier für seine Angst keine anderen Worte einzufallen. Wo ihm dann „die Zähne klappern“ oder „die Kinnlade runterklappt“, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, der Autor sei zu faul gewesen, sich etwas Originelleres einfallen zu lassen.  

Der Leser versucht, die Freundschaft und Liebe zwischen den Figuren nachzuvollziehen, die in den Vordergrund geschoben wird, bekommt dabei als Hilfe aber nur die oben bereits erwähnten Adjektive. Durstig nach Details wird er in einer Wüste aus hohlen Phrasen alleingelassen. Ein paar Freuden durch gelungene Erzählansätze kann man sich dann doch herausstehlen: Den Unterschied zwischen siegen und leben, die Banalität eines Lebens in Frieden, die Thermoskanne, die neben dem Scharfschützen steht, während er sich bereitmacht, Menschen zu erschießen.  

Der Roman hält nicht, was er verspricht, vielleicht gerade weil er oftmals ausspricht, was eigentlich nur ungesagt bleiben, nur angedeutet werden kann, um wirkungsvoll zu sein. So wie letztlich „Antigone“ im Libanon keinen Beitrag zum Frieden leisten kann, fällt leider auch der Beitrag des Romans, was die Frage nach Wirkung und Funktion der Kunst im wirklichen Leben betrifft, schwach aus.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sorj Chalandon: Die vierte Wand. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große.
dtv Verlag, München 2015.
315 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783423260664

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