Eine Beziehung zur Welt

Patrick Chamoiseau hält in seinem Essay „Migranten“ der Globalisierung den Begriff der Mondialität entgegen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie erklären wir künftig einem Bewohner von Tahiti oder Vanuatu, er solle gefälligst bleiben, wo er herkomme? Denn was geht uns der Anstieg der Meere an. Aber trotzdem: Die Welt wächst zusammen. Die Erderwärmung macht vor keiner Insel Halt und der Freihandel nimmt weltumspannend alle Menschen als Konsumenten in die Mangel. Den Zynismus der gegenwärtigen Weltordnung benennt der in Martinique lebende französische Schriftsteller Patrick Chamoiseau in aller Deutlichkeit.

Die Migration, die (nicht nur) die europäische Bevölkerung in Angst und Atem hält, ist nicht zu trennen von der neoliberalen Ökonomie, betont er in seinem Essay. Die Menschen werden „versklavt von den Strichen der Wachstumsprozente“, die nur einer kleinen Schicht zu Gute kommen. Während überall gespart wird, steigen die Dividenden exponentiell und verschärfen das Gefälle zwischen Arm und Reich. Das „Paradigma des maximalen Profits“ ist eine Barbarei, mit der weit mehr als die Ökonomie auf dem Spiel steht: „Es ist ein Verfall, der Verlust einer Ethik“. Nichts offenbart das deutlicher als unser Umgang mit den Migranten und Flüchtlingen: ob auf dem Mittelmeer oder im Dschungel von Calais. Patrick Chamoiseau klagt die Verhältnisse an diesen Brennpunkten „am Rand aller Ränder“ unerbittlich an. Mit Blick auf sie mahnt er zur Demut und gleichzeitig zu mehr Mut, damit wir uns unsere Feigheit selbst eingestehen. „Wir haben alle etwas von Trump in uns“, bemerkt er trocken, doch Trump stellt wie „die scheinbare Alternativlosigkeit“ letztlich bloß ein Symptom „im verarmten Angebot der Politik“ dar.

Wie lässt sich das ändern? In seiner Auseinandersetzung greift der Autor zurück auf einen Begriff seines karibischen Schriftstellerkollegen Edouard Glissant und hält der Globalisierung den Begriff der Mondialität entgegen: „Die Mondialität ist eine Ahnung, von der die gesamte Menschheit in ihrer Diversität ergriffen wird, und die über die Erde in ihrer Weite und Tiefe hinweg alle miteinander verbindet.“ Sie öffnet die Augen und schärft unser Bewusstsein für die Welt, ihre Realität und ihre Potenziale. „Die Mondialität erinnert uns daran, dass die Erde sich aus Ökosystemen zusammensetzt“, deren vielleicht zentralstes das „Ökosystem der Beziehungen“ ist – auch dies mit einem Rückgriff auf Glissant, der eine „Poetik der Beziehung“ im Sinne einer „Reflexion über das Erleben der Welt“ entwickelt hat.

Aus pragmatischer Perspektive offeriert Patrick Chamoiseau keine Lösungen für die drängenden Fragen. Das obliegt weiterhin der Politik. Es geht ihm vielmehr um eine andere, menschliche Perspektive auf die Weltbeziehung. Wanderungsbewegungen sind seit jeher Teil der Geschichte gewesen. Menschen und Kulturen haben sich schon immer zu neuen Horizonten aufgemacht, auch in Europa. Das geht ebenso gerne vergessen wie die Potenziale, die darin stecken. Dafür will Patrick Chamoiseau das Bewusstsein schärfen. „Dem Pantheon der großen verbrieften Rechte wollen wir das Recht auf alle Poetiken des Lebendigen hinzufügen, und noch viel mehr das Recht auf die Poetik der Mondialität und der Welt-Beziehung.“ Frei von Illusionen fügt er jedoch an: „Es ist, wie wenn man eine Handvoll wohlgesonnener Kräfte in das Chaos der Brutalität wirft.“

Bevor er mit einer „Erklärung der Dichter“ an die Migranten auf dem Mittelmeer schließt, muntert er seine Leserinnen und Leser auf: „Lasst nicht den Kopf hängen“. Mit dieser direkten Anrede regt sein Essay Migranten dazu an, dass wir uns ehrlich mit unserem Zwiespalt zwischen Wohlergehen und Mitmenschlichkeit auseinandersetzen. Das kann irritieren und beunruhigen, doch vielleicht fällt es uns dann etwas leichter, die innere Balance hin zur Mitmenschlichkeit zu verlagern. Sie könnte der Ursprung sein für einen tiefgreifenden Wandel unserer Politik.

Titelbild

Patrick Chamoiseau: Migranten. Essay.
Übersetzt aus dem Französischen von Beate Thill.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2017.
87 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783884235775

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