Der ozeanische Chor

Mit „Transit“ setzt Rachel Cusk nach „Outline“ ihr ensembleartiges Erzählprojekt fort

Von Ulrike SchuffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Schuff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kanadisch-britische Autorin Rachel Cusk ist seit dem Erscheinen der deutschsprachigen Ausgabe von Outline im März vergangenen Jahres bei Suhrkamp hierzulande keine Unbekannte mehr, der Roman wurde vielfach positiv besprochen. Jetzt hat der Verlag ihr neuestes Werk Transit direkt nach dem Erscheinen des englischen Originals auf Deutsch herausgebracht. Wie schon bei Outline steht eine Schriftstellerin im Mittelpunkt, die wie eine Umkehrversion von Scheherazade Geschichten nicht erzählt, sondern zuhörend „einsammelt“ und wiedergibt – und dies über sehr weite Strecken im Konjunktiv.

Angesichts begrenzter Mittel und dem Rat eines Freundes folgend, lieber ein schlechtes Haus in einer guten Gegend zu kaufen als umgekehrt, erwirbt die Schriftstellerin Faye ein heruntergekommenes Haus in einem der besseren Viertel Londons, als sie nach einer Scheidung mit ihren beiden Kindern beschließt, dem Landleben den Rücken zu kehren und wieder in die Stadt zu ziehen. In der Folge hat sie es nicht nur mit einem maroden Haus und langwierigen Umbauarbeiten zu tun, sondern auch mit bizarren „Mitbewohnern“ – die untere Haushälfte gehört einem älteren Ehepaar, das aus seiner Feindseligkeit keinen Hehl macht und das ebenso wenig in die schicke oder schick gewordene Umgebung passt wie das baufällige Haus.

Haus und Nachbarn sind wie ein zentraler Akkord, der im Ensemble der Stimmen, die dieses Buch ausmachen, immer wiederkehrt: in den Bedenken des Maklers, der vom Kauf fast abrät, den skeptischen Überlegungen des Bauunternehmers oder den pragmatischen Ansätzen des Handwerkers. Die Erzählerin selbst tritt dabei eher indirekt in Erscheinung, in den von ihr wiedergegebenen Schilderungen der Menschen, denen sie begegnet: Neben den genannten sind dies ein früherer Lebenspartner, dem sie auf der Straße begegnet, als er seine Tochter zur Schule bringt, die Veranstalterin eines Literaturfestivals, an dem die Autorin teilnimmt, der Moderator und die Autorenkollegen bei einer Lesung, die MitarbeiterInnen eines Friseursalons, eine Schreibschülerin, ein Bekannter, der zur Affäre wird, ihr Cousin, der sie zu einem Abendessen aufs Land einlädt, und dessen Gäste. In diesem ensembleartigen Erzählen findet auch die Geschichte der (Anti-)Ich-Erzählerin ihren Widerschein, vor allem aber werden in diesen relativ kurzen Ausschnitten erstaunlich tiefe Einblicke in die Lebensgeschichten der verschiedensten ProtagonistInnen gewährt. Es entsteht ein vielschichtiges Bild, zusammengesetzt aus verschiedenen quasi subjektiven Perspektiven, flüchtigen Momentaufnahmen, tiefgründigen Introspektionen und fast schon philosophischen Betrachtungen – sich öffnende Fenster in fremde Leben.

Rachel Cusk hat neun Romane und drei Sachbücher veröffentlicht, neben Outline sind auf Deutsch zwei ihrer früheren Romane erschienen. Eine Art ensemblehaftes Erzählen aus mehreren Perspektiven mit verschiedenen Stimmen hat Rachel Cusk bereits in ihrem Roman Arlington Park (2008 bei Rowohlt erschienen) erprobt. In England ist die Autorin ziemlich bekannt, 2012 hat sie ihre Scheidung in einem autobiografischen Roman verarbeitet und daraufhin viel Ablehnung erfahren, wie Carola Ebeling in der „Zeit“ schreibt. Seitdem sei das autobiografische Schreiben für die Autorin scheinbar keine Option mehr. Zumindest aber hat Rachel Cusk – ob aus Konsequenz daraus oder nicht – mit Outline und Transit eine überaus originelle Erzählhaltung entwickelt, über die man, die Ich-Erzählerin aus letzterem Roman zitierend, sagen könnte: „Beim Zuhören, sagte ich, habe ich mehr dazugelernt, als ich jemals für möglich gehalten hätte.“

Zu Beginn des Romans wird das Thema „vielstimmiges vs. einstimmigem Erzählen“ sogar auf einer Metaebene überaus ironisch reflektiert. Die Erzählerin erhält pünktlich zum Umbruch in ihrem Leben eine Reihe von astrologischen Spam-E-Mails und unterhält sich mit einem depressiven Freund über die wahrscheinlich aus vielen „Astrologen“ per Computerprogramm generierte, sehr einfühlsame Internet-Astrologin. „Das Feld des Lebens sei abgegrast und die Ernte aus Sprache und Informationen so reich ausgefallen, dass das gefälschte Menschliche eines Tages vielleicht authentischer und beziehungsfähiger sein würde als das Original“, zitiert die Erzählerin den Freund. „Mein Freund empfand den Umstand, dass der ozeanische Chor in keiner Einzelperson gründete, sondern überall und nirgends war, als sehr tröstlich.“

Kluge und originelle Perspektiven und Einblicke finden sich in Rachel Cusks Erzählkosmos allemal. Laut Verlag wird nach Outline und Transit der letzte Teil der Trilogie einer „weiblichen Odyssee im 21. Jahrhundert“ folgen.

Titelbild

Rachel Cusk: Transit. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Eva Bonné.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
238 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425916

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