Pathos und irdischer Verlauf

Das Marburger Gästebuch von Leo Spitzer und Erich Auerbach

Von Olaf MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Olaf Müller

An Versuchen, Erich Auerbachs gelassen-großmütige Haltung zu beschreiben, die sich bereits beim Lesen seiner Texte zu vermitteln scheint, fehlt es nicht. Matthias Bormuth zitiert am Ende seiner vor kurzem erschienenen Auswahl aus Auerbachs Essays und Briefen, Die Narbe des Odysseus, eine Formulierung von Rudolf Bultmann, Auerbachs theologischem Kollegen aus der Marburger Zeit. Nach Auerbachs Tod 1957 nannte Bultmann ihn im Kondolenzschreiben an die Witwe Marie Auerbach „ebenso weise wie vornehm“. Hans Ulrich Gumbrecht hat von einem „praktischen Existentialismus“ Auerbachs gesprochen, den er in eine von Auerbach selbst in einem frühen Essay von 1927 über Prousts Recherche geprägte Formel gefasst hat. Dieser Essay über den „Roman der verlorenen Zeit“, wie Auerbachs Titel lautet, endet mit einem Satz, der die Leistung von Prousts Großwerk darin sah, dass die Recherche das „stets uns bedrückende und stets uns tragende Pathos des irdischen Verlaufs“ zu erfassen erlaube.

Zur sprachlichen Beschreibung dieses „Pathos des irdischen Verlaufs“ gehört Auerbachs Ton der Bescheidenheit, für den man vielleicht das heranziehen darf, was Auerbach Montaigne im Kapitel „L’Humaine condition“ aus Mimesis attestiert, wenn er von der „hinterhältigen, ironischen und ein ganz klein wenig selbstgefälligen Bescheidenheit“ spricht, mit der Montaigne sich selbst vorstellt. Auerbachs Bescheidenheit hat nichts Hinterhältiges oder Selbstgefälliges, aber die Art, wie er über Montaignes Bescheidenheit spricht, zeigt, dass, wie alles an Auerbachs Stil, auch sein Ton der Bescheidenheit noch ein hochreflektierter ist, der sich auch der Gefahr einer Eitelkeit der Bescheidenheit bewusst ist.

Eine eher zufällige Beobachtung im Gästebuch des Instituts für Romanische Philologie der Philipps-Universität Marburg, das von Leo Spitzer, Auerbachs Vorgänger auf dem Marburger romanistischen Lehrstuhl, 1927 eingeführt wurde, kann diese Mischung aus gelassener Bescheidenheit und vornehmer Weisheit an einem Detail illustrieren. Nebenbei illustriert es außerdem einen erheblichen Stilunterschied zwischen Spitzer und Auerbach. Spitzer hatte das Gästebuch 1927 angeschafft, damit sich darin die größtenteils illustren Gäste verewigen konnten, die er zur Beförderung des deutsch-französischen intellektuellen Austauschs, der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs für mehrere Jahre weitgehend zusammengebrochen war, nach Marburg eingeladen hatte.

Die Einträge, die die Gäste hinterließen, betonten denn auch wahlweise die wunderbare Atmosphäre am romanischen Seminar, die Hoffnungen auf ein besseres und geeintes Europa, auf die deutsch-französische Verständigung oder alles zusammen. Der seinerzeit sehr berühmte französische Autor Georges Duhamel, Verfasser viel gelesener Romane zum Ersten Weltkrieg, hinterließ sein Foto mit einer „Erinnerung an einen bewegenden Besuch im Romanischen Seminar von Marburg und seiner herzlichen Dankbarkeit für den Empfang, der [ihm] zuteil geworden“ sei („En souvenir d’une émouvante visite au Romanisches Seminar de Marburg et avec ma cordiale gratitude pour l’accueil que j’y ai reçu“).

Der französische Germanist Henri Lichtenberger, der im November 1928 über „Die französische Jugend von heute“ gesprochen hatte, rief im Gästebuch neben seinem Foto zum „Frieden zwischen den Völkern und den Geistern“ auf, der „nicht durch das Verwischen der individuellen Unterschiede, sondern durch die Erweiterung des Kreises unserer Neugierde und unserer Sympathien“ zu erlangen sei („Vers la paix des peuples et des esprits non point par l’effacement des différences individuelles, mais par l’élargissement du cercle de nos curiosités et de nos sympathies“).

Der katholische Philosoph Jean Baruzi, Leibnizspezialist und späterer Lehrer von Jacques Lacan, trug sich ein, „wenige Stunden, bevor ich eine Stadt verlasse, die Teil meiner ‚inneren Landschaft‘ sein wird, während ich im tiefsten Inneren meines Herzens die Erinnerung an den Abend des 3. Dezember 1928 und an die schönen Stunden vertrauter Plauderei bewahre“ („Quelques heures avant de quitter une ville qui fera partie de mon ‚paysage intérieur‘, en ayant, au plus profond du cœur, le souvenir de la soirée du lundi 3 décembre 1928 et de belles heures d’intime causerie“).

Der 1860 geborene Ferdinand Brunot, einer der wichtigsten französischen Sprachwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, schrieb nach seinem Vortrag über „Die Französische Revolution, durch die Sprache betrachtet“ im Mai 1929 und mit der persönlichen Erfahrung zweier deutsch-französischer Kriege:

Ich wünsche dem Seminar für Romanische Philologie, das mir einen so warmherzigen Empfang bereitet hat, eine Zukunft, die des bedeutenden Meisters würdig ist, der es leitet. Es war mir angenehm, mich mit ihm [also Leo Spitzer] in einer Gemeinschaft der Ideen über die Aufgaben zu befinden, die sich den Gelehrten der beiden Nationen bei ihrem Wirken für wissenschaftliche Forschung und menschliche Brüderlichkeit stellen.

(Je souhaite au Séminaire de Philologie romane, qui m’a fait un accueil si chaleureux un avenir digne du Maître éminent qui le dirige, avec lequel il m’a été agréable de me trouver en communion d’idées sur les devoirs qui s’imposent aux savants des deux nations dans leur œuvre de recherche scientifique et de fraternité humaine.)

In diesem sympathischen, aber doch auch sehr pathetischen Stil sind die meisten der Einträge gehalten. Zu Spitzers Gästen gehörten noch damals so bekannte Intellektuelle und Wissenschaftler wie der republikanische spanische Historiker Américo Castro (1885–1972), der französische Literaturkritiker René Lalou (1889–1969), der marxistische Autor Jean-Richard Bloch (1884–1947), der Philosophiehistoriker Étienne Gilson (1884–1974) oder der italienische Germanist und Komparatist Arturo Farinelli (1867–1948). Den letzten Eintrag der Ära Spitzer lieferte noch einmal Georges Duhamel, der diesmal mit seiner Frau Blanche angereist war, die gemeinsam mit ihrem Mann französische Lyrik vor großem Marburger Publikum rezitierte.

Blanche Duhamel

Neben einem dramatischen Foto der Rezitatorin Blanche findet sich die ausführliche Widmung von Georges Duhamel, der darin seine große Freundschaft für Spitzer betont:

Mein lieber Spitzer, seit zwei Jahren, seit meinem ersten Aufenthalt in Marburg, habe ich davon geträumt, mit meiner Frau hierher zurückzukehren. Es ist vollbracht. Sie kennt nun die Wärme unserer Freundschaft. Wir reisen ab, voll der Dankbarkeit. Und wir hoffen, dass wir bald wiederkommen, dann mit unseren Kindern, um ihnen ihrerseits das Lächeln und den Blick der deutschen Jugend zu zeigen und sie lieben zu lehren.

(Mon cher Spitzer, depuis deux ans, depuis mon premier séjour à marbourg, je rêvais d’y revenir avec ma femme. C’est fait. Elle connaît maintenant la chaleur de notre amitié. Nous partons, pleins de gratitude. Et nous espérons revenir encore, avec nos fils, cette fois, pour leur faire voir et aimer à leur tour le sourire et le regard de la jeunesse allemande. Blanche Albane Duhamel/Duhamel. 7.12.1929.)

Widmung Duhamel

Mit dem Amtsantritt von Erich Auerbach änderte sich ab 1930 die Funktion des Gästebuchs merklich. Anstatt blumiger Sentenzen zur Völkerverständigung, die angesichts des Wirkungs- und Verbreitungsgrades des Textträgers eben doch kaum mehr waren als sympathische Poesiealbumsverse, finden sich nun fast nur noch nüchterne Eintragungen, die Datum und Thema des Vortrags sowie den Namen des Vortragenden verzeichnen (Frauen tauchen in der ganzen Zeit nicht auf, sieht man von Duhamels rezitierender Gattin ab). Dabei nahm die Prominenz der Gäste keineswegs ab: Im Juni 1930 sprach mit Maurice Garçon ein Prominentenanwalt, der 1929 im spektakulären Fall des Deserteurs und Transvestiten Paul Grappe erfolgreich dessen Witwe verteidigt hatte, die des Mordes an ihrem Mann angeklagt war (die Geschichte von Paul Grappe ist inzwischen Gegenstand einer Comicerzählung von Chloé Cruchaudet geworden, die unter dem Titel Das falsche Geschlecht auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Vor wenigen Monaten ist außerdem in Frankreich Nos années folles in die Kinos gekommen, der neue Film von André Téchiné, der ebenfalls die Geschichte von Paul Grappe und seiner Frau Louise erzählt). 1932 sollte Maurice Garçon dann Georges Simenon verteidigen und nach dem Zweiten Weltkrieg den Verleger Pauvert, der wegen Verbreitung der Schriften des Marquis de Sade vor Gericht stand. Garçon, der über Justizirrtümer sprach, hatte in Auerbach, der vor dem Beginn seines Romanistikstudiums bereits promovierter Jurist war, sicher einen kompetenten Gesprächspartner.

Weitere im Gästebuch verzeichnete Vortragende waren der Romanautor Édouard Dujardin, der als Vorläufer der Techniken des inneren Monologs und des Bewusstseinsstroms gilt und der im Mai 1930 über den „Inneren Monolog in der französischen Literatur“ sprach; außerdem Jean Guéhenno, Autor und Redakteur der 1923 von Romain Rolland begründeten und heute noch bestehenden Zeitschrift Europe, der Romancier und Journalist André Chamson, ebenfalls Redakteur von Europe, oder Charles Du Bos, ein Deutschlandkenner und Freund von André Gide und Ernst Robert Curtius, dem Vorgänger von Leo Spitzer auf der Marburger Professur.

Notiz Guéhenno

Du Bos war der einzige Gast aus Auerbachs Zeit, der eine Widmung hinterließ, doch auch die scheint sich dem zurückhaltenden Ton des Gastgebers anzupassen, da sie von der Verständigung, die alle anderen beschwören, nur in der Negation spricht. Unter Bezug auf Elisabeth von Ungarn, deren Grab sich in der nach ihr benannten Kirche in Marburg befindet, schrieb Du Bos am 25. Juni 1932 einen knappen Text in der Sprache seiner Gastgeber: „Unter dem Zeichen der heiligen Elisabeth, und weil wir es nie gebraucht haben von Verständigung zu sprechen, haben wir uns gegenseitig am besten und am liebenswürdigsten verstanden. Dankend, Charles Du Bos“.

Widmung Du Bos

Der Unterschied zwischen der Sorgfalt, mit der Spitzer offenbar sein Gästebuch allen Vortragenden vorlegen ließ, damit sie es mit Fotos und Völkerverständigungsformeln versehen konnten, und der fast auf das reine Datum reduzierten Art der Einträge zur Zeit Auerbachs, ist bereits so deutlich genug. Doch aus einem Brief, den Auerbach kurz vor seiner endgültigen Vertreibung vom Marburger Lehrstuhl Ende 1935 an Walter Benjamin schrieb, geht hervor, dass Auerbach sich offenbar auch nicht um Vollständigkeit bemühte, selbst wenn ihm dabei große Namen für das Institutspoesiealbum entgingen.

Von einem Italienaufenthalt im Herbst 1935 schrieb Erich Auerbach am 6. Oktober 1935 an Walter Benjamin, der ihn von Paris aus um Unterstützung gebeten hatte. Auerbach war selbst zu diesem Zeitpunkt bereits in höchster Bedrängnis und musste nicht nur für Verwandte und Bekannte sorgen, sondern auch für seine Familie und sich, da seine Situation in Marburg seit 1933 immer bedrohlicher geworden war und er seine Professur an der nazifizierten Universität Marburg infolge der Verschärfung der antisemitischen Beamtengesetzgebung kurz nach dem Italienaufenthalt endgültig verlieren sollte. Aus der distanzierten Perspektive, die er von Florenz aus einnehmen konnte, skizzierte er Benjamin seine Marburger Lage:

Ich lebe dort zwischen lauter Menschen, die nicht unserer Herkunft sind, ganz andere Voraussetzungen haben – und alle so denken wie ich. Das ist schön, aber es verführt zur Torheit. Es verführt zu dem Glauben, daß das etwas sei, worauf man bauen könne – während es doch auf die Meinungen des einzelnen, und wären es noch so viele, gar nicht ankommt. Erst diese Reise hat mich von dem Irrtum befreit.

Nach der nüchternen und knappen Formulierung dieser existentiellen Einsicht, dass auch diejenigen nichtjüdischen Marburger, die sich ihm gegenüber nach wie vor zivil verhielten, im nationalsozialistischen Deutschland langfristig keine Sicherheit bedeuten würden, ging Auerbach schon im nächsten Satz zum „Praktischen“ über, nämlich zu der Frage, wie er seinerseits Benjamin helfen könne. Doch er musste gleich eingangs einschränken, dass „von unmittelbarer Hilfe weder von [Florenz] noch von Marburg aus die Rede sein“ könne, „denn die äußerst begrenzten Möglichkeiten dazu sind bereits von sehr vielen Stellen, darunter meinen beiden Schwägerinnen, ganz in Anspruch genommen“.

Stattdessen dachte Auerbach über mögliche Helfer für Benjamin in Frankreich nach und verwies auf einige der französischen Intellektuellen, die er ab 1930 zu Vorträgen nach Marburg eingeladen hatte: „Freunde in Paris habe ich genug, meine früheren Vortragsgäste in Marburg – darunter Fernandez, Malraux, Guéhenno, Chamson – aber wie können sie Ihnen helfen? Durch eine Tätigkeit? Soll ich einem von ihnen schreiben? Ich habe mit der Hilfsbereitschaft von Franzosen keine gute Erfahrung gemacht – aber wenn Sie meinen, schreibe ich gern […]“.

Ramon Fernandez war ein einflussreicher Literaturkritiker und Mitarbeiter der renommierten Nouvelle Revue Française, der 1934 noch Kommunist war, ab 1937 dann Faschist und unter der deutschen Besatzung Frankreichs ab 1940 Leiter der Nouvelle Revue Française wurde. André Malraux, der spätere Kulturminister unter Charles de Gaulle, war Anfang der 1930er Jahre bereits einer der bekanntesten französischen Romanautoren. Seine in Asien spielenden, abenteuerlichen Romane Les conquérants (1928), La Voie royale (1930) und La Condition humaine (1933) hatten ihn europaweit bekannt gemacht. Im Wintersemester 1930/1931 kam Malraux zu einer Deutschlandreise zuerst zu Leo Spitzer, der mittlerweile in Köln lehrte, und dann auch nach Marburg. Auerbach hielt es aber offensichtlich nicht für nötig, ihn bei seinem Marburgbesuch mit dem Gästebuch des Instituts zu behelligen.

In dem Brief aus Florenz an Walter Benjamin hatte Auerbach 1935 auch geschrieben, dass es, um die Verhältnisse nach 1933 zu ertragen, „keiner großen Weisheit“ bedurft habe, „sondern nur einiger Gelassenheit, die oft nicht leicht war“. Eine Nebensächlichkeit wie der nonchalante Umgang mit dem Gästebuch seines Marburger Instituts, fügt sich, wie ich meine, sehr genau in dieses Bild eines weisen und gelassenen Erich Auerbach, dem jegliches Pathos, das das „Pathos des irdischen Verlaufs“ überstiegen hätte, außerordentlich fern lag.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz