Allein unter Kadavern

Im Erzählband „Der Wahnsinn“ projiziert Mário de Sá-Carneiro seine eigene Todessehnsucht und zeichnet Unglücksmenschen der Moderne

Von Marina AndréeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marina Andrée

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Genau das ist es, was mich so zerschmettert, was mich mit Ekel durchfährt… Ich lebe wie die anderen in Erwartung des Alters, begreifst du? In Erwartung des Todes, verstehst du?“ Der Bildhauer Raul Vilar fürchtet sich vor der voranschreitenden Zeit und dem damit einhergehenden natürlichen Tod. Er möchte weder sich selbst noch seine schöne Frau altern sehen und die „Erschlaffung des Fleisches“ erleben müssen. Der Erzähler betitelt seinen Freund Vilar bereits nach wenigen Seiten als Wahnsinnigen: „Und da seine Persönlichkeit für mich ein Rätsel blieb, beschloss ich: Er sei des Wahnsinns…“ Loucura: Wahnsinn – so lautet auch der Titel der erstmals 1912 veröffentlichten Erzählung des portugiesischen Autors Mário de Sá-Carneiro, die dem 2016 auf Deutsch erschienenen Erzählband den Titel gibt.

Raul Vilar eckt mit seiner Perspektive auf die Welt beim Erzähler an. Er ist ein Kunstverächter, der Künstler wird, und ein Feind der Liebe, der sich leidenschaftlich verliebt – die Obsession der Liebe wird schließlich sein Untergang sein. Zu Beginn wünscht sich der Bildhauer noch: „Ich wollte, alle Menschen stürben… alle Tiere, nur ich bliebe am Leben… Um die Angst zu kosten, ganz allein zu sein auf einer Welt unter all den Kadavern.“ Später ist er selbst es, der aus der Welt verschwinden und sich im Freitod vom Leben lösen möchte.

Selbstmord ist das verbindende Element zwischen den in diesem Band zusammengestellten Texten. Drei Erzählungen und das Gedicht Fim (Ende) des portugiesischen Autors wurden damit erstmals übersetzt. Es ist äußerst erfreulich, dass Matthes & Seitz die Erzählungen in Übersetzung herausbringt – Anlass war vermutlich der 100-jährige Todestag Sá-Carneiros im Jahr 2016. Ein ausführliches Nachwort des Übersetzers Frank Henseleit, das mit umfangreichen Hintergrundinformationen aufwartet, schließt sich den Erzählungen an.

Der Tod begegnete Mário de Sá-Carneiro früh. 1890 in Lissabon geboren, wuchs er mit seinem Vater auf, seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war. Sein Schulfreund Tomas Cabreira Junior, mit dem er das Drama Freundschaft (Amizade) verfasste, beging 1911 Suizid. Im noch nicht übersetzten Gedicht A um suicida (An einen Selbstmörder) spricht Sá-Carneiro seinen Freund mehrfach mit o grande corajoso (der große Mutige) an. Sterben bedeutet für Sá-Carneiro keine Niederlage, kein besiegt sein. Fast bewundert er seinen Freund dafür, den Tod erreicht zu haben, während andere, wie er, gar nichts erreicht haben: „Foste vencido? Não sei. / Morrer não é ser vencido, / Nem é tão pouco vencer. / Eu por mim, continuei / Espojado, adormecido,/ A existir sem viver. / … Mas tu inda alcançaste alguma coisa: a morte,/ E há tantos como eu que não alcançam nada…“[i]

Am 26. April 1916 nahm sich Mário de Sá-Carneiro in einem Pariser Hotel das Leben. Er lud einen Freund ein, damit dieser ihn, in einen Smoking gekleidet, an einer Überdosis Strychnin ableben sah. Kurze 26 Jahre hielt er es auf der Welt aus – bis ihn seine Todessehnsucht sterben ließ, geplagt und gefoltert von der Realität. Das kurze im Erzählband enthaltene Gedicht Fim (Ende) stammt aus dem Todesjahr des Autors und kündigt an, was sein Titel besagt. Als Entstehungsort ist die Stadt Paris angegeben.

Die Todesthematik ist stets präsent bei Sá-Carneiro – Henseleit schreibt in seinem Nachwort: „Selten darf man direkter behaupten, ein Werk sei autobiografisch.“ Die Nähe zu seiner eigenen Entzweiung mit dem Leben ist unübersehbar. Denn die drei Protagonisten in Sá-Carneiros Erzählungen setzen ihrem leidvollen Leben ebenfalls ein Ende; sie sehnen sich nach einer Erlösung im Tod. Damit verbunden sind der Rausch und die Ekstase der Liebe, die die Männerfiguren erst in ihren Wahnsinn treibt. Der Künstler Raul Vilar ist süchtig nach dem „Fleisch des weiblichen Körpers“, er beteuert, seine Frau Marcela zu lieben und doch wird sie von Vilar als sein Kunstwerk angesehen. Er führt den nackten Körper seiner Frau vor, als wäre dieser seine marmorne Statue: „Ich war es, der ihn formte, der diesem Körper Feuer… Leben einhauchte!“ In Sá-Carneiros Texten ist die Frau Objekt der Begierde.

João Jacinto. Biografie ist das früheste Schriftstück der vorliegenden Sammlung, 1908 verfasst und erst spät von Editoren wiederentdeckt. Wie in der ersten Erzählung wird auch João Jacinto die Liebe zum Verhängnis – weil unfähig, sie angemessen zum Ausdruck zu bringen. Der Erzähler beschreibt ihn wie folgt: „João Jacinto war für mich, der ich ihn bestens kannte, ein Träumer, der nur aufgewacht ist, um sich umzubringen, das heißt: Um weiterzuträumen. Kurzum: Er war ein Unglücksmensch; mehr nicht.“ Die Figur wirkt eher wie die Skizze einer Person, die sich von äußeren Einflüssen sofort zum Wanken bringen lässt. Ähnlich wie es Sá-Carneiro im späteren Gedicht an Tomas Cabreira Junior schreibt, merkt der Erzähler hier an: „Wenigstens eine Sache hatte er in seinem Leben erreicht: und diese Sache war sein Tod!“ Davor herrscht das Scheitern, ein zentrales Motiv, aus dem Sá-Carneiro seine Erzählungen strickt. Scheitern in der Liebe, an der Berufung, am Leben. Scheitern an der Realität.

Der Leser erfährt bei der Lektüre des Erzählbandes, dass Sá-Carneiro, wie bereits angedeutet, den Selbstmord nicht als feige empfindet. Der Schutzumschlag trägt ein Zitat: „Ich halte den Selbstmörder für ein enorm mutiges Geschöpf.“ Und weiter: „Das Leben wird für ihn zu einer Unmöglichkeit; er flieht davor. Das stimmt. Freilich muss er für seine Flucht zu gewalttätigen Methoden greifen – die zugleich weitaus mutiger sind – als die Methode des Weiterlebens. Lebte er weiter, hätte er sich letzten Endes mit dem Common Sense abgefunden – ‚Das Leben ist ein ewiger Kampf‘ – pure Unterwerfung. Aber er unterwarf sich nicht, er starb durch seine eigene Hand – dies bedeutet, er lehnte sich auf. Nun, meine lieben Leser ‚Auflehnung‘ war schon immer ein Synonym für Kühnheit, für Mut, für Energie.“

Auffällig an allen drei Texten des Bandes ist, dass sich die Erzähler – ähnlich wie Sá-Carneiro in diesem Zitat – stets bemühen, die Freitode der Figuren zu rechtfertigen: Von der Leserschaft wird Mitleid erwartet, denn aufgrund ihres Verfalls in den Wahnsinn, der in der Unmöglichkeit des Lebens seine Quelle hat, hätten sie keine andere Wahl gehabt. In der längsten Erzählung des Bandes, Der Inzest, besteht dieser Wahnsinn erneut in einer Obsession des Protagonisten nach dem weiblichen Körper, und zwar dem seiner jung gestorbenen Tochter. Bemerkenswert an Der Inzest ist vor allem die Erzählweise, in der sich der Erzähler explizit an die Leserschaft richtet: „Geschichten schreiben, meine lieben Leser, ist nicht zwangsläufig die beste Beschäftigung in unserem Alter.“ Und weiter: „Wenn es nicht die herrlichen Bücher in meinem Regal gäbe und die Seiten, die ich bisweilen mit meiner eigenen miserablen Prosa bekritzele, ich hätte mir schon vor langer Zeit einen Schuss durchs Gehirn gegönnt.“ Vor allem wenn der Erzähler erwähnt, 22-jährig und ungläubig zu sein – die Erzählung stammt aus dem Jahr 1912 – erkennt man Sá-Carneiro wieder.

Wer sich mit Mário de Sá-Carneiro beschäftigt, dem begegnet unweigerlich auch Fernando Pessoa, der als bedeutendster moderner Dichter Portugals gilt. Den Texten der vorliegenden Sammlung schließt sich Pessoas Nachruf – erst aus dem Jahr 1924 – auf seinen Freund an. Sá-Carneiro war ein enger Vertrauter Pessoas; sie lernten sich im Oktober 1912 kennen. Gemeinsam publizierten sie erstmals 1915 die Literaturzeitschrift Orpheu. Es erschienen nur zwei Ausgaben, bis Sá-Carneiro Senior sich entschied, sie nicht mehr zu finanzieren. Dennoch war es die Orpheu, die den Motor für eine Erneuerung der portugiesischen Literatur anließ. Während Fernando Pessoas Texte mittlerweile in Deutschland weitestgehend bekannt sind, ist Mário de Sá-Carneiro hierzulande ein vergessener Kollege des Modernisten. In Deutschland erschien das erste übersetzte Werk von Sá-Carneiro zum Portugal-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse 1997 dann gleich in zwei unterschiedlichen Übersetzungen: der Roman A Confissão de Lúcio, erstmals veröffentlicht im Jahr 1914 (Suhrkamp: Lúcios Bekenntnis; DTV: Lúcios Geständnis).

Wenn auch erst 100 Jahre nach seinem Tod, ist es dennoch eine Bereicherung, dass der Verlag Matthes & Seitz nun weitere Texte Mário de Sá-Carneiros der deutschen Leserschaft zugänglich macht. Es ist allerdings schade, dass sich der Übersetzer bei seiner Übertragung teilweise für sperrige und veraltete Ausdrücke entschieden hat. Nahe am Original sind die Herausgeber auch bei der auffälligen Interpunktion und der Gestaltung der Erzählungen geblieben, was positiv zu bewerten ist. Manch einer mag Sá-Carneiros Gedichte sprachlich gesehen als stärker ansehen als die hier versammelten Erzählungen, dennoch tragen diese mit der vorliegenden Übersetzung dazu bei, einem lange überfälligen Bild von der Kunst der portugiesischen Moderne ein weiteres Puzzlestück hinzuzufügen, deren Literatur auch abseits von Pessoa gewürdigt werden sollte.

Bei Sá-Carneiro befinden sich die Künstler im Konflikt der Vereinbarkeit von bürgerlichem Leben und Kunst; er schreibt über Männer, die als besonders und bedeutsam gelten wollen. Auch ihm selbst wurde lange Zeit wenig Anerkennung zuteil. Sá-Carneiro braucht sich jedoch hinter Pessoa nicht zu verstecken. Beiden ist gemein, dass sie aus der realen Welt in die Dichtung flüchteten. Das Leben war nur erträglich in der Fiktion – bis es eben nicht einmal dort aushaltbar war und im Suizid endete.

Sá-Carneiro fand sich von Anfang an von Toten umgeben: von seinen fiktiven Figuren genauso wie von nahestehenden Personen in der Realität. Schließlich war er unter ihnen doch allein, er war ein Verlorener in sich selbst, wie er im Gedicht Dispersão (Zerstreuung) schreibt: „In mir selbst habe ich mich verloren / denn ich war ein Labyrinth / und heute, wenn ich mich fühle / vermisse ich mich selbst.“ („Perdi-me dentro de mim / Porque eu era labirinto / E hoje, quando me sinto, / É com saudades de mim.“). Er hat sich in der realen Welt nie wiedergefunden.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

[i] „Wurdest du besiegt? Ich weiß nicht. / Sterben heißt nicht besiegt zu sein / Auch ist so wenig zu gewinnen / Ich jedenfalls fahre fort / wälzend, schlafend / zu existieren ohne zu leben / … Aber du hast eine andere Sache erreicht: den Tod / und es gibt so viele wie mich, die gar nichts erreicht haben…“ (Übers. M.A.)

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Mário de Sá-Carneiro: Der Wahnsinn. Erzählungen.
Übersetzt aus dem Portugiesischen und mit einem Nachwort von Frank Henseleit.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2016.
231 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783957572288

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