Ein an der Literatur gewachsenes Leben

Eva Demski erinnert in ihren Memoiren „Den Koffer trage ich selber“ auf persönliche Art und Weise die relevanten Themen ihres Lebens

Von Julia KlebsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Klebs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht die lebenden Autoren leiten Eva Demskis Memoiren ein, sondern die toten: Jean Améry, Marcel Reich-Ranicki, Elias Canetti und Christof Schlingensief ziehen als Gespenster über die Frankfurter Buchmesse, den „papierenen Hades“. Demski nimmt damit einen seit der Antike wirkenden Topos auf, gemäß dem das Werk den Namen des Dichters unsterblich macht. Dabei entfaltet sich auf den ersten Seiten, was die in einem leichtfüßigen Stil geschriebenen Memoiren lesenswert macht: Demski verflicht Kunst und Literatur auf differenzierte Art und Weise mit gesellschaftspolitischen Themen, die sie pointiert behandelt. Etwa wenn die einst schreibenden Geister in Bezug auf ihren geringen weiblichen Anteil befragt werden. Oder wenn rauchende Dichter dem Veganismus weichen und der antike Topos eine unerwartete Wende nimmt. Angesichts des an mehreren Stellen kommentierten Medienwechsels von der analogen zur digitalen Welt sei ein Buch nämlich „nicht haltbarer als ein blödes Brot“.

Generell liegt Demski an einem eigenständigen Weg, auf dem diverse Anerkennungsdynamiken kritisch reflektiert werden und sich eine Sympathie für anarchistische Haltungen zeigt. Das beginnt bei der Schilderung einer von Erwachsenen weitgehend unbehelligten Nachkriegskindheit, die als „kleine Klassenlosigkeit“ beschrieben wird. Erst die Schule habe die Kinder zurück „ins Glasscherbenviertel, an den Stadtrand oder in die feine Altstadt“ gebracht. Auch das Elternhaus ist eine Mischung aus „Patrizierhaus“ und „Dachkammerbohème“ und ist geprägt von einer verschwenderischen Lust am Leben und an der Kunst. Vor allem der Theater machende Vater ist dabei die treibende Kraft, nicht zufällig bereut er am Sterbebett die Einschränkung seiner Freiheit durch die Ehe. Diese Aussage verbindet die Tochter mit dem Vater insofern, als sie nach dem Tod ihres ersten Ehemanns ein von „Liebeszwängen“ unabhängiges Leben führt. Die Zeit des „vulkanischen Jahrzehnts“ in einem Alter zwischen zehn und zwanzig (von 1954 bis 1964) erscheint sodann als „ein Dorado für Scharlatane, Lebensgaukler, Wahrsagerinnen und Betrüger, ein riesiger Zirkus“. Vielleicht ist es diese frühe Prägung, die Demskis Skepsis gegen Dogma und Ideologie begründet. Dieses Thema wird insbesondere im vierten Kapitel „Das überfüllte Jahrzehnt“ entfaltet. Die 20-jährige Eva schreibt sich an der Mainzer Universität ein und nimmt an der 1968er Revolte teil, die als Zeit voller Aufbrüche und der Infragestellung von Normen und Autoritäten beschrieben wird. Demski setzt das radikal um, indem sie auch „neue Götter“ – Cohn-Bendit, Angela Davis oder Malcolm X – infrage stellt und sich von ihnen abwendet, weil „schon wieder irgendwer darüber bestimmte, was richtig war und was ich denken, wünschen, lernen und lieben sollte“.

Mit dem Juristen Reiner Demski führt sie eine Ehe, in der die Zweisamkeit von der Freien Liebe und Reiners Bisexualität undramatisch abgelöst wird. Reiner Demski, ein linker Anwalt, ist auch das Stichwort, das die Autorin über die RAF nachdenken lässt. Ihre in Nebensätzen und einem Treffen mit Jan Carl Raspe angedeutete Nähe zum Untergrund gibt Anlass für Bemerkungen über deren orthodoxe „Herzlosigkeit“ und die „immer anmaßenderen Aktionen“. An den Selbstmord der RAF-Gefangenen glaubt Demski – und mit ihr viele andere – noch in den 1980er Jahren nicht. Man wüsste an dieser Stelle gerne genauer, was zu einer Änderung dieser Haltung geführt hat und wie eine Kritik an der RAF aussähe, die über die genannten konventionellen Distanzierungen hinausginge. Vielleicht ist aber auch das der Mehrwert des Textes: Über die erzählte Lebenserinnerung erfährt man manchen Grund, der über eine analytische Kritik hinausgeht – etwa dass nach Reiner Demskis Tod keine linken Mandanten um ihren Anwalt trauerten. Ohnehin ist die Erzählerin weit davon entfernt, die Zeit der Revolte zu glorifizieren. Zu differenziert ist ihre Sicht darauf, die sie in der Rückschau manches Unbehagen formulieren lässt, etwa über die Arroganz, mit der Urteile gefällt worden seien, oder über die Rücksichtslosigkeit der Freien Liebe, die sich um bestehende Beziehungen nicht geschert habe.

Schon während der bewegten Zeit macht Demski Filme, schreibt Artikel und entwickelt sich zur Schriftstellerin. Auch die Schilderung dieses Lebensabschnitts zeichnet sich durch differenzierte persönliche und gesellschaftspolitische Beobachtungen aus. So bringt die Autorin etwa die Problematik weiblichen Schreibens zur Sprache, sieht schon früh die Rolle der Frau als „Muse, Sekretärin, Ernährerin und Fanclub in einem“ oder die Schwierigkeit, als Autorin ernstgenommen zu werden. Letzteres wird am Beispiel von Anja Lundholm beschrieben, deren Biografie „härtesten Erzählstoff“ enthalte, unter anderem eine jüdische Mutter, die von ihrem Ehemann, einem SS-Mann, zum Selbstmord gezwungen wurde. Gleichwohl sei Lundholm der „Frauenfalle“ nicht entkommen und in der Ecke der Unterhaltungsliteratur gelandet. Auch Demski selbst muss erst einige Hürden überwinden, bis sie sich als Schriftstellerin bezeichnet. Ist dies einmal gelungen, so ist der weitere schriftstellerische Prozess von der Auseinandersetzung mit dem Thema „Freiheit“ geprägt. Demski verzichtet auf eine feste Anstellung beim Fernsehen und verdient ihren Lebensunterhalt nach dem ersten Roman als freie Publizistin und Schriftstellerin. Die so zustande gekommenen Reportagen, Reisebeschreibungen und Buchprojekte kommen in den Kapiteln „Alte Meister“, „Etwas von allem“ und „Mit unbekanntem Ziel“ zur Sprache. Man erfährt darin, wie sich Persönlichkeit und Arbeit ertragreich ineinander verflechten. Zum Beispiel fährt die Erzählerin nach dem Tod ihres Vaters stundenlang über den Main und schließt die Überquerungen mit einem Artikel für eine Kunstzeitschrift ab, in dem zwölf für ein imaginäres Museum auszuwählende Bilder beschrieben werden. Demski entdeckt so – in der Auseinandersetzung mit ihrem gerade verstorbenen „Künstlervater“ – die abstrakte Kunst.

Auch später, als es gilt, sich den Herausforderungen des eigenen Alterns und den Zeitläuften jenseits befreiender Aufbrüche zu stellen, steht ein Fluss am Anfang der künstlerischen Arbeit. Demski schreibt ein Hörstück über die Donau, wobei weit zurückgeblättert wird und die in Vor- und Rückblenden organisierte Verwobenheit der Memoiren in den Blick kommt: Die 140 Seiten weiter vorn beschriebenen Dichter hätten den Fluss allein aufgrund seiner Ström- und Fließlaute hörbar gemacht – ein Projekt, das sich die Erzählerin für einen späteren Zeitpunkt aufhebt. Teil der Memoiren ist indessen die „papierene Walhalla“, eine Textsammlung, die von Menschen zeugt, die nicht vergessen werden sollen. Darin enthalten sind bekannte und weniger bekannte Namen aus dem Kunst- und Literaturbetrieb: Neben Marcel Reich-Ranicki, der der Autorin freundschaftlich verbunden ist, die Schriftstellerin Helga M. Novak, die bereits genannte Anja Lundholm, der in der Psychiatrie malende und schreibende Adolf Wöfli oder der aufgrund einer schweren Behinderung mit seinem linken Fuß schreibende irische Autor Christy Brown. Abgerundet werden die Reflexionen zum Entwicklungsprozess einer Schriftstellerin schließlich von der realistischen Benennung der Schattenseiten des Schreibens: den Arbeitsbedingungen und dem kargen Auskommen, mit dem Künstler und Künstlerinnen über die Runden kommen müssen.

Als stets präsentes Thema strukturiert schließlich der Tod die gesamte Erzählung. Das zeigt etwa der Aufriss zum vierten Kapitel „Das überfüllte Jahrzehnt“, das mit der Aufzählung diverser Selbstmorde und Tode beginnt. Menschen treten nach ihrem Tod in die Erzählung ein und werden im Nachhinein beschrieben. Den Grundstein für diese anhaltende Faszination für den Tod sieht Demski in ihrer Kindheit im Nachkriegsdeutschland gelegt, in welcher der Tod allgegenwärtig und normal ist. So normal, dass er an Gottes Stelle tritt und in den ersten Kinderkapiteln mit großgeschriebenem, personifizierendem Personalpronomen auftritt: Die Kinder glauben an „Ihn“ und beschäftigen sich intensiv mit ihm. In diesen den Tod und die Literatur umspielenden Memoiren erstaunt es schließlich nicht, dass auch abschließend ein literarischer Todes-Topos in den Blick kommt. Nun sind es nicht mehr die unsterblich machenden Bücher, sondern ein Zwiegespräch mit dem Tod, das die Autorin – beinahe wie im Mittelalter und der Renaissance – auf der Suche nach ihrer toten Katze führt. Dabei erkennt sie, dass der Tod entgegen ihrer Annahme nicht der „große […] Regisseur von allem“ ist, sondern dass es in ihrer Hand liegt, die Katze und dereinst sich selbst loszulassen. Damit hat nicht der Tod das letzte Wort, sondern die Autorin – und mit ihr die von Obrigkeiten und höheren Instanzen nichts erwartende Anarchistin.

Titelbild

Eva Demski: Den Koffer trag ich selber. Erinnerungen.
Insel Verlag, Berlin 2017.
397 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783458177180

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