Zwischen den Zeiten schreiben

Ulrike Draesners Nibelungenbearbeitung

Von Felix Florian MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Florian Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist bei jedem großen Stoff der Weltliteratur dasselbe Phänomen zu beobachten, dass sie nie in einer konzentrierten, ursprünglichen Form bleibt. Je älter ein solcher Stoff ist, umso mehr Interpretationen, Neuerzählungen und Ver(un)eindeutigungen erfährt er. Diese lagern sich dem Original im besten Fall als produktive Ergänzungen an, zuweilen erscheinen sie aber auch als Ballast oder führen gar zu entstellenden Verzerrungen, hinter denen das ursprüngliche Werk zu verschwinden droht. Dies gilt zweifellos auch für das Nibelungenlied mit seiner mehr als 800 Jahre andauernden Geschichte.

Viele Bearbeitungen haben versucht, den heroischen Kern der Erzählung zu greifen, haben versucht, ihn so zu vereinfachen, dass die Sprunghaftigkeit und Fremdheit des mittelalterlichen Textes der Rezeption nicht mehr im Wege steht oder haben das Identifikationspotenzial des Nibelungenstoffes maßlos überspannt. In die Reihe der Neubearbeitungen reiht sich auch Ulrike Draesner mit Nibelungen.Heimsuchung ein, doch sie geht dabei einen gänzlich anderen Weg: Sie übersetzt den Text und seine Geschichte in eine assoziative Sprache, welche die schwelende Ambivalenz der vorangegangenen Zeiten zum künstlerischen Prinzip erhebt. Draesners Text ist eingebettet in die mehrfarbigen Jugendstilillustrationen von Carl Otto Czeschka, die das Werk auch zu einem Genuss für die Augen machen. Das Buch selbst gliedert sich in eine lyrische Annäherung an den Stoff, eine essayistische Auseinandersetzung mit der Vorlage und eine wissenschaftliche Kontextualisierung der Illustrationen.

Die Lyrik folgt grob dem Verlauf des Nibelungenlieds und präsentiert dieses in vier Zyklen, die jeweils einer der Hauptfiguren (Kriemhilt, Sîvrit, Brünhilt und Hagen) gewidmet sind. Entsprechend dieser Zuschreibung zeigen sich auch feine Signaturen in der lyrischen Gestaltung, die den Charakteren entsprechen, denn während der Sîvrit-Zyklus eher plump und martialisch daherkommt, lässt der Brünhilt-Zyklus die schmerzhafte Einpassung in die höfische Frauenrolle erahnen. Die Gedichte sind sehr assoziativ. Sie wechseln zwischen verschiedenen Referenzebenen, wie den Bildern, der mittelalterlichen Vorlage und modernen Bezügen; dies manchmal beschwingt, mal mehr einem Bewusstseinsstrom gleichend und zum Teil auch merklich konstruiert. Draesner nutzt dabei nicht nur diese Sinnebenen, sondern baut auch Sprache in dieses Geflecht mit ein, mal als Thema der einzelnen Texte, mal als Neologismen und Wortkompositionen und auch durch die Zusammenführung mehrerer Sprachen, vom Lateinischen bis hin zum Mittelhochdeutschen. Gerade das mittelalterliche Deutsch wird noch durch ein kleines Lexikon gegen Ende des Buches besonders fokussiert. Die Lyrik eröffnet einen Raum der Innerlichkeit, die im mittelalterlichen Epos keinen Platz findet. Wer jedoch erwartet, dass das Geschehen des Nibelungenlieds hier aus der Sicht der Figuren nacherzählt wird, wird enttäuscht. Dieses ist nur noch als Schatten, als die titelgebende Heimsuchung, präsent. Draesner nutzt das Vorrecht der Gattung, um mal näher, mal weit von der Vorlage entfernt, zu schreiben. Im einen Moment verdichtet sie einzelne Szenen, wie den zentralen Streit der Königinnen, auf eine nahezu unerträgliche Spannung, um kurz darauf wieder ins Assoziative zu verfallen: „grob / gezimmert ins rot des erzählens / getaucht, wimmelnd von einer bewegung die sich / nicht fangen lässt.“ Gleichzeitig werden die Illustrationen mit in die Texte eingebunden, sodass ein multimediales Erlebnis entsteht, das den Rezipienten zwischen Faszination und Ratlosigkeit hin- und herreißt.

Der Essayteil ist eine Folge kleinerer Gedankengänge, welche die Auseinandersetzung der Autorin mit der Vorlage greifbar machen. Draesner, selbst promovierte Mediävistin, bleibt hier aber der Freiheit treu, die sie schon bei der lyrischen Bearbeitung hat walten lassen. Die meisten der Kurzessays werden mit einem nur leicht variierten Satz eingeleitet und zeigen so den Versuch einer beständigen Neubetrachtung. Mit sprachlicher Präzision und dem Willen zur Vielschichtigkeit legt sie Nuancen des Textes frei, die dessen Alterität genauso wertschätzen, wie die historische Gewordenheit des Nibelungenlieds.

Schnell wird deutlich, dass beide Buchteile komplementär zu einander angelegt sind. Während die Lyrik eher Stimmungen und Eindrücke festhält, zeigen die Essays wie schwierig es ist, die Fülle des mittelalterlichen Erzählens intellektuell zu erfassen. Sie helfen dabei, die fragile Lyrik zu verstehen; genauso, wie die Lyrik das Gefühl vermittelt, an dem sich die Essays abarbeiten.

Der abschließende Kurzaufsatz über die Illustrationen von Carl Otto Czeschka rundet dieses Bild ab. Es geht in Nibelungen.Heimsuchung nicht darum, die Nibelungensage auf den Punkt zu bringen, sondern darum, die Vielgestaltigkeit und künstlerische Ausstrahlung wertzuschätzen. Draesner zeigt dies auf verschiedenen Ebenen. Sie setzt sich aktiv mit allen auseinander, ohne dabei eine klare Lesart zu erzwingen. Allerdings fordert das Werk auch Leser, die gewillt sind, es ihr gleich zu tun und sich aktiv mit dem Stoff und seiner Geschichte auseinanderzusetzen. 

Titelbild

Ulrike Draesner: Nibelungen. Heimsuchung.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
132 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783150110058

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