Ein Stachel im Fleisch der Selbstzufriedenheit

Terry Eagleton denkt in „Der Tod Gottes und die Krise der Kultur“ über Religionen nach

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Terry Eagleton, 1943 geborener Literaturtheoretiker, Vielschreiber, Marxist und auch theologisch nicht unbeleckt – sein Verlag kündigt ihn als „Linkskatholik“ an –, legt mit seinem Band Der Tod Gottes und die Krise der Kultur eine geistesgeschichtlich breit angelegte Auseinandersetzung zum Verhältnis von Kultur und Religion seit dem 18. Jahrhundert vor: Von den französischen Aufklärern über Idealismus und Romantik, Marx und Nietzsche bis in Postmoderne und Gegenwart führt er seine auf knappem Raum beinahe gedrängt wirkende Studie entlang der These, dass der Mensch zwar auch im Zeitalter nach der Aufklärung von der Religion nicht recht loskomme, die westliche Kultur zugleich aber spirituell ermüdet und entleert sei. Was er damit meint, darauf wird im Folgenden noch zurückzukommen sein.

Angesichts einer durchaus beeindruckenden Verkettung von Zitaten und Beispielen aus allen Winkeln der Literatur ist es nicht immer einfach, den roten Faden des Buches im Blick zu behalten. Eagleton ist allerdings durchaus nicht der Ansicht, dass Gott tatsächlich tot sei – und wenn es in unserer Kultur so erscheine, dann gewiss nicht zu ihrem Vorteil. Seine eigensinnigen Überlegungen folgen weder den üblichen Narrativen von Säkularisierungsapologeten noch dem Katzenjammer konservativer Verfallsgeschichten. Das alte Vorurteil, dass in einer aufgeklärten und vernunftbasierten Welt eigentlich kein Platz mehr für Religion sei, wird von Eagleton genauso wenig bestätigt wie die umgekehrte These, dass dies, wenn es denn so sein sollte, nur umso mehr einen Grund dafür abgebe, dem notorisch krisenhaften, ja fehlgeschlagenen Experiment von Aufklärung und Moderne endlich den Rücken zu kehren.

Von einer „Krise der Kultur“ spricht allerdings auch Eagleton. In der deutschen Übersetzung hat sie es gar bis in den Titel des Buches geschafft (das im Original schlichter Culture and the Death of God überschrieben ist). Diese seine Gegenwartsdiagnose hat viel mit dem Verlust religiöser Bindungsfähigkeit in der westlichen Welt zu tun – sein Buch führt in diesem Punkt Überlegungen aus, die Eagleton in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten immer wieder vorgebracht hat.

Dass die Religion spätestens seit dem Jahr 2001 wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit der westlichen Welt vorgedrungen sei, nicht nur in Gestalt des islamistischen Terrors, sondern eben auch bei linksliberalen Intellektuellen oder bei Atheisten vom Schlage eines Richard Dawkins (für deren „Billigvariante der Aufklärung“ Eagleton stets einen Seitenhieb übrig hat), ist jedoch mitnichten ein Anzeichen religiöser Vitalität – im Gegenteil. Selbst der Fundamentalismus ist weniger eine religiöse Bewegung aus eigenem Recht als vielmehr eine – letztlich vom Westen provozierte – politische Reaktion. Er konfrontiere den Westen nun allerdings auch mit seiner eigenen Unfähigkeit oder seinem Unwillen zum Glauben, und eben dadurch bringe er die kulturelle und spirituelle Krise der westlichen Kultur manifest zum Vorschein.

In der Tat lässt es Eagletons an Zitaten und geistigen Bezügen nicht armes Buch in diesem Punkt nun etwas im Vagen, was genau mit der von ihm ausgemachten Kulturkrise des Westens eigentlich gemeint ist. Jedenfalls identifiziert er die Gegenwart als eine Epoche von einzigartiger Glaubensferne, in der im Gefolge der Postmoderne sogar jedwedes Beharren auf festen und wahrheitsförmigen Überzeugungen infrage gestellt sei. Die Konfrontation mit dem islamistischen Fundamentalismus scheint ebenso etwas damit zu tun zu haben wie Wirtschaftskrisen und allgemeine Sinnverlusterfahrungen. Der dahinterstehende „spirituelle Bankrott der kapitalistischen Ordnung“ ist für Eagleton letztlich eine notwendige Konsequenz dieses kapitalistischen Systems: Je gleichförmiger und verwaschener das Glaubens- und Überzeugungssystem der Konsumenten, desto flüssiger und unbehinderter laufe das Wirtschaftssystem. „Glaube ist potentiell ansteckend, und das ist schlecht fürs Geschäft und für die politische Stabilität. Außerdem ist er unter kommerziellen Gesichtspunkten überflüssig.“

Wenn Eagleton also zum einen den Kapitalismus kritisiert, wie man es bei einem Marxisten wohl erwarten darf; wenn er zum anderen die Postmoderne als einen intellektuellen Hauptgegner ausmacht, als Bewegung nämlich, die Überzeugungslosigkeit und Beliebigkeit am Ende des 20. Jahrhunderts endgültig satisfaktionsfähig gemacht habe – dann geht es ihm im Kern um einen Gedanken, der in Deutschland gern (und eigentlich irreführend) mit einer durch den früheren Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde geprägten Figur assoziiert wird: Die westliche Kultur der Gegenwart beruht geistig wie ökonomisch auf Grundlagen, die sie selbst nicht mehr zu garantieren vermag – ja mehr noch, von denen sie zehrt und die sie auszehrt, ohne sich überhaupt dessen bewusst zu sein oder dabei sogar noch vehement abstreitend, dass man an dem Ast sägt, auf dem man sitzt.

Für Eagleton steht es ganz außer Zweifel, dass es tieferer, nicht zuletzt religiöser Überzeugungen bedarf, um zu begründen, dass die freiheitliche Demokratie eine gute und richtige Staatsform ist, um Lösungen zu finden, wie mit gesellschaftlicher Ungleichheit umzugehen ist; um letztlich eine Gesellschaft in friedlicher Weise existenzfähig zu erhalten, die doch die Verschiedenheit ihrer Mitglieder ausdrücklich akzeptiert. Weder vernünftige Einsicht allein noch gar der pragmatische Alltag von materieller Bedürfnisbefriedigung und intellektuellem Relativismus seien dazu ausreichend.

Erstaunlich ist, dass man bei dem erklärten Marxisten Eagleton so wenig von ökonomischen und politischen Konfliktlinien zu lesen bekommt – obwohl doch irgendwie der Spätkapitalismus das Problem zu sein scheint –, umso mehr aber von trotz aller kulturellen Wirkungen doch vergleichsweise esoterisch wirkenden französischen Philosophen. Geht es nicht etwas zu weit, die Philosophen und Autoren der Postmoderne zu derart wirkungsmächtigen nützlichen Idioten einer sinnentleerten, weil substanzlosen kapitalistischen Optimierungsgesellschaft zu machen?

Seit der Aufklärung bedeutet die Geschichte des Bestrebens, von der Religion loszukommen, eine lange Folge von Versuchen, sie durch dieses oder jenes zu ersetzen und dann hinter den jeweils gewählten Surrogaten – der Natur, der Kultur, der Gemeinschaft, der Werte etc. – dieselben alten Fragen wieder auftauchen zu sehen: welche ominösen Kräfte uns eigentlich miteinander verbinden und moralisch verpflichten. Erst Nietzsche, so hält Eagleton fest, sei wohl der erste echte Atheist gewesen, der den Tod Gottes konsequent bis hin auch zur Verabschiedung dieser Fragen gedacht habe, zur Verabschiedung jeder Vorstellung von letzter Wahrheit und Sicherheit, letztlich auch zur Verabschiedung des Menschen selbst.

Schon die großen Aufklärer wollten diese radikale Konsequenz jedoch nicht ziehen. Gewissermaßen aus Angst vor der eigenen Courage verzichteten sie bei aller Religionskritik darauf, die Religion endgültig abzuschaffen. Stattdessen kamen sie zu dem Schluss, die intellektuell doch eigentlich so anstößigen und widervernünftigen Autoritäten wie die traditionelle Religion sollte man als nützliche Kräfte zur Lenkung und Besserung des einfachen Volkes doch irgendwie erhalten. Diese Art und Weise, mit der religiös unmusikalische linksintellektuelle Eliten die Religion als einen unverzichtbaren Verbündeten im Kampf gegen allerlei Fehlentwicklungen in Dienst nehmen wollen, ist Eagleton ein Dorn im Auge – und dabei verweist er auch auf Zeitgenossen wie etwa Jürgen Habermas, die er süffisant in diese Traditionslinie stellt. Vom auf Seiten der politischen Rechten offen betriebenen politischen Missbrauch von Religion als Einheitsideologie ganz zu schweigen – das Abendland und die sogenannte christliche Leitkultur lassen grüßen.

Für sich genommen ist diese Kritik gewiss nicht unberechtigt. Die Vorstellung, man könnte die Religion um irgendeines mehr oder weniger guten Zwecks willen behalten, zugleich aber den der säkularen Vernunft so anstößigen Bezug auf eine höhere Wahrheit, die transzendenzbezogene Sperrigkeit der Religionen überhaupt loswerden, ist in der Tat befremdlich. Die Folge dessen erkennt Eagleton in der Omnipräsenz einer heute gesellschaftlich und für das individuelle Handeln folgenlosen Wohlfühlspiritualität, mit der das religiöse Bewusstsein stromlinienförmig in die Strukturen einer durchsäkularisierten, durchkapitalisierten Gesellschaft eingefügt wird – und auf der anderen Seite steht entsprechend der Missbrauch eines von dieser Moderne angewiderten religiösen Bewusstseins durch fundamentalistische Ideologien.

Der permanente Stachel im Fleische aber, mit dem gerade das Christentum uns selbstzufriedene Zeitgenossen, Beliebigkeit und kalte Optimierungslogik unserer kapitalistischen Gesellschaft unangenehm plagen könnte und, so Eagleton, auch sollte, scheint gezogen worden zu sein. Die im Bilde des Gekreuzigten symbolisch auf die Spitze getriebene, durch ihren Transzendenzbezug fortdauernde, dennoch auf die immanente Welt bezogene Provokation, sich den Armen und Entrechteten zuzuwenden – das bedeutet für Eagleton den fortdauernden Wert des Christentums, sozusagen ein franziskanisches Christentum. Von den Rationalitäten der westlichen Gesellschaft scheint das, sehr zu Eagletons Bedauern, weit entfernt. Aber auch von denen der großen Religionen in unserer Zeit. Es bleibt bei ihm daher auch offen, woraus vor allem das in Europa so erschöpft wirkende Christentum solche neuen Impulse entwickeln sollte – mit Papst Franziskus vielleicht, der allerdings bei Eagleton mit keinem Wort erwähnt wird?

Andererseits darf man sich fragen, ob Eagleton, wenn er von der Religion als einer unverzichtbaren Quelle von Idealen der Gemeinschaftlichkeit und Solidarität spricht, von den von ihm geschmähten Linksintellektuellen so weit entfernt ist, die sich im Trotz gegen allerlei Fehlentwicklungen des Spätkapitalismus wieder für die Religion erwärmen konnten. Und gibt es nicht so oder so auch radikal individualisierende Tendenzen in den Religionen, beispielsweise in der Mystik, die sich jeder Nützlichkeitserwartung für gemeinschaftliche Interessen verweigern? Eagleton scheinen derartige Zweifel fremd zu sein, jedenfalls tauchen ambivalent wirkende Kräfte der Religionen in seinen Darlegungen kaum auf. Dasselbe gilt übrigens auch für Ambivalenzen von Gemeinschafts- und Solidaritätsideen, die ja im Zeichen unserer angeblichen Kultur- und Kapitalismuskrise links wie rechts Konjunktur haben.

Mit allen diesen Fragen lässt Eagleton seine Leser durchaus ratlos zurück. Sollte tatsächlich nur ein erneuertes religiöses Bewusstsein, und zwar wahrheitsförmiger Art, in der Lage sein, die inhaltlich zunehmend sinnentleerte Dynamik des kapitalistischen Bedürfnisproduktions- und -befriedigungssystems samt seiner Folgeschäden auszuhebeln, scheint es wenig Grund zur Hoffnung zu geben. Gründe zur Hoffnung außerhalb der Religionen sind allerdings auch schwer auszumachen. Insofern ist nach der Eagleton-Lektüre eher mehr Skepsis geboten als zuvor, ob über den spirituellen und kulturellen Bankrott der westlichen Welt noch etwas hinausführen wird. Oder liegt er am Ende doch falsch mit seiner Gegenwartsdiagnose?

Titelbild

Terry Eagleton: Der Tod Gottes und die Krise der Kultur.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Strerath-Bolz.
Pattloch Verlag, München 2015.
288 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783629130761

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