Alles, was der Fall ist

In „Ein Mann, der fällt“ erzählt Ulrike Edschmid präzise und intensiv vom Leben nach einem Unglück

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Paar bekommt eine neue Wohnung. Beim Renovieren fällt der Mann von der Leiter. Im Krankenhaus stellt man fest: Contusio spinalis – Stauchung des Rückenmarks. Von einem Tag auf den anderen wird das Paar aus seinem gewohnten Alltag gerissen und betritt einen unbekannten Kontinent: das Leben mit einer schweren Behinderung.

Die Erzählerin in Ulrike Edschmids Ein Mann, der fällt beobachtet und begleitet ihren Mann bei seinen mühevollen, aber unbeirrbaren Versuchen, sich das Gehen wieder zu erobern. Er verweigert von vornherein den Rollstuhl, weist das Etikett „behindert“ zurück, er will wieder auf die Beine kommen. Unter größten Schwierigkeiten richtet er sich auf, schleppt sich mithilfe von Krücken dahin. Zieht sich Treppenstufen hoch. Bewältigt in der Wohnung, dann auf der Straße die ersten Strecken. Erleidet Rückschläge. Rutscht auf einem nassen Fliesenboden aus und steht wieder auf. Sie weiß: „Aber er wird wieder fallen. Und er wird wieder aufstehen. Meistens muss er um Hilfe bitten, manchmal, wenn er sich irgendwo festhalten und hochziehen kann, gelingt es ihm aus eigener Kraft. Er lernt zu fallen. Ein Mann, der fällt.“

Der Roman ist nüchtern geschrieben, streckenweise betont distanziert, pointiert bis zur Notiz: „Abends auf der Terrasse vor der Station. Am Himmel werden die Sterne sichtbar. Nie mehr, sagt er, wird er an einem warmen Sommerabend unter einem Himmel wie diesem mit mir gehen können, gehen und immer weiter gehen. Wir sind voneinander abgerückt. Ich lebe in der Welt der Gehenden, unendlich weit entfernt.“

Auch in dieser Knappheit hält der Roman einen sehr in Atem. Er gewinnt seine faszinierende Spannung aus dem Wechselspiel der kleinen Sehnsüchte, der winzigen Veränderungen, der leisen Enttäuschungen und der flüchtigen Triumphe. Der Unterstrom einer starken Emotion ist immer gegenwärtig. Spürbar ist stets: Dieser Roman ist erlebt, erlitten. Es ist die Geschichte von Ulrike Edschmid und ihrem Mann. Die Erzählerin berichtet von ihrer Arbeit mit Schriftstellerwitwen, die sie auch in die DDR führt. Daraus entstand dann ihr erstes Buch Diesseits des Schreibtischs. Lebensgeschichten von Frauen schreibender Männer. Vielleicht hat die autobiografische Nähe eine Distanzierung erfordert, um jede, aber auch wirklich jede Larmoyanz zu vermeiden. Der Mann bekommt nicht einmal einen Namen, bleibt immer nur „er“. Der Leser, ins Vertrauen gezogen, wird zugleich auf Abstand gehalten. Die Balance gelingt allein dank der sprachlichen Eleganz und des feinen Humors, der sich nach und nach zeigt.

Denn Ein Mann, der fällt ist auch ein Porträt des versinkenden West-Berlins. Der Unfall geschieht 1986, einer Zeit, als der Fall der Mauer noch völlig undenkbar war, die ersten Anzeichen einer Veränderung jedoch subkutan spürbar wurden. Das Paar ist anfangs noch vereinnahmt vom Schicksalsschlag und den Mühen, mit der neuen Situation zurechtzukommen. Doch allmählich öffnet sich der Blick auch wieder für die Nachbarschaft, den Kiez, die Stadt.

Das Paar leidet unter dem nächtlichen Lärm des spanischen Restaurants, lässt einen städtischen Lärmmesser kommen, dessen Arbeitszeit jedoch um vier Uhr nachmittags endet. Die nächtlichen Flamenco-Ekstasen im Restaurant kann er so nicht messen. Eine Roma-Familie bevölkert den Hinterhof, die Erzählerin freundet sich mit den Frauen ein wenig an, doch von einem Tag auf den anderen verschwindet die Familie wieder. Der serbische Kiosk-Verkäufer wird von einem deutschnationalen Kunden beleidigt und schlägt zurück. Für eine Weile trifft sich eine koreanische Glaubensgemeinde in einer Wohnung im vierten Stock. Am Sonntag singen die griechischen Nachbarn. Frauen einer iranischen Widerstandsgruppe arbeiten rund um die Uhr, dann sind auch sie wieder verschwunden. Aus solchen Bruchstücken und Episoden entsteht ein dichter Teppich jener Zeit, die Geschichte eines Berliner Wohnhauses über 20 Jahre hin: von den ruhigen 1980er-Jahren über die Turbulenzen der Jahre nach dem Mauerfall hinein in die aggressive Gegenwart von Russenmafia und Gentrifizierung.

Auch hier werden die Geschehnisse geradezu journalistisch gerafft: „Alles wird anders. Unser Haus ist verkauft, die Mieten steigen. Die Inhaberin des kleinen Ladens direkt neben der Eingangstür, der noch vor kurzem mit Mode für Vollschlanke dekoriert war, rollt die Kleiderständer hinaus und weint.“ Nach und nach ziehen alle alten Mieter aus, weil sie sich die Mieten nicht mehr leisten können. Die Wohnungen werden renoviert, verkauft, jedoch zieht niemand ein. Jetzt „herrscht im Haus eine nahezu unheimliche Lautlosigkeit. Aber es ist keine Stille, keine Ruhe, sondern die Abwesenheit von Leben.“

Dennoch geht das Leben weiter, Schritt für Schritt. Man setzt einen Fuß vor den anderen, man sieht die Verluste, macht aber weiter, was soll man auch sonst tun. Es ist ein Roman des Lebensmuts, der sich nicht unterkriegen lässt.

Vor allem aber ist Ein Mann, der fällt ein Liebesroman. Der Roman einer stillen, beharrlichen Liebe zweier Menschen, die nicht auseinanderfallen, sondern zusammenhalten. Auch wenn der Verlust schmerzt – und immer wieder schmerzen wird: „Das, was für uns beide an jenem Sommerabend des 27. Juli abhandengekommen ist, berühren wir nicht mit Worten. Es gibt keinen Ersatz. Es lässt sich durch nichts eintauschen. Miteinander tanzen ist etwas, das für immer verloren ist.“

Titelbild

Ulrike Edschmid: Ein Mann, der fällt. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
190 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783518425817

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