Skurrile Diktatoren und vergorene Kamelmilch

In „Sowjetistan“ reist die norwegische Journalistin Erika Fatland durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zentralasiatischen Länder sind uns im Westen so gut wie unbekannt, obgleich Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan zusammen ein Areal von über vier Millionen Quadratkilometern abdecken. Touristen verirren sich kaum hierher; Turkmenistan etwa ist verschlossener als Nordkorea. Der norwegischen Journalistin und Sozialanthropologin Erika Fatland ist es gelungen, diese Länder über acht Monate lang zu bereisen. Ihr Buch Sowjetistan, das 2015 mit dem norwegischen Buchhandelspreis ausgezeichnet wurde, ist weit mehr als ein Reisebericht.

Fatland hat auf ihren Reisen viele konkrete Einblicke in den heutigen Alltag dieser Länder bekommen, sie kennt sich gut in der vielfältigen Geschichte der Region aus und weiß diese Rückblicke auch plastisch und pointiert zu erzählen. Naturgemäß ist ihr Blick gelegentlich auch flüchtig und ihr Gespür für die einzelnen Länder abhängig vom Zufall der Begegnungen, von der Offenheit ihrer Gesprächspartner – und einer schonenden Reiseplanung. Sie hat die furchtbar kalten Winter ebenso gemieden wie die unerträglich heißen Sommermonate, sondern kam stets im Frühling und Herbst.

Obgleich sie Russisch spricht und oft von Dolmetschern und Reiseführern begleitet wurde, ist eine Verständigung mit den Einheimischen manchmal nicht möglich: In Tadschikistan besucht sie das Jaghnob-Tal, in dem die Einwohner ausschließlich Sogdisch sprechen.

Dies war die Sprache, mit der die zoroastrischen Priester vor zweitausend Jahren zu ihrem Feuergott gebetet und gesungen hatten; dies war die Sprache, mit der die Menschen Alexander den Großen angefleht, ihm gedroht und mit ihm verhandelt hatten […]; dies war die Sprache in der Händler entlang der Seidenstraße um Sklavenpreise gefeilscht hatten; ja, von der Türkei bis nach China war Sogdisch die lingua franca der Händler.

Jetzt sitzt Fatland im Frauenraum des Dorfes. „Weder die jungen noch die alten Frauen konnten ein Wort Russisch. Ich blieb sitzen, lächelte, nickte und hörte zu. Sobald ich meine Teeschale absetzte, wurde sie von einer der jungen Frauen wieder gefüllt.“

Sieht man von diesen Momenten der völligen Fremdheit ab, ist es erstaunlich, wie viel Erika Fatland erfahren hat und zu erzählen weiß. Sie ist neugierig, offen, gesprächig und höflich. Höflich genug, um in einem turkmenischen Dorf den Chal, einen Trank aus vergorener Kamelmilch, zu probieren. „Ich nahm noch einen Löffel, und noch einen. Es schmeckte nach Hefe und alter Milch, mit einer ranzigen, bitteren Note, ein Geschmack, der sich im Hals festsetzte und als saures Aufstoßen wieder hochkam.“ Die Balance zwischen diesen leichten, oft witzigen Reise-Anekdoten und den sachlich versierten geografischen wie historischen Erörterungen macht den Reiz des Buches aus.

Zentralasien war historisch immer ein umkämpftes Gebiet. Perser und Griechen, Mongolen, Araber und Türken gehörten zu den Invasoren, die die exponierte Lage zwischen Ost und West sowie den Reichtum der einstigen Handelsmetropolen entlang der Seidenstraße für sich nutzen wollten. Die Sowjets griffen tief in die traditionelle Lebensweise ein, indem sie die Nomadenvölker zur Sesshaftigkeit zwangen. Seit dem Ende der Sowjetunion haben die fünf Länder sehr unterschiedliche Entwicklungen genommen: Turkmenistan und Kasachstan wurden durch die Gewinnung von Öl und Gas reich, während Tadschikistan arm ist wie eine Kirchenmaus. In vielen tadschikischen Städten und Dörfern verfügen die Einwohner im Winter nur über wenige Stunden am Tag über Elektrizität. Die Regime in Turkmenistan und Usbekistan sind autoritär und korrupt, es gibt keine freie Presse, keine Opposition, der Präsident ist allmächtig und betreibt einen verblüffenden Personenkult. In Kirgisistan hingegen hat das Volk bereits zweimal die amtierenden Präsidenten gestürzt.

Das Kapitel über Turkmenistan wird dominiert von den beiden überaus skurrilen Präsidenten Nijasow, genannt Turkmenbaschi, und seinem Nachfolger Berdimuhamedow. Turkmenbaschi schuf seit den 1990er-Jahren eine eigene Realität: Hunde wurden verboten, weil er Hunde hasste; das Rauchen untersagt, als er Nichtraucher wurde; sein Buch Ruhnama wurde Lehrstoff an Schulen und Universitäten; die vergoldeten Statuen galten als heilig, selbst die Monate wurden nach ihm und seiner Familie benannt.

Nach seinem Tod übernahm sein Zahnarzt die Regierungsgeschäfte. Berdimuhamedow dimmte den Personenkult anfangs herunter, doch mittlerweile ist sein Konterfei ebenfalls allgegenwärtig und sein Wort alleiniges Gesetz. Das Land, eigentlich reich wegen großer Ölvorkommen, wird rigoros ausgebeutet, die Bevölkerung in Angst gehalten, abgespeist mit kostenlosem Strom, Gas, Wasser und Salz. Die Straßen der Hauptstadt Aschgabat, von prachtvollen Gebäuden aus weißem Marmor gesäumt und üppig illuminiert, sind so gut wie menschenleer.

Kasachstan, noch reicher als Turkmenistan, war zu Sowjetzeiten den Russen fast völlig ausgeliefert. 1989 lebten sechs Millionen Russen im Land, auch heute noch ist die wirtschaftliche und politische Verbindung überaus eng. Nasbajews Führungsstil ähnelt dem eines aufgeklärten Absolutisten. Großmütig hat er versprochen, dass Kasachstan im Jahr 2050 eine voll entwickelte Demokratie sein wird. Bis dahin ist das Parlament schmückendes Beiwerk. Pressefreiheit, Bürgerrechte und demokratische Institutionen sind noch kaum entwickelt.

Fatland besucht die Stadt Kutschatow, in dessen Umgebung die Sowjetunion den Großteil ihrer atomaren Probeexplosionen durchführte, insgesamt 456. Einst Administrationszentrum der Kernwaffenversuche, heute eine Geisterstadt: „Die Herberge war umgeben von düsteren, grauen Betonblöcken. Jeder zweite Wohnblock stand leer, mit zerbrochenen Fensterscheiben und gähnenden Löchern in den Wänden. In den Treppenhäusern hatten sich verwilderte Hunde eingenistet.“ Fatland erzählt die Geschichte der sowjetischen Forscher um Andrei Sacharow und erforscht das Schicksal der kasachischen Bevölkerung, die heute noch unter den Folgen des ständigen atomaren Niederschlags leidet.

Im Kapitel über Kirgisistan beschreibt Erika Fatland auf eindrückliche Weise den immer noch lebendigen kriminellen Brauch der Entführung junger Frauen, um sie in eine Ehe zu zwingen. Ein Drittel aller Ehen, in ländlichen Gemeinden sogar die Hälfte, sollen durch „Brautraub“ zustande kommen: „Das heißt, elftausendachthundert junge Frauen pro Jahr. Zweiunddreißig am Tag. Alle vierzig Minuten. Und über neunzig Prozent der Frauen bleiben bei ihrem Kidnapper.“ Die konkreten Umstände beschreibt die Autorin am Beispiel von drei Frauen, die zum Opfer von Brautraub und Zwangsheirat wurden, und sie betont, dass der Brauch in Kirgisistan keineswegs archaischer Natur sei, sondern während der Kollektivierung in der Sowjetzeit (um 1930) entstanden ist. Während der Sowjetzeit streng geahndet, ist er nach dem Zusammenbruch der UdSSR leider wieder üblich geworden.

Nach 25 Jahren der Selbständigkeit, so Fatlands Fazit am Ende der Reise, stehen die fünf Länder an einem Kreuzweg: „Sollen sie sich Russland oder China annähern oder doch gen Westen schauen? Welchen Interpretationen der eigenen Geschichte können sie vertrauen?“ In den 70 Jahren der sowjetischen Herrschaft traten die zentralasiatischen Länder vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert, es war ein gewaltiger Sprung:

Ein ganzes Binnenmeer verschwand, Nomaden wurden gezwungen, ihren Herden aufzugeben und in Kolchosen zu leben, über eine Million Menschen starben an Hunger. […] Arabische Buchstaben wurden gegen kyrillische ausgetauscht, aber dafür lernten auch alle lesen, auch die Mädchen. Straßen, Bibliotheken, Opernhäuser, Universitäten, Krankenhäuser und Sanatorien wurden gebaut. Landesgrenzen wurden festgelegt und Außengrenzen mit Stacheldrahtzäumen versiegelt.

Und doch hat, so Fatland, Zentralasien seine Besonderheit bis heute erhalten können. „Gastfreundlichkeit, die Faszination für Teppiche, die alte Marktkultur, die Liebe zu Pferden und Kamelen: All dies hat bis in unsere Tage überlebt und lässt eine Reise in diese Region unvergesslich werden.“

Die Mischung aus detailliertem Reisebericht und politischer Reportage ist gelungen. Die Schauplätze und Themen wechseln rasch, und dennoch entsteht aus all den Begegnungen, Erzählungen, historischen Analysen, Erlebnissen, Porträts und Landschaftsbildern ein klares Bild der heutigen Situation dieser fünf Länder. Eine kleine Galerie von Fotografien der Autorin illustriert ihre Geschichten. Wer auf fremde, kaum bereiste Gegenden dieser Welt neugierig ist, wird dieses Buch mit Gewinn lesen.

Titelbild

Erika Fatland: Sowjetistan. Eine Reise durch Turkmenistan, Kasachstan, Tadschikistan, Kirgisistan und Usbekistan.
Mit Fotografien der Autorin.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
511 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783518467626

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