Der „Übervater“ der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts?

Im malerischen Werk Edouard Manets werden viele neue Facetten ausgeleuchtet

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Von der Heydt Museum in Wuppertal hat seine anfangs gar nicht beabsichtigte Serie der Impressionisten – sie begann mit der Schule von Barbizon und führte über Auguste Renoir, Claude Monet, Alfred Sisley, Camille Pissarro, Pierre Bonnard, Jean Gigoux, Auguste Rodin zu Edgar Degas – nun mit Edouard Manet beendet, „un peintre de la vie moderne“, wie ihn Charles Baudelaire bezeichnete, einem bürgerlichen Maler, der dennoch das Bürgertum ständig provozierte, einem Impressionisten, der keiner sein wollte (Ausstellung bis 25. Februar 2018). Es gibt nur 450 Bilder von Manet, der schon mit 51 Jahren gestorben ist. Und „nur“ 40 Gemälde – also gerade mal 10 Prozent seines malerischen Werkes – sind in dem ehrgeizigen Wuppertaler Projekt zusammen gekommen. Hauptwerke wie Olympia, Frühstück im Freien oder auch Die Bar in den Folies Bergère fehlen. Ihr fragiler Zustand lässt einen Transport nicht zu, zudem sind sie besonderer Anziehungspunkt für die Besucher des Musée d’Orsay in Paris oder der Courtauld Gallery in London und werden deshalb nicht verliehen. Dennoch kann man von einer repräsentativen Ausstellung sprechen, die viele unbekannte Facetten im Werk Manets ausleuchtet: Manet – der Anti-Monarchist, der Demokrat, der Porträtist, Manet und die „Spanienmode“, Manet und die Fotografie, der Maler von Landschaften – von Seestücken –, von Stillleben. Doch im Wesentlichen war und bleibt er ein exzellenter Figurenmaler.

Regelmäßig reichte Manet seine Werke bei den jährlich stattfindenden Salon-Ausstellungen ein, nur um dort immer wieder abgewiesen zu werden, beteiligte sich aber an keiner der acht Impressionisten-Ausstellungen, obwohl er mit Monet, Degas und Renoir eng befreundet war. „Der Salon ist der Kampfplatz“, sagte er – und nur hier wollte er ausstellen.

Seine Bilder erzählen von den gesellschaftlichen Ereignissen des 19. Jahrhunderts. Der Künstler malte zwar in den 1870er Jahren auch „en plein air“, aber lieber war er der Maler-Flaneur, der tagsüber, aber auch nachts durch Paris streifte und erst im Atelier die Synthese aus der Fülle der visuellen Eindrücke zog: während der Promenadenkonzerte im Tuileriengarten, beim Maskenball in der Oper, auf der Pferderennbahn in Longchamp, vom Bahnhof Saint-Lazare oder in seinen großen Paris-Panoramen. Hier gelangte er zu außergewöhnlichen Bildfindungen. Aber der Flaneur Manet wurde auch zum Beobachter psychologisch aufgeladener intimer Beziehungen wie Die Krocketpartie (1873).

Viele Bilder wurden durch klassische Werke und altbekannte Themen angeregt (Raffael, Tizian, Peter Paul Rubens, Diego Velasquez, Francisco de Goya und andere), aber sie sind keine Pasticcios oder Nachahmungen, sondern originäre Schöpfungen. Mythologische und historische Figuren hat Manet durch zeitgenössisches Personal ausgetauscht – etwa Olympia (1863), die nur als Reproduktion gezeigt werden kann. Für sie steht stellvertretend eine Radierung: Sie ist eine Kurtisane wie aus einem Buch von Alexandre Dumas, keineswegs eine Göttin. Obwohl nackt, lebt sie in der gleichen Welt der Menschen mit Frack und Zylinder, die sich auf den Pariser Boulevards ergehen. Auf einem Divan ruhend, blickt sie den Betrachter direkt an, auch der Blumenstrauß, den eine dunkelhäutige Bedienstete ihr überreicht, nimmt die Beziehung zum Betrachter auf, „der durch ihn zum imaginären Freier wird und Olympia gerade seine Offerte macht“ (Marion Agthe). Mit realistischer Freizügigkeit hat Manet Figuren, Gegenstände und Wirklichkeitsausschnitte so arrangiert, dass sie sich uns, den Betrachtern seiner Bilder, geradezu anbieten.

Im Frühstück im Atelier (1868) – auch nur in einer Reproduktion zu sehen – nimmt das Stillleben erstaunlich viel Platz ein, in das drei Figuren – als Brustbild in Seitenansicht, als Kniestück und als Ganzfigur – eingefügt sind. Der Maler hat seine Menschen im „Lebenden Bild“ stilllebenhaft, wie die toten, reglosen Dinge, eingefroren. Wie das stilllebenartige Arrangement zusammenhanglos erscheint, haben auch die Figuren keinerlei Beziehungen zueinander. Ein undurchdringliches Schweigen, ein Verstummtsein liegt über ihnen. Wenn es sich bei dem nachdenklich blickenden jungen Mann im Vordergrund um den vor der Heirat mit Suzanne Leenhoff geborenen Sohn Léon handeln soll, zu dem sich Manet nie bekannt hat, ist hier auch ein Familienthema angeschlagen: Léon löst sich von der Familie und wird seine eigenen Wege gehen.

Der Balkon (1868/69) – drei Figuren sind herausgetreten aus der nur spärlich beleuchteten Wohnung im Hintergrund ins Offene, sie blicken in verschiedene Richtungen. Aber nur die eine, Berthe Morisot – die Malfreundin, mit den sprechenden Augen, dem schön geschnittenen Gesicht, ihrer Auftrittskultur, scheint den Betrachter wirklich zu fesseln. Manet hat sie hart an das kaltgrüne Eisengeländer gerückt, auf dem ihr rechter Arm und die Hände mit dem zusammengefalteten Fächer ruhen. Ernst, versonnen blickt sie in eine Ferne. Der Maler betrachtet sie hier in einer achtungsvollen Distanz.

Immer wieder hat Manet Berthe Morisot gemalt, 14 Porträts von ihr im Verlauf von sechs Jahren geschaffen, in der einzelne – immer wieder andere – Charakterzüge hervortreten. Ob verschleiert (1872), wobei der Blick unbestimmt bleibt, ob den Fächer auffaltend (1874), so dass er als Zeichen eines Abschieds als Modell gedeutet werden kann (sie wurde ja dann die Frau seines Bruders), wird hier ein vielfältiges Beziehungsgefüge zwischen Künstlerin und Künstler sichtbar. Wunderbar das so sprechende, ausdrucksstarke Porträt der liegenden Berthe Morisot (1873), das aus dem dunklen Hintergrund heraustritt.

Das Verwunderung auslösende Bild Nana (1877) der Hamburger Kunsthalle – es kann nur im Katalog abgebildet werden – zeigt eine helle, zum Betrachter blickende, ihre Schminkprozedur gerade beendende junge Person in Korsage und Unterrock. Sie bereitet einen Aufbruch in die Öffentlichkeit vor, keinen schwülen Séparée-Abend. Der ihr zuschauende Galan am rechten Bildrand – er wirkt wie ein „Angeschnittener“ – ist nur eine Assistenzfigur, die überhaupt nicht den Gedanken einer Verführung aufkommen lässt. Es ist nicht der Blick einer Frau, die sich bei ihrer Toilette überrascht fühlt, sondern sie stellt sich selbstbewusst – den Betrachter frei anblickend – zur Schau, und zwar in dreifacher Weise: dem Betrachter des Bildes, dem „angeschnittenen“ Herrn und im Spiegel.

Mit der Fotografie teilt die Malerei Manets die Fähigkeit, die Mimik und Gestik einer Person momenthaft zu erfassen. Wie zufällig fällt der Blick des Flaneurs Manet in dem Bild Beim Père Lathuille (1879) auf die aufdringlichen Annäherungsversuche eines bohèmehaften Galans an eine elegante Dame, die dem Flirt keineswegs zugeneigt zu sein scheint. Er hat den Arm bereits auf die Rückenlehne ihres Stuhls gelegt, schaut sie mit frechen Augen an, während sie ihm distanziert gegenüber sitzt. Im Hintergrund wartet schon der Kellner mit einem Getränk, das sie bestellt hat.

Bei dem Bild Die Zitrone (1880) – die Zitrone ruht vor dunklem Hintergrund auf einem Zinnteller – hat der Betrachter keine Möglichkeit, Teil des Bildes zu werden. Manet geht es auch nicht um eine genaue Darstellungsweise: Komposition, Farbgebung und Farbauftrag sind ihm wichtiger als der Inhalt des Bildes oder die Bedeutung des Gegenstandes. Deshalb wählt er einfache Dinge, eine Zitrone, eine Melone, einen toten Hasen oder eine Distel, um nicht durch das Interesse am Gegenstand von der Malerei abzulenken. Wie aus dem Nichts lässt Manet in dem kleinformatigen Stillleben mit Spargel von 1880 den Spargel aus einem bräunlich diffusen Hintergrund auftauchen. Formen und Farben lösen sich vom Bildgegenstand und gehen eine freie kompositorische Beziehung ein. Manets Malerei – so schreibt Bettina Paust im Katalog – führe zu immer dichteren Verflechtungen von kleinen Farbflächen, zu einem reinen Farbgewebe, in dem alle Gegenstände zu einer unauflösbaren Einheit zusammenklingen. Aber auch hier steht nicht mehr der Gegenstand im Mittelpunkt seines Interesses, sondern die primäre Seherfahrung.  

Manet war ein Gegner der Monarchie und ein Befürworter der Republik und demokratischer Strukturen. Auf einem ausgestellten Briefbogen von 1880 hat er die Tricolore gezeichnet und die Worte „Vive la République!“ geschrieben. Er schuf allein vier Fassungen des Gemäldes Die Erschießung des Kaisers Maximilian von Mexiko und fertigte auch eine Lithografie an (1868). Zwar enthält er sich einer eindeutigen Parteinahme, aber dass er dieses verbotene Thema, das zu einem der größten politischen Desaster des Kaiserreichs führte, überhaupt aufgriff, kann man schon als Ausdruck einer republikanischen Opposition deuten. Die Explosion (1871) wiederum erinnert an den mit unendlicher Grausamkeit geführten Krieg der bürgerlichen Regierungstruppen mit den Communarden.

Das letzte großformatige Bild ist Die Bar in den Folies Bergère, danach bestimmen die Stillleben und Landschaften in kleineren Formaten seine letzte Lebenszeit. Die Ansicht des Hauses in Rueil, das er 1882 als Erholungsort gemietet hatte, fangen die Sonnenstrahlen und das Glück eines letzten Sommers auf seine ganz eigene Weise ein.

Der Katalog ist Begleitbuch und Kommentar zur Ausstellung, bringt aber auch neue Forschungsergebnisse zur Stellung Manets in der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts und zu seiner Werkwelt ein. Gerhard Finckh, Kurator der Ausstellung und zugleich Herausgeber des Kataloges, umreißt das Anliegen der Ausstellung. In dem Gruppenbild Henri Fatin-Latours „Un Atelier aux Batignolles“ (1870) sieht man Manet an der Staffelei sitzen, umgeben von seinen Freunden Renoir, Zacharie Astruc, Émile Zola, Maitre, Frédéric Bazille, Monet und dem deutschen Maler Otto Scholderer. In dieser vorrangigen Stellung als Künstler, Bürger, Patriot und Republikaner, als Parteigänger für die Demokratie und gegen die Monarchie und den Imperialismus Napoleons III, soll Manet gezeigt werden, als Vorkämpfer für eine neue Kunst und eine andere Sichtweise auf die Welt, als Meister mehrfiguriger Bildfindungen, als ungewöhnlicher Porträtist. Er verkörpert einen neuen Typus des Künstlers, den des Flaneurs in den Wundern der modernen Großstadt, und fand aus dieser Haltung heraus neue Motive und neue Wege zu ihrer Gestaltung.  

Stefan Lüdemann widmet sich Manets Strategien der inszenierten Visualität. Er zeigt, wie Manet es versteht, den Pariser Salon zur Bühne seiner Kunst zu machen, denn dieser nimmt die Präsentationsweise seiner Kunst in die eigene Regie, sucht die Bedingungen von Sehen und Sichtbarkeit selbst zu gestalten. „Ob die gemalte Spargelstange, der tote Torero oder der Kaiser Maximilian im Augenblick seiner Erschießung – Manets Bildsujets brennen sich so nachhaltig in das Gedächtnis ein, weil der Künstler sie im Licht völlig neuer und damit unerhörter Tatsachen zu zeigen versteht“.

Für Stéphane Guégan ist Manet der große Lehrmeister, der aus den Quellen, die er für seine Malerei nutzte, auf fast schon ironisch zu nennende Weise eine ganz eigene Bildsprache entwickele. Das Publikum zu erreichen, war ihm wichtig, auch wenn die III. Republik ihm, bis zum radikalen Wendepunkt 1879, Anerkennung verweigerte. Danach war er von seiner Krankheit schon so stark geschwächt, dass er nur noch an Blumenbouquets und Gartenbildern arbeiten konnte.

Ina Gonzen geht der Art und Weise nach, wie Manet sein weibliches Bildpersonal inszenierte und wie sich diese Inszenierung im Verlauf seines Schaffens zunehmend auf die Darstellung der zeitgenössischen Pariserin („Parisienne“) konzentrierte. Der Flaneur Manet erhebt die Frauen zu ebenbürtigen weiblichen Gegenspielerinnen, zu eleganten und selbstbewussten „Flaneuses“, die mit wachem Blick der (männlichen) Beobachtung begegnen.

Denn wir sollen seine weiblichen Charaktere primär als Repräsentantinnen bestimmter zeitgenössischer Umstände, einer gesellschaftlichen Stellung, einer freizügigen großstädtischen Lebensweise rezipieren – und dabei, besonders bei den späten Pastellen, ganz besonders die duftig-delikate Malerei genießen, die mit der Aura weiblicher Schönheit geradezu haptisch verschmilzt.

Ulrich Pohlmann weiß zu berichten, dass Manet bei seinen Porträtgemälden, wie dem des befreundeten Journalisten Georges Clemenceau (1879/80), häufig auf Fotografien zurückgriff. Für das berühmte Gemälde Die Erschießung Kaiser Maximilians (1868) dienten ihm die Aufnahmen von Francois Aubert, des Hoffotografen Maximilians, als Vorlage, auch die des Exekutionskommandos und der von Einschüssen gezeichneten Kleidungsstücke Maximilians. Sie ermöglichten Manet einen dokumentarisch-authentischen Zugang zu diesem historischen Ereignis. Auch für Olympia und Frühstück im Grünen werden fotografische Vorlagen vermutet. Der Autor weist auf formale Ähnlichkeiten zwischen Werken Manets und des experimentierfreudigen Fotografen Félix Nadar hin. Die Fähigkeit der Fotografie, die Mimik und Gestik einer Person im Bruchteil einer Sekunde zu erfassen, hat Manet ebenso interessiert wie die spezifische Qualität der Fotografie, alles gleichrangig, „demokratisch“ abzubilden. Manet agierte als „lebende Kamera“, um die Bewegungen der sichtbaren Welt mit nie nachlassender Intensität einzufangen.

Der „außergewöhnlichen Begegnung“ zwischen Manet und dem Dichter und Kunstkritiker Charles Baudelaire widmet sich Karin Westerwelle. Mit Baudelaire traf Manet auf einen Autor, der „die antagonistische Dynamik von malerischer Innovation und gesellschaftspolitischer Abwehr der neuen Bildformen“ scharfsinnig analysierte und damit zugleich den eigenen Widerstand gegen die Mechanismen der Ausgrenzung formulierte. Manet wiederum hat 1863 in seinem Gemälde La Musique au Jardin des Tuileries neben sich auch Baudelaire als Mann von Welt dargestellt, wobei er dessen Gesicht als „Spiegelbild der Seele“ in besonderer Weise gestaltete.

Bettina Paust stellt dar, wie Manet traditionelle Bildmotive – Pferderennen, Ausritte in den öffentlichen Parks oder andere beliebte Großstadtvergnügen sowie das Tierstillleben – neu interpretiert, während Marion Agthe seinen „stillen Bildern“, auch den Stilllebenzitaten in dessen figuralen Werken wie in Olympia, Frühstück im Freien oder Eine Bar in den Folies Bergère nachspürt. An der Opalküste im Nordwesten Frankreichs, in Boulogne-sur-Mer, wo seine Familie seit 1864 regelmäßig die Sommerurlaube verbrachte, hat Manet viele Motive für seine Bilder gefunden. In der herben, lichtdurchfluteten Landschaft der Opalküste entstanden Künstlerkolonien, über die Annie Scottez-De Wambrechies berichtet. Mit kurzen einführenden Texten und den entsprechenden Bildern werden daran anschließend die einzelnen Räume der Ausstellung vorgestellt.

Manet, der Künstler der Moderne, der Bürger mit Zivilcourage, der Politiker – so lernen wir ihn in dieser beeindruckenden Ausstellung sowie in dem Katalog kennen, der das Gesamtwerk Manets reflektiert.

Titelbild

Gerhard Finckh (Hg.): Edouard Manet.
Von der Heyd-Museum, Wuppertal 2017.
312 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783892020981

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