Wissen, nicht denken

Sabine Flach sucht nach der Aufwertung der Künste gegenüber den Wissenschaften

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die radikale Veränderung der Position der Kunst im kulturellen Geflecht der vor allem europäischen Industriegesellschaften nach 1900 ist immer wieder Thema. Kunst wird dabei zumeist als widersprüchliche Ver- und Bearbeitung der Zustände, Dynamiken und Konstituenten der Industriegesellschaften verstanden. Sie arbeitet sich an der angemessenen Verarbeitung von Modernisierung insgesamt ab und setzt sie zugleich einer radikalen Kritik aus. Modernekritik und Moderneapologie stehen dabei zumeist nicht im Gleichgewicht. Zumindest in den ‚E-Künsten‘ steht die Kritik der „Herrschaft der Mechanisierung“ (Walther Rathenau) im Vordergrund, während die ‚Trivialkünste‘ schon eher dazu neigen, sich mit dem, was auf ihre Protagonisten einstürmt, irgendwie zu arrangieren und die Vorteile, die die Auflösung jeglicher gesellschaftlicher Konventionen und Institutionen (Marx/Engels) mit sich bringen, überhaupt erst einmal wahrzunehmen versuchten. Die These, dass die Avantgarden, die die radikalste Bearbeitung des Verhältnisses von Kunst und Lebenswelt unternahmen, die Trennlinie zwischen der (vormaligen Feiertags-)Kunst und der Lebenswelt aufzulösen versuchten (Peter Bürger), verweist darauf, dass das Selbstverständnis von Kunst sich deutlich verändert hatte.

Zugleich verschärft sich die Konkurrenz der Kunst mit Wissenschaft und – wie hinzuzufügen ist – Technik über die Deutungshoheit der Moderne: Mit der Konstitution der modernen Natur- und Sozialwissenschaften einerseits und der Durchsetzung der Ingenieurswissenschaften als anwendungsorientierte Fächer geriet die Kunst in dem Moment, in dem sie der Moderne ebenbürtig zu sein schien, in eine massive Defensive. Sie verlor die Deutungshoheit, die ihr der Geniekult noch zugestanden hatte und die in den antimodernen Bewegungen von Heimatkunst über Neo-Romantik bis zum George-Kreis zurückgeklagt werden sollte. Man reagierte darauf mit intensiven Anstrengungen, die ihr das verloren gegangene Terrain zurückgewinnen sollten.

An dieser Schnittstelle der Entwicklung der modernen Kunst in der Gegenwartsgesellschaft setzt die Studie Die WissensKünste der Avantgarden. Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930 von Sabine Flach ein, die sich entschieden dem Vorrang der künstlerischen Episteme verschreibt. Als Kernoperation versteht Flach die Abstraktion, die in der Kunst der Avantgarden die gegenständliche Kunst noch der Jahrhundertwende ablöst und die für sie der Missing Link zwischen Kunst und Wissenschaft darstellt. Diese Abstraktionsverfahren werden in den Paratexten der vor allem bildenden Künstler entwickelt und intensiv beworben. Ihre Anwendung beschreibt Flach mit einem den Naturwissenschaften entlehnten Vokabular. Die Verfahren werden als wissenschaftlich ausgezeichnet, das Experiment als geregelte Versuchsanordnung wird ins Zentrum der essayistischen Bemühungen der avantgardistischen Künstler gestellt. Damit verbunden ist jedoch eine weitgehend Absage an rationale Verfahren und Beschreibungen. Als (verdeckte) Erben des Geniekults unternehmen die Künstler nichts weniger als den Versuch, nicht-rationale Verfahren aufzuwerten und ihnen den Vorrang vor rationalen, mithin kodifizierten wissenschaftlichen Verfahren einzuräumen. Zugleich versuchen sie damit zu den Wissenschaften und deren Deutungshoheit aufzuschließen. Die Bedeutung von aus heutiger Sicht esoterischen oder okkultistischen Überlegungen und Denkkonzepten in den Avantgarden nach 1900 ist kaum hoch genug einzuschätzen. Dass dem so ist, liegt nicht zuletzt daran, dass mit der Durchsetzung der modernen Massen- und Industriegesellschaften und der Etablierung der modernen Wissenschaften Denkkonzepte völlig neu entworfen, diskutiert und geprüft wurden, ohne dass dabei von vorneherein Grenzen gesetzt wurden.

Ob freilich das Ergebnis dieser Suchbewegungen nach 1900 darin besteht, dass der Künstler der eigentliche Wissenschaftler ist, da er Verfahren entwickelt hat, die überhaupt erst einmal von den konventionellen Wissenschaften erarbeitet und akzeptiert werden müssten, wird man mit Fug und Recht bestreiten können. Man wird auch diese Studie Sabine Flachs kaum zur Bestätigung dieser These heranziehen können. Und zwar aus methodischen Gründen: Die Studie leidet im Grundsatz darunter, dass die These nicht hinreichend aus einer Fragestellung oder Problematik abgeleitet ist. Hinzu kommt, dass Flach ihre Generalthese (Vorrang der Kunst als epistemisches Verfahren) in Thesenkaskaden auflöst, stets mit der Bemerkung versehen, dass die Studie sich dem Beleg der jeweils neuerlichen These widmen werde.

Die aus dem überaus vielfältigen Material herausgestellten Belege werden allerdings nicht diskutiert und hinterfragt, sondern mehr oder weniger unkritisch verwendet. Was Flach als Beleg dienen kann, wird verwendet, was wohl kaum als wissenschaftliche Argumentation und Diskussion angesehen werden kann.

Schließlich leidet die Studie an einer massiven stilistischen Überfrachtung, die zudem immer wieder zu Sätzen führt, deren Inhalt kaum zu bestimmen oder von hoffnungsloser Banalität ist, wie an zwei Beispielen gezeigt werden soll: „Abstraktion ist genau jener ‚missing link‘, der als analytisches Verfahren, als zwischen distinkten Diskursfeldern synthetisierend[e?] Moderation, als praktische Umsetzung in künstlerischen und wissenschaftlichen Produktionen explizit neues Wissen hervorbringt, und zwar konkret durch Abstraktion.“ Oder: „Reinheit steht gleichermaßen gegen eine Trübung oder Verdunklung in der Kunst“. Erkenntnis ist aus solchen Sätzen kaum zu gewinnen, es sei denn, sie wäre trivial: Abstraktion kann neues Wissen hervorbringen – einverstanden. Und was nicht schmutzig ist, kann sauber genannt werden. Die Karriere des Abstrakten in der modernen Kunst wird zumindest durch diese Studie also weder beschrieben noch erklärt, wie auch die Karriere der Avantgarden und des Abstrakten im Kunstbetrieb weiterer theoretische Bemühungen bedürfte.

Titelbild

Sabine Flach: Die WissensKünste der Avantgarden. Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915-1930.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
349 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783837635645

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