Die Autobiografie-Falle

In seinem ersten Roman nach elf Jahren verarbeitet Jonathan Safran-Foer das Ende seiner Ehe – auch, wenn er es selbst nicht zugeben will

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Erscheinen seines zweiten Romans Extrem laut und unglaublich nah hatte ich im Jahr 2005 die Gelegenheit, ein längeres Telefonat mit Jonathan Safran Foer zu führen. Erstaunlich daran war die scheinbare Lockerheit, mit welcher der mit seinem Debütroman Alles ist erleuchtet zum Literaturstar aufgestiegene New Yorker Schriftsteller das Interview anging. Mir wurde vom Verlag einfach seine Privatnummer geschickt mit der Bitte, ihn zu einer bestimmten Uhrzeit anzurufen.

Foer war ein sehr bedächtiger, lockerer, etwas schüchtern wirkender Gesprächspartner, der am Ende des Telefonats, scheinbar unvermittelt, eine interessante Geschichte erzählte: Er habe ein außergewöhnliches Hobby, das er sich natürlich nur erlauben könne, weil er mittlerweile eine berühmte Persönlichkeit innerhalb der Literaturszene geworden sei. Und zwar schreibe er Schriftsteller an und bitte sie um die „nächste Seite“ eines gerade entstehenden Textes. Die nächste Seite? Ja, das leere Blatt, das als nächstes in die Schreibmaschine gespannt oder mit dem Stift vollgeschrieben werde. Diese leeren Seiten sammle er, er nannte auf Nachfrage auch ein paar Namen von prominenten Autoren, die seiner Bitte bereits nachgekommen seien.

Im ersten Moment fand ich Foers Hobby faszinierend. Allerdings wurde mir recht bald bewusst, dass Foer mir genau das erzählt hat, worüber eine Figur in einem seiner Romane auch berichten würde. Die Anekdote war, so kam es mir im Nachhinein vor, ebenso stilisiert wie das ganze Gespräch. Foer wollte wie eine Figur aus seinen Romanen wirken, die wiederum stark an die Figuren seines väterlichen Freundes Paul Auster erinnern.

Das zweite Handy

Auch in seinem neuen, fast 700 Seiten dicken Roman Hier bin ich lässt sich einerseits über die fehlende Distanz zwischen Autor und Protagonist reichlich spekulieren, andererseits aber wirkt vieles in diesem Buch so außerordentlich konstruiert, dass man es dem Autor ein ums andere Mal um die Ohren schlagen will. Zugegeben: Selten hat mich ein Roman so ratlos gemacht wie dieser. Denn im Grunde geht es ja hauptsächlich um etwas zugleich Banales wie Absolutes wie das Ende einer Ehe. Gleichzeitig aber ist Hier bin ich eine Reflexion über das Leben amerikanischer Juden im 21. Jahrhundert und ihr problematisches Verhältnis zur religiösen Tradition sowie zum Staat Israel.

Nun verbinden sich auch in Foers beiden Vorgängerromanen diese universellen Fragestellungen mit dem Intimen, Privaten: In Alles ist erleuchtet geht es um das schwere Erbe des Holocaust und um die osteuropäischen Wurzeln, denen sich amerikanische Juden oft gar nicht mehr bewusst sind. Extrem laut und unglaublich nah handelt vom 11. September 2001 und den Folgen für einen kleinen Jungen, der bei den Anschlägen seinen Vater verloren hat. Hier bin ich dreht sich nun um die Ehe von Jacob und Julia – er Drehbuchschreiber für eine Sitcom, sie Möchtegern-Architektin, die sich aber vornehmlich um die drei Söhne kümmert.

Eines Tages findet Julia ein geheimes Zweithandy ihres Mannes, auf dem ein SMS-Verkehr mit einer Kollegin zu bestaunen ist, in dem der biedere Jacob Worte wie „Ich will mein Sperma aus deinem Arsch lecken“ geschrieben hat – der Satz muss übrigens leider genau so wiedergegeben werden, weil er sich zum Running Gag des Romans entwickelt. Julia ist außer sich, weniger wegen des obszönen Gedankenaustausches, sondern vielmehr aufgrund der Tatsache, dass Jacob sogar zu feige sei, eine ‚richtige‘ Affäre zu haben und sich stattdessen auf schmutzige SMS beschränke. Die Ehe ist nicht mehr zu retten und der Roman ist das Dokument dieser letzten Wochen und Monate vor der endgültigen Trennung.

Die Dialoge zwischen Jacob und Julia, diese unerträgliche Spannung, die dem Leser hier schmerzhaft nähergebracht wird, gehört zum Besten, was in den letzten Jahren geschrieben wurde. Wenn am Ende des Romans ein unverfilmtes Treatment Jacobs auftaucht, dem er den Titel Die Bibel gegeben hat und in dem die Stationen seiner Ehe – all die kleinen und große Momente, an die man sich Zeit eines Lebens erinnern wird – sowie eine dunkle, melancholische Zukunftsvision gezeichnet werden, kann der Leser gar nicht anders als in Tränen ausbrechen ob der tieftraurigen Zärtlichkeit, mit welcher der Verlauf eines durchschnittlichen Familienlebens gezeichnet wird. Dieser sicherlich zentrale Aspekt des Romans ist literarisch überwältigend und hochgradig emotional. Leider besteht Hier bin ich aber noch aus anderen Handlungssträngen.

Extrem dystopisch und unglaublich überfüllt

Erzählt wird nämlich auch noch die Familiengeschichte Jacobs: Von seinem uralten Großvater Isaac, der nur noch lebt, um die Bar Mitzwa seines Urenkels Sam zu erleben. Von seinem Vater Irv, einem rechtsgerichteten Wutbürger, der aber natürlich trotzdem liebenswert ist. Und von seinen drei Söhnen, die ständig Sätze sagen und Dinge tun, die Kinder ihres Alters in der Regel nicht sagen oder tun. Vor allem der jüngste Sohn Benji wärmt jedes Hollywood-Klischee eines altklugen Jungen auf, dem man am liebsten schon im Alter von fünf Jahren eine Psychotherapie empfehlen würde (zu der er von seinen Eltern auch sicherlich bereits angemeldet worden ist).

Was an dem Roman aber wirklich ärgerlich ist, ist sein dystopisches Moment, das sicherlich im Rahmen der gesamten Erzählung einen allegorischen Sinn ergeben mag, aber ganz konkret auf der Handlungsebene ein misslungener, weil völlig artifiziell wirkender Kunstgriff ist: Ein  Erdbeben erschüttert den Nahen Osten und Israels Gegner wittern die Gelegenheit, den verhassten Staat endlich zu zerstören. Israel wirbt um amerikanische Juden zur militärischen Verteidigung des Landes und Jacob meldet sich angesichts seiner scheiternden Ehe freiwillig. Wie dieses Abenteuer ausgeht, sei an dieser Stelle nicht verraten.

Jonathan Safran Foer gibt sich – als sei dies alles nicht schon genug – größte Mühe, seine Erzählung einerseits auf die Geschichte des Volkes Israel zu beziehen (die Titel gebenden Worte sind Abrahams Antwort an Gott, als dieser ihm befiehlt, seinen Sohn Isaac zu opfern, worauf der Erzähler auch mehrfach hinweist), andererseits aber eine Nacherzählung von Homers Odyssee zu entwerfen; zieht sich doch das Leiden von Jacobs Hund Argos als Leitmotiv durch den Roman. Auch am Ende macht der Erzähler noch einmal deutlich – bezeichnenderweise mit den Worten eines altphilologisch bewanderten Tierarztes –, wie sehr er Jacob als zeitgenössische Version des Odysseus sieht. Die Porno-SMS als Variante des Sirenengesangs? Warum nicht…

Dazu kommt, dass die Konstruktion des Romans teilweise misslungen ist: Vor allem der mühsam aufgebaute Handlungsstrang, der von Sams Leidenschaft für das Online-Spiel „Second Life“ erzählt, in dem sich dieser eine Parallelidentität geschaffen hat, mit der er immer wieder Synagogen aufbaut und zerstört, wird leider irgendwann vergessen, dabei hätte gerade diese Idee – auch wenn sie allzu stark an Jonatahn Lethems Roman Chronic City erinnert – ein großes Entwicklungspotential.

In Interviews zum Roman bestreitet Foer, dass seine eigene Scheidung von der Schriftstellerin Nicole Krauss, mit der er auch zwei Kinder hat, als Blaupause für die zahlreichen todtraurigen Szenen zwischen Jacob und Julia gedient habe. Er sei schließlich Schriftsteller und in diesem Beruf erfinde man solche Sachen eben. Zwar ist es Krauss zu wünschen, dass die von Grund auf unsympathische Julia nicht ihrem Vorbild entsprungen ist (vor allem, wenn man bedenkt, dass der Roman, bis auf das Bibel-Treatment, von einem allwissenden und keinem auf Jacobs Perspektive beschränkten personalen Erzähler erzählt wird), doch müsste Foer schon ein ziemlich brillanter Autor sein, könnte er solche herzzerreißenden Szenen wirklich frei erfinden. Denn in jedem Wort, in jedem Gedankenaustausch der beiden steckt so viel Liebe und gleichzeitig so viel Hass, so viel zerstörte Hoffnung, so viel Resignation, dass es einem fast schon peinlich ist, so tief in die Intimität einer zerstörten Liebe einzudringen.

Dies führt zurück zu den leeren Seiten. Hier bin ich ist ein über die Maßen konstruierter Roman, der viel zu viel will: Liebe, Weltpolitik, Religion, Geschichte, Sex, Rassenproblematik, Literaturrezeption und Online-Paralleluniversen irgendwie zu einem stimmigen Ganzen zusammenzubringen. Ja, vielleicht ist das die Realität eines gut verdienenden amerikanischen Ostküstenintellektuellen jüdischen Glaubens. Andererseits hätte es dieses Buch umso wertvoller gemacht, wenn sich Foer auf seine Kerngeschichte beschränkt hätte. So ist Hier bin ich gleichzeitig das beste und das enttäuschendste Buch des Jahres 2016. Auch ein Verdienst.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jonathan Safran Foer: Hier bin ich. Roman.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Henning Ahrens.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
683 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783462048773

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