Eine poetische Konfrontation mit Fremdheit

„Wenn nachts der Ozean erzählt“: Zana Fraillons Roman über das Leben eines Jungen in einem australischen Flüchtlingslager und die Macht der Fantasie

Von Nicola KönigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nicola König

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Trotz der fast neunhundert Paar Füße gibt es nur vierzehn Paar richtige Schuhe in diesem Camp. Und ein Paar davon gehört mir.“ Der glückliche Besitzer dieses Paares ist der neunjährige Subhi, der in einem australischen Flüchtlingslager geboren wurde. Dieses Lager hat er bisher noch nie verlassen, es bildet seine Welt und seinen Bezugsrahmen: Hier leben seine Mutter, seine Schwester Queeny und sein Freund Eli. Und dann gibt es da noch den Shakespeare-Entererich, eine Plastikente, der er sein Leben anvertraut, wenn er abends alleine im Zelt liegt und inmitten der trockenen Steppe Australiens den Ozean spürt, wenn in seinen Träumen das Nachtmeer zu ihm kommt und ihm Schätze und Geschichten bringt.

Mehr als 65 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht; die höchste Zahl, die der UN-Flüchtlingsrat jemals verzeichnet hat. Nur ein kleiner Teil davon verlässt das Herkunftsland, ein noch kleinerer erreicht Europa. Während in Deutschland die politische Diskussion über Zuwanderung das Tagesgeschehen prägt, wird die Geschichte über australische Flüchtlingslager totgeschwiegen; mittlerweile hat ein Dekret eine Berichterstattung unterbunden. Doch wen meinen wir, wenn wir über Flüchtlinge sprechen? Dieser Sammelbegriff versucht Personen, die ihre Heimat aus politischen Gründen, wegen Kriegen oder Notlagen vorübergehend oder dauerhaft verlassen mussten, sprachlich zu vereinen und damit etwas zutiefst Inhomogenes zu verbinden. Zana Fraillon widersetzt sich mit ihrem Roman Wenn nachts der Ozean erzählt diesem Versuch: Ihr Text erhebt keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit und verfolgt narratologisch einen radikal subjektiven Weg: Nicht die Flucht steht im Vordergrund, sondern das Dasein als Geflüchteter.

Subhi ist der Ich-Erzähler der Geschichte: Er lebt mit seiner Mutter und seiner älteren Schwester in einem australischen Flüchtlingslager. Subhi ist das erste Kind, das in dem Camp geboren wurde und das noch nie die Welt jenseits des Stacheldrahtzauns gesehen hat. Schikanen der Aufseher, Schmutz, Krankheiten, Armut, Hunger und die extreme Hitze bestimmen den Alltag im Lager. Die Kinder hingegen schaffen sich ihre eigenen Nischen unter der Bewachung und bauen einen Schwarzmarkt auf, um heimlich an Gewünschtes und Unerlaubtes zu kommen – Seife zum Beispiel. Und dann gibt es noch Harvey, einen der Aufseher, der sich um Subhi und die anderen Kinder kümmert und der bei großer Hitze ein Planschbecken im Lager aufstellt. Doch der Alltag ist trist und beschwerlich. Subhis Mutter leidet an einer Krankheit, weshalb er sich immer wieder selber überlassen ist und mehr und mehr in eine Fantasiewelt flüchtet.

Eines Nachts trifft Subhi im Camp auf ein Mädchen, das sich von draußen in das Lager geschmuggelt hat: Jimmie möchte wissen, ob tatsächlich alle im Lager ein Fahrrad haben, wie ihre Klassenkameraden behaupten. Sie lebt mit ihrem Vater und ihrem Bruder unweit des Lagers – in Abgeschiedenheit und Armut: „Jimmie mag die Schule. Seit ihre Mutter gestorben ist, schafft sie es bloß nicht so oft hinzugehen.“ Zwischen Subhi und Jimmie entsteht eine Freundschaft: Sie treffen sich regelmäßig am trennenden Zaun, erzählen einander Geschichten und geben sich Hoffnung. Beide träumen von einem besseren Leben – doch die Angst vor den Schlagstöcken der Aufseher ist immer da. Und dann wird Jimmie krank und nur Subhi kann ihr helfen: Er verlässt zum ersten Mal das Camp, ruft einen Krankenwagen und rettet Jimmie. Anschließend aber klettert er auf einen Baum und überblickt seine kleine Welt von oben.

Als er zurück im Lager ist, kommt es zu einem Aufstand: Die Zelte brennen und bei der Flucht wird Subhis Freund Eli von Beaver, dem gefürchteten Aufseher, brutal getötet. Harvey steht daneben und schaut bloß zu. Das Buch endet offen und hinterlässt den Leser mit vielen Fragen: Zwar kommen am Ende Ermittler ins Camp, um den Aufstand und Elis Tod aufzuklären, doch weiß der Leser nicht, was aus Subhi und seiner Familie wird. Man erfährt nicht näher, was mit Subhis Vater geschehen ist und ob und wie lange Subhi noch in diesem Lager bleiben wird.

Auch auf übergeordneter Ebene weist der Roman zahlreiche Leerstellen auf: Erst im Nachwort und anhand der Anmerkungen im Einband erfährt der Leser, dass die Geschichte in einem australischen Flüchtlingslager spielt; auf den letzten Seiten fällt – parenthetisch eingefügt – der Kommentar, dass Queeny ihrem Bruder die Gedichte ihres verstorbenen Vaters auf Rohingya und dann auf Englisch vorliest. Warum die Familie in diesem Lager ist, bleibt offen, politische Diskussionen werden ausgespart. Dass der Roman trotz dieser Leerstellen auch für Kinder ab zwölf Jahren geeignet ist, liegt an dem Umstand, dass die Autorin den täglichen Überlebenskampf in den Vordergrund stellt: Das Handeln mit T-Shirts oder einer größeren Essensration lässt keine moralisch-ethischen Fragen aufkommen. Da Subhi eine Welt jenseits des Stacheldrahtes niemals kennengelernt hat, meistert er seinen Alltag wie jeder andere Junge auch: mit kindlicher, neugieriger Selbstverständlichkeit. Für ihn ist dieser Alltag kein Überleben, sondern sein Leben.

Diese Erzählperspektive eröffnet dem – jungen – Leser unterschiedliche Lesarten: Er kann, identifikatorisch lesend, Subhi folgen und sich mit ihm über seine Schwester ärgern, die seine Träume nicht ernst nimmt. Er kann die Abenteuer mit Eli erleben und den Roman auch als Geschichte der Freundschaft lesen: zwischen Subhi und Eli und im zweiten Teil zwischen Subhi und Jimmie. Der Leser kann aber auch in die Traumwelt von Subhis Geschichten versinken und durch eine Welt der Poesie das Lager verlassen. Nicht zuletzt kann er eine metaphorische Ebene betreten und sich der Deutung der Träume und Bilder widmen: der Fische, die eines morgens im Lager auftauchen. Diese unterschiedlichen Lesarten stellen das große Potenzial von Wenn nachts der Ozean erzählt dar.

Besonders für jugendliche Leser stellt Lesen von Romanen immer auch eine Möglichkeit dar, fremde Welten zu betreten, mit Menschen und Geschichten in Berührung zu kommen und einen Teil ihres Weges mitzuverfolgen. Je weiter die fiktionale Welt von den Erfahrungen der Leser entfernt ist, desto häufiger wird, um Verstehenshürden abzubauen, beim Erzählen eine erklärend-beschreibende Außenperspektive eingenommen. Fraillon aber baut in ihrer Geschichte eine radikale subjektive Perspektive auf; diese Ich-Perspektive Subhis erleichtert ein identifikatorisches, mitfühlendes Lesen. Die Autorin lässt die kindliche Sichtweise jedoch nicht naiv, sondern lebensbejahend, als Überlebensmöglichkeit wirken. „Ein Zaun bedeutet bloß, dass etwas Interessantes dahinter ist.“ Das Gefangensein ist ihre Realität, die nicht jeden Tag neu hinterfragt wird. Der Leser begibt sich mit den Protagonisten auf Unternehmungen, sucht Schlupflöcher im Zaun und im System. Dabei schildert Fraillon zurückhaltend und überlässt die Be- und Auswertung dem Leser. Die Sprache wechselt zwischen kindlich-naiven Alltagsbeschreibungen und poetischen Passagen. Authentisch und ungeschönt werden Ausweglosigkeit, Tristesse und Brutalität im Lager dargestellt. Es werden Szenen im Lager beschrieben, die aus der Sicht Subhis alltäglich erscheinen, vor dem Auge des Lesers aber entsteht eine neue Wirklichkeit. Dazu benötigt die australische Autorin, die als Grundschullehrerin arbeitet, nicht viele Adjektive: Ihre Welt muss nicht ausgeschmückt werden, um anschaulich zu werden. Diese Perspektive behält sie konsequent bei; das Fantastische aber ermöglicht dem Leser eine Flucht in eine andere Welt.

Trotz der beschriebenen Subjektivität im Erzählen verrät der Roman etwas, das vielen Menschen, die sich auf der Flucht befinden, gemeinsam ist: Es geht in Wenn nachts der Ozean erzählt nicht allein um Subhi und seine persönliche Geschichte. Obwohl die Probleme Australiens und die Schicksale der Inhaftierten weit entfernt von europäischen Flüchtlingsdiskursen sind, schildert Fraillon das, was alle diese Schicksale vereint: die Unfreiheit, den Verlust der Heimat und die Zerbrechlichkeit der Hoffnung. Der Roman bezieht seine Eindringlichkeit weniger aus der realistischen Darstellung, als aus der Imaginationskraft der Protagonisten, die sich eine Welt der Bilder, der Geschichten und der Freundschaft schaffen, um zu überleben. Damit aber erzählt der Roman auch über die Macht von Geschichten, die es ermöglichen, Erinnerungen entstehen und lebendig werden zu lassen.

Titelbild

Zana Fraillon: Wenn nachts der Ozean erzählt.
Übersetzt aus dem Englischen von Claudia Max.
cbt, München 2017.
288 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783570164761

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