Die Eulen schauen ins Dunkel: Unterwegs nach Twin Peaks

Als Präludium zur Fortsetzung der Kult-Serie zementieren zwei Neuerscheinungen einen Mythos

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist längst zum Topos geworden, in TV-Serien das moderne Äquivalent zum Roman zu sehen (wobei die Frage unbeantwortet ist, was denn dann mit den tatsächlichen Romanen los sein muss). Auch Gunter Reinhardt, der in der neuen „100 Seiten“-Reihe des Reclam Verlags ein Twin-Peaks-Bändchen vorlegt, beruft sich gleich zu Beginn auf „eine neue TV-Ideologie, die Serien als die Romane des postmodernen Zeitalters versteht“. Das wäre nun nicht weiter erwähnenswert, wenn nicht erstens just Twin Peaks als Ursprung dieser Entwicklung ausgemacht würde und zweitens Mark Frost, neben David Lynch der entscheidende Kopf hinter dieser Serie, gerade einen, nun ja, Twin-Peaks-Roman veröffentlicht hätte. Und wenn drittens nicht die dritte Staffel dieser Mutter aller Qualitätsserien vor der Tür stünde, nach einer Wartezeit von nicht weniger als 26 Jahren.

Es lässt sich kaum mehr nachvollziehen, wie umstürzend, überwältigend und einschneidend 1990 die Erstausstrahlung von Twin Peaks gewirkt haben muss. Dass nach The Sopranos, Mad Men, The Wire, Game of Thrones oder Breaking Bad Fernsehserien längst ein Qualitätsniveau und eine narrative Komplexität erreicht haben, die mit stupid-belangloser Nebenbei-Unterhaltung nichts zu schaffen haben, ist keine neue Erkenntnis. Für die Sehgewohnheiten der Zeit des frühen Privatfernsehens aber war Twin Peaks eine Revolution in vielfacher Weise. Die in einer scheinbar idyllischen Kleinstadt Nordamerikas spielende Serie wies in ihrer Bildgestaltung ein ästhetisches Niveau auf, das zwar einem Spitzenregisseur wie David Lynch, nicht aber dem Medium Fernsehen zugetraut wurde; sie eröffnete durch die verschachtelte und herausfordernde Erzählweise neue Dimensionen, mischte dabei in postmoderner Manier diverse Genres, die man vorher kaum für vereinbar gehalten hätte und versäumte es vor allem nicht, zahlreiche liebenswerte, herrlich schräge und geheimnisvolle Figuren zu erfinden – sei es, um nur einige zu nennen, die allseits beliebte, hinter ihrer schönen Fassade aber unermesslich abgründige Laura Palmer, der für Tibet, mitternachtsschwarzen Kaffee und Kirschkuchen schwärmende FBI-Agent Dale Cooper oder der unheimliche, sich Erklärungsversuchen entziehende Bob. Da zumindest in den ersten Folgen in atemberaubend spannender Weise ein mysteriöser Mordfall im Zentrum steht, wurde die Serie zum Quotenhit – wobei die im deutschen Fernsehen erst mit 20-jähriger Verzögerung komplett ausgestrahlte zweite Staffel dann die Geduld der auf einen Krimi eingestellten Zuschauer durch ihre Experimentierfreude (und, auch wenn dies zu behaupten an Ketzerei grenzt, durch zwischenzeitliche Qualitätsschwankungen) arg strapazierte. Die nach dieser zweiten Staffel abgesetzte Serie wurde zum Mythos und beeinflusste zahlreiche und sehr unterschiedliche Nachfolgeformate wie etwa Ausgerechnet Alaska, Akte X oder die Gilmore Girls. Eine vergleichbar verschrobene, streckenweise brillante und dabei immer neue Horizonte miteinander verschmelzende Fernsehproduktion aber hat es seither nicht mehr gegeben, so viel Surrealismus und unheimliche Verstörung wurde einem breiten Publikum nicht wieder zugemutet. Entsprechend groß war die Aufregung, als sich die Gerüchte über eine Fortsetzung konkretisierten und schließlich bestätigten, und entsprechend groß ist auch die Erwartungshaltung. Einen Mythos fortzusetzen ist schließlich ein kaum zu unterschätzendes Wagnis.

Die beiden Buchveröffentlichungen sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Gunther Reinhardts schlanke Einführung in den Twin-Peaks-Kosmos ist im deutschen Sprachraum bislang konkurrenzlos. Er informiert über die Entstehung und die zeitgenössische Rezeption der Serie, bietet einführende Kapitel zu den beiden Serien-Staffeln, zum nachgeschobenen Kino-Film und zu den verschiedenen Figuren, aber auch zur spezifischen Ästhetik der Serie oder zur konstitutiven Vermischung von Genres. In auffallender Breite versucht sich Reinhardt dabei an einer medienhistorischen Kontextualisierung, indem er ausführlich die Entwicklung der „Qualitätsserien“ bedenkt.

Als Begleitlektüre für Einsteiger ist das Buch besser geeignet als zur vertiefenden Information für Exegeten, was selbstredend schon dem Format geschuldet ist. Der Zwang zur Knappheit mündet aber bisweilen in eine Flucht vor hermeneutischem Tiefgang, zu dem Twin Peaks doch in einem großen Ausmaß herausfordert. Wann immer Interpretationsarbeit oder weiterführende Gedanken angezeigt wären, behilft Reinhardt sich mit ausführlichen (freilich klug ausgewählten) Zitaten. Zudem macht es sich der Autor etwas zu einfach, wenn er – obwohl er selbst darauf hinweist, dass sich die Serienerfinder Lynch und Frost in der zweiten Staffel weitgehend zurückgezogen haben – die Serie immer wieder mit Versatzstücken der Filmästhetik David Lynchs erklärt, was dazu führt, dass sich sein Buch bisweilen wie eine Lynch-Monografie liest. Dennoch: Der von Heimweh nach den großen Wäldern, dem Double R Diner oder dem Great Northern Hotel geplagte Fan wird das Büchlein nicht ungern lesen. Es mag zur Auffrischung einer alten Leidenschaft oder zum Einstieg in einen noch unbekannten Kosmos dienen, und damit, wie Reinhardt es selbst intendiert, als Vorbereitung „auf das bevorstehende Wiedersehen“.

Für weit mehr Aufregung in der Twin-Peaks-Gemeinde sorgt indes der Roman, dessen Titel vorgibt, die „geheime Geschichte“ einer ohnedies hinreichend geheimnisvollen Stadt erzählen zu wollen. Dies wäre bereits ein bemerkenswerter Umstand, muss aber freilich noch nichts über die Qualität oder gar die Authentizität dieses Buches aussagen. Dass diese geheime Geschichte aber von Mark Frost geschrieben ist, versieht den Text a priori mit einer geradezu mystischen Aura, ist doch Frost neben Lynch unbestritten Mastermind der Serie (und nebenbei professioneller Autor). Mit einem Trittbrettfahrer, der die Gunst der Stunde nutzt, haben wir es mithin keineswegs zu tun. Hält man das Buch in Händen, freut man sich über die liebevolle Gestaltung wie Agent Cooper über heißen Kaffee und frische Donuts. Keine Frage, das Buch ist ein materielles Erlebnis – offenkundig inspiriert von Das Schiff des Theseus von J. J. Abrams und Doug Dorst (das in deutscher Übersetzung ebenfalls bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen ist). Dennoch ist die Freude nicht ungetrübt.

Der „Roman“ ist keine lineare Großerzählung. Vielmehr gibt sich das Buch als „Dossier“, das unter geheimnisvollen Umständen an einem Tatort sichergestellt wurde und das Informationen (aus Presseberichten, Tagebüchern, Briefen, Gesprächsprotokollen und anderen Textsorten mehr) über mysteriöse Phänomene rund um die Stadt Twin Peaks seit dem frühen 19. Jahrhundert versammelt. Angelegt wurde es von einer nicht minder mysteriösen Figur, die sich „der Archivar“ nennt. Ziel der Ermittlungen (und damit auch der Lektüre) ist es, die Identität des Archivars festzustellen. Der Leser gerät dabei in die Rolle des Detektives, der sich seine eigene Meinung zu den versammelten Dokumenten bilden muss; gleichwohl ist er nicht der einzige Ermittler, da das uns vorliegende Dossier bereits die Randkommentare eines FBI-Special-Agents mit den (wenig subtilen) Initialen „TP“ enthält – die Lektüre ist geradezu ein stetiger Wettstreit zweier Ermittlungsinstanzen, wobei der Leser zuweilen sogar im Vorteil ist, sofern er bereits über profunde Kenntnisse der Serie verfügt.

Allerdings gibt sich Frost nicht damit zufrieden, ein Spin-Off zur Serienhandlung vorzulegen (was seinen Text von den beiden schwerlich satisfaktionsfähigen Twin-Peaks-Büchern aus den früheren 1990er-Jahren abhebt). Das Gegenteil ist der Fall: Der Mordfall an Laura Palmer, dessen Nachwirkungen Gegenstand der Serie waren, nimmt nur eine sehr kleine Rolle in diesem Buch ein. Zwar wird vermutet, dass das Verbrechen, an dessen Tatort das Dossier gefunden wurde, in Verbindung mit diesem Fall steht, näheres erfährt der Leser aber nicht. Vorrangig geht es um übersinnliche Geschehnisse aller Art, insbesondere UFO-Sichtungen. Diese Thematik ist in der zweiten Staffel der Serie angelegt, nimmt hier aber einen ganz anderen Raum ein. Darüber hinaus wird fast alles zusammengerührt, was zur amerikanischen Verschwörungsmythologie gehört: Die Freimaurer, die Illuminaten, indianische Spiritualität, das Manhattan-Projekt, der Roswell-Zwischenfall, die Kennedy-Ermordung, Watergate, Scientology, konspirative und vertuschende Tätigkeiten der amerikanischen Regierung und dergleichen mehr. Pointiert gesagt: Das Buch ist weniger ein Twin-Peaks- als ein (in Teilen von H. P. Lovecraft inspirierter) Akte-X-Roman. Das entbehrt nicht einer gewissen tragischen Ironie, wurde doch diese stilbildende Mystery-Serie seinerzeit maßgeblich von Twin Peaks beeinflusst – dass nun die Fortsetzung des Vorbilds wie ein Epigone der eigenen Adaption daherkommt, unterstreicht die allumfassende intertextuelle und -mediale Verwobenheit, macht das Ganze aber nicht origineller.

Protagonist dieser schwer überschaubaren Mysterien-Revue ist eine Figur, die in der Serie allenfalls randständig vorkommt (und signifikanterweise in einem Schaubild der Bewohner von Twin Peaks, das in Reinhardts Buch zu finden ist, gar nicht auftaucht). Die Schicksale und biografischen Hintergründe liebgewonnener Serienfiguren werden zwar gelegentlich beleuchtet, die gelieferten Informationen bieten aber nichts grundlegend Neues. Die Stadt Twin Peaks wird von Frost zum Knotenpunkt unzähliger unheimlicher Geheimnisse erhoben. Die Allfälligkeit des Mysteriösen, das sich einer letztgültigen Aufklärung verwehrt, ist für den Archivar der Grund seiner historischen Recherche. Der Archivar sieht die dokumentierten Mysterien im Zusammenhang mit der „Suche nach einem tieferen Sinn im Kern des Lebens“ und nach „uralten Wahrheiten“. Die weit wissenschaftsgläubigeren und rationaleren Kommentare von TP treten dazu in einen Dialog, der dem Text eine inhärente Spannung verleiht. Ohnehin ist TP die interessanteste Neuerung im gebotenen Erzählkosmos (obgleich über die Ermittlungserfolge dieser Figur eigens zu diskutieren wäre). Ansonsten – sei es gerade wegen oder trotz der inhaltlichen Ausweitung gegenüber der bisher bekannten Handlung – bietet Frosts Buch wenig, das eigenständige Relevanz im Twin-Peaks-Universum beanspruchen kann. Dass das Dossier, wenn auch anders perspektiviert, am gleichen Punkt endet wie die zweite Staffel, unterstreicht am Ende dann doch die eigentliche Funktion des Romans, die er gleichwohl nicht selten aus dem Auge verliert: ein Bindeglied zwischen der klassischen Serienhandlung und den kommenden Erzählsträngen zu sein. Einstweilen bleibt einem das übrig, was als Funktion der für die Serie eminent wichtigen Eulen ausgewiesen wird: „Sie erinnern uns daran, ins Dunkel zu schauen.“ Die Morgenröte naht.

„Verdammt gut“ fand Agent Cooper den Kaffee in Twin Peaks. Die Bücher, die die geneigte Fangemeinde auf die Fortsetzung der Serie einstimmen sollen, sind das leider nicht. Weder lässt sich die Genialität und Vielschichtigkeit von Twin Peaks auf 100 kleinformatigen Seiten erfassen, noch ist Mark Frosts Roman ein literarischer Wurf, der dem audiovisuellen Meilenstein annähernd gleichkäme. Als Appetizer und von nostalgischen Erinnerungen umwehte Wegweiser zurück ins Dickicht der Rätsel und Verweise sind sie willkommen. Bleibt zu hoffen, dass die Fortsetzung sich nicht auf Nostalgie und die im Roman angedeutete Thematik reduzieren lässt, sondern auch neue Wege aufzeigt – und dass, ganz im Geiste der Serie, die Vorzeichen nicht sind, was sie scheinen.

Titelbild

Mark Frost: Twin Peaks. Die geheime Geschichte.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016.
368 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783462048155

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Titelbild

Gunther Reinhardt: Twin Peaks.
Reclam Verlag, Stuttgart 2016.
100 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150204214

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