25 Jahre Autorengespräche

Carsten Gansel liefert ein „multiperspektivistisches Panorama auf die Kultur- und Zeitgeschichte der jüngsten deutschen Vergangenheit“

Von Céline LetaweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Céline Letawe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der fast 800 Seiten starke Band versammelt 38 Gespräche mit Autorinnen und Autoren aus Ost- und Westdeutschland, die der Gießener Literaturwissenschaftler Carsten Gansel über ein Vierteljahrhundert geführt hat. Durch die ausgewählte Zeitspanne (1989-2014) wird die Wende ganz klar als Epochenumbruch ins Zentrum gerückt. Die Interviews werden in zwei Gruppen dargeboten, innerhalb deren sie dann wiederum chronologisch sortiert sind: Der erste Teil enthält Gespräche über die Literatur der DDR, der zweite solche über die deutschsprachige Literatur nach 1989. Circa zwei Drittel dieser Interviews waren bereits vereinzelt veröffentlicht worden, werden jedoch hier erstmals zusammengebracht. Der Gewinn ist nicht nur, dass sie somit leichter zugänglich werden (die Erstveröffentlichung fand meistens in Zeitschriften statt), sondern auch, dass sie zusammen ein Ganzes bilden, das sich als eigenständiges Textensemble analysieren lässt. Es entsteht eine Art Mosaik, in der sozusagen Dialoge zwischen den Dialogen lesbar werden.

Die von Carsten Gansel geführten Gespräche befinden sich immer „im Spannungsfeld zwischen Literaturwissenschaft und literarischer Öffentlichkeit“: Die Autorinnen und Autoren treten nämlich nicht nur als Schriftsteller auf, sondern auch als Zeitzeugen, so dass in dem Band tatsächlich auch ein Stück „Kultur- und Zeitgeschichte“ geschrieben wird. Hier sind drei Generationen vertreten, die alle vom Epochenumbruch 1989 geprägt wurden: die „Gründungsgeneration“ der Nachkriegsliteratur (u.a. Christa Wolf, Jürgen Becker, Günter Grass), die Generation, die in den 70er und 80er Jahren begonnen hat zu schreiben (u.a. Reinhard Jirgl, Christoph Hein, Kathrin Schmidt), und die Generation, deren Schreibanfänge in etwa mit der Wende zusammenfallen (u.a. Thomas Brussig, Arno Orzessek und Popautoren wie Alexa Hennig von Lange und Andreas Neumeister).

Im Gegensatz zu dem, was in der Einleitung behauptet wird, wurden die allermeisten der im ersten Teil versammelten Gespräche nicht „im öffentlichen Raum“ geführt – sondern im Haus des jeweiligen Schriftstellers. Vor Publikum fanden vor allem die Gespräche des zweiten Teils statt, meistens im Rahmen von Tagungen, Preisverleihungen und Lesungen, die natürlich auch das jeweilige Gesprächsthema prägten. So spricht Günter Grass über seinen Freund Uwe Johnson, weil er im Rahmen der Uwe-Johnson-Tage interviewt wird. Aber auch sonst wird Johnson sehr oft erwähnt – allein das Zitat „Die Geschichte sucht, sie macht sich ihre Form selbst“ taucht sechsmal auf. Das lässt sich auf die bekannte Vorliebe des Interviewers für den Mecklenburger und sein Werk zurückführen (Carsten Gansel ist u.a. Vorsitzender der Jury zur Verleihung des Uwe-Johnson-Preises sowie des Uwe-Johnson-Förderpreises und Mitherausgeber vom Internationalen Uwe-Johnson-Forum).

Ein Johnson-Thema, das Carsten Gansel besonders gerne in seinen Interviews anspricht, ist die sogenannte „Katze Erinnerung“. Das Thema Erinnerung gilt auch explizit als roter Faden für den Band. Mehrere Autorinnen und Autoren betonen den engen Zusammenhang zwischen Schreiben und Erinnern, so zum Beispiel Bernd Schirmer: „Für mich persönlich ergibt sich dieser Zusammenhang dadurch, dass ich mir über manche Dinge beim Schreiben erst klar werde.“ Auch Brigitte Burmeister ist der Meinung, dass das Schreiben für das Erinnern eine wesentliche Rolle spielen kann: „Sie müssen anfangen, darüber zu schreiben, dann werden Sie sich wundern, was alles an Erinnerungen hochkommt. [… M]eine Erfahrung ist es immer gewesen, dass Situationen wieder ganz lebendig erscheinen, wenn man sie nur mit dem richtigen Wort anhakt.“ Es bleibt dabei nicht nur beim privaten Erinnern, der literarische Text wird nämlich auch als „Medium kollektiver Erinnerung“ (Bernd Schirmer) diskutiert.

Der Band Literatur im Dialog vermittelt zudem anregende Einblicke in die Werkstatt der Schriftsteller, so zum Beispiel in den jeweiligen Antworten auf die wiederholt gestellte Frage nach dem Schreibprozess und der Bedeutung des Anfangs. Die Antworten fallen durchaus unterschiedlich aus. Peter Härtling braucht Zeit: „Für mich hat jedes Buch eine andere Tonart. Und ich muss diese Tonart finden. […] Deswegen gibt es für manches Buch sehr viele Anfänge. Bis ich mich eingestimmt, bis ich die Tonart gefunden habe, da braucht es Zeit, sehr viel Zeit.“ Ganz anders Alexa Henning von Lange: „Ich schreibe einfach los […]. Ich schreibe los und schaffe erst einmal Material, aus dem sich die Geschichte herauskristallisiert. Bildlich gesprochen, klatsche ich mir einen riesigen Klumpen Ton hin und fange an, die Geschichte daraus zu formen.“ Aufschlussreich sind auch die teilweise sehr konkreten Darstellungen der Arbeitsmethode. Günter Grass schreibt nach eigener Aussage „im Stehen am Pult“ und braucht „die Bewegung dabei“; er schreibt auch „laut“, spricht „laut vor [s]ich hin“ und geht „auf und nieder“. Auch Jutta Richter „schreibt laut“: „Meine Texte sind ja auch Lesetexte. Also ich schreibe sie auch laut, ich schreibe ja nicht still, sondern ich spreche sie und korrigiere und höre, wie sie klingen.“ Peter Härtling wiederum beschreibt eine etwas langwierige Methode, in der auch seine Frau eine wichtige Rolle übernimmt: „Ich schreibe zuerst auf der mechanischen Schreibmaschine, korrigiere das dann per Hand, diktiere es dann auf Band, das schreibt meine Frau in den Computer. Während des Diktierens ist der Text zumeist schon ganz anders geworden. Das druckt meine Frau, dann kann ich endgültig noch einmal korrigieren und meine Frau schreibt es dann ins Reine. Das sind drei, vier Vorgänge, die ich brauche.“

Herausgeber des Bandes ist Norman Ächtler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistik der Universität Gießen, also ein Kollege von Carsten Gansel. Er liefert eine sehr gute Einleitung, in der er u.a. die Einwände gegen das Interview als Praxis der Erkenntnisgewinnung anspricht, selbstverständlich um sie zu dekonstruieren: Das Problem der Authentizität wird überwunden, indem die Zuverlässigkeit selbst zum expliziten Thema der Gespräche gemacht wird; dem Problem der Autorintention, der bekannten Gefahr, die „Polyvalenz literarischer Texte vermeintlich leichtfertig auf die Selbstaussagen des Autors“ zu reduzieren, wird entgangen, indem auf den augenfälligen Unterschied zwischen Theorie (Tod des Autors) und Praxis (Lesehaltung der meisten Leser) verwiesen wird. Zusammen mit Urs Meyer betont Ächtler darüber hinaus, dass Autorengespräche (genauso wie Tagebücher und Briefe) „integrale Bestandteile des literarischen Diskurses“ sind. Bemerkenswert sind weiterhin die Überlegungen über die Transkription als „Übersetzung“ des Gesprochenen, was den Leser darauf aufmerksam macht, dass Interviews auch (re)konstruierte Texte sind. Die Redaktionsarbeit gilt dabei als Akt der „Lesbarmachung“, aber auch als Akt der Interpretation.

Eine gewisse Enttäuschung bereitet nur der Schluss des Bandes. Unter dem Titel „Gespräch über Gespräche“ wird der Interviewer nun vom Herausgeber interviewt, und leider werden die Erwartungen, die im Titel geweckt werden, nicht erfüllt. Von über 50 Seiten sind nämlich nur ein paar der Praxis des Autorengesprächs gewidmet. Stattdessen verfolgt der Leser am Anfang eine etwas mühsame und leicht kokett wirkende Unterhaltung über die Germanistik in Gießen, die aktuelle Hochschulpolitik und Gansels Produktivität („Wie schafft man das?“), bevor er ein längeres Gespräch über Gansels Sozialisation in der DDR zu lesen bekommt. Erst nach über 20 Seiten wird von Literatur gesprochen (und da wundert man sich über die Reaktion des Interviewers: „Jetzt sprichst du bereits von Literatur“). Die kurz vor Schluss gestellte Frage „Was hat Dich eigentlich schon früh dazu bewogen, neben den literarischen Texten auch die Selbstaussagen der Autorinnen und Autoren einzuholen?“ klingt vielversprechend, wird leider nicht wirklich beantwortet. Nach den 38 Interviews des Bandes erwartet der Leser von einem Interview mit dem Interviewer mehr. Das zeigt aber umso deutlicher, wie schwierig die Praxis des Interviews ist. Der Herausgeber bewundert zu recht „die Kombination aus fundiertem Sachwissen und Schlagfertigkeit, Erfahrung im Umgang mit und Feingefühl für habituelle Dispositionen von Prominenten, souveränem Auftreten und zielgerichtetem sprachlichen Handeln“, die Carsten Gansels Interviewkunst charakterisiert und das Besondere an diesem Band ausmacht.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Carsten Gansel: Literatur im Dialog. Gespräche mit Autorinnen und Autoren 1989–2014.
Herausgegeben und mit einer Einleitung von Norman Ächtler.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
720 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321176

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch