Nachbarn in literarischen Porträts

Carsten Gansel und Monika Wolting stellen „Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989“ vor

Von Darius WatollaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Darius Watolla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der vorliegende 16. Band aus der Reihe „Deutschsprachige Gegenwartsliteratur und Medien“ thematisiert die Art, wie Deutschland und Polen in den jeweiligen Literaturen der beiden Länder vertreten sind, wie sie beschrieben und vor allem diskutiert werden. In 23 Beiträgen beleuchten deutsche und polnische Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler unterschiedliche Aspekte deutsch-polnischer Begegnungen in literarischen Texten und wählen dabei auch methodisch verschiedene Ansätze. Beiträge, die das Bild Polens in deutscher Literatur thematisieren, sind mit neun Artikeln in leichter Überzahl gegenüber den sechs Texten, die sich dem Bild Deutschlands in polnischer Literatur widmen. Ein weiterer Abschnitt überschrieben mit „Deutsch-polnische Begegnungsräume“ eröffnet eine interessante lokalorientierte Perspektive, die eine Prominenz bestimmter Orte für deutsch-polnische Begegnungen in den Vordergrund rückt. Den Abschluss bilden zwei Autorengespräche mit Akteuren des deutsch-polnischen Literaturbetriebs. In dem Ersten kommt mit Olga Tokarczuk eine bekannte polnische Schriftstellerin zu Wort, die aus Niederschlesien stammt, einer Gegend, die für deutsch-polnische Beziehungen nach wie vor bedeutsam ist. Das zweite Interview bietet mit dem in Polen geborenen Artur Becker, der in Deutschland lebend in der deutschen Sprache schreibt, einen Grenzgänger ganz besonderer Art auf.

Die im Titel gebrauchte Formulierung „Deutschland- und Polenbilder“ suggeriert, dass in den einzelnen Beiträgen ganz unterschiedliche Repräsentationen der beiden Länder und Kulturen besprochen werden, deren gemeinsamer Schwerpunkt auf literarischen Texten nach 1989 liegt. Diese gewählte Zäsur, die eine Fokussierung erlaubt, kann dabei als bloß ideell betrachtet werden, da es im Wesen einer solchen Betrachtungsweise liegt, das Vergangene mit dem Jetzigen, wenn auch implizit, zu vergleichen. Die Tatsache, dass gerade das Jahr 1989, in welches die demokratische Wende in Polen und der Niedergang des Ostblocks fielen, als Anfangspunkt für diese Betrachtungen bestimmt wird, unterstreicht auch die Überzeugung, dass seit dem eine andere Auseinandersetzung mit der deutsch-polnischen Geschichte wie auch mit dem Verhältnis der beiden Kulturen möglich wurde. Doch schon das Umschlagsbild des Covers mit der Plastik des Blechtrommlers Oskar Matzerath scheint anzudeuten, dass die Vergangenheit der beiden Länder auch für die Zeit nach 1989 immer mitgedacht werden muss.

Die beiden großen Kapitel mit Beiträgen zur deutschen und polnischen Literatur weisen mehrere Gemeinsamkeiten auf. In beiden Abschnitten erstreckt sich die Betrachtung sowohl auf einzelne Autoren und Werke wie auch auf übergeordnete Zusammenhänge, wie Topoi, Genrezuschreibungen oder Diskurse und Diskurstraditionen. So wird etwa in dem Kapitel „Polenbilder in der deutschen Literatur“, unter anderem, das Wirken von Uwe Timm, Judith Herrmann und Steffen Möller berücksichtigt. Analog dazu finden sich, unter anderem mit Werken Olga Tokarczuks, Andrzej Ziemilskis oder Stefan Chwins, Analysen zum Deutschlandbild in der polnischen Literatur. Diese Akzentuierung darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass je nach gewählter Perspektive nicht nur die besprochenen Werke in einen größeren Kontext gesetzt werden, sondern auch die Betrachtung auf die Zeit vor 1989 ausgedehnt wird. Diese Vorgehensweise ermöglicht eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Mechanismen und Phänomenen der Entstehung von Bildern anderer Nationen und Kulturen sowie der Genese von Fremd- und Selbstbildern, Einflüssen der Bildmedien oder der Globalisierung. Eine Annäherung an diese Phänomene erfolgt aus unterschiedlichen Richtungen, die kontextuell diverse Felder der gegenwärtigen Literaturwissenschaft mit der komparatistischen Betrachtung verbindet. Diese Kombination ermöglicht es, die vorgenommenen und die angenommen Grenzen zu durchbrechen, etwa wenn deutlich wird, wie ambivalent die jeweiligen Zuordnungen von Schriftstellern, Nationalitäten und Themen sein können. Die Auseinandersetzung mit diesem Aspekt der deutsch-polnischen Literatur geht mit Überlegungen zu den gegenwärtigen Entstehungsbedingungen der Deutschland- und Polenbilder einher. Exemplarisch kann hier auf das Phänomen der Hybridisierung oder Hybridität verwiesen werden, welches in mehreren der enthaltenen Beiträge Erwähnung findet und je nach Betrachtungsschwerpunkt die Art der Fremdbeschreibung an sich, wie auch grundsätzliche Prozesse der kulturellen Abgrenzung und kollektiven Identität betreffen kann. Diese auf aktuelle Entwicklungen eingehenden Überlegungen verdeutlichen, dass gerade die Art, wie in der Literatur Deutschlands und Polens über das jeweilige Nachbarland geschrieben wird einem stetigen Prozess der Veränderung unterworfen ist. Diese Veränderungen werden besonders dann deutlich, wenn in literarischen Texten bekannte Themen und Motive der deutsch-polnischen Vergangenheit von einer neuen Autorengeneration aufgegriffen werden. Eine große Leistung dieses Bandes besteht darin, dass diesen Veränderungen nachgegangen wird, in dem sie in Relation zu allgemeinen Entwicklungstendenzen in der Literatur gesetzt werden, etwa dann, wenn in der deutsch-polnischen Erinnerungsliteratur die Anteile der Eigen- und Fremderinnerungen sowie der eigenen und fremdinduzierten Bilder untersucht werden.

Die von den Herausgebern betonte Rolle eines modernisierungstheoretischen Ansatzes weist dabei bereits in die Zukunft der deutsch-polnischen Begegnungen in der Literatur und verdeutlicht, dass zahlreiche Prämissen in ihrer Gültigkeit zu überprüfen sind.

Die Beiträge des Bandes sind in ihrer Diversität einem großen Rezipientenkreis potentiell zugänglich und überzeugen durch ihre Orientierung an der gegenwärtigen komparatistischen Forschung. Die Auswahl der polnischen Autoren und Werke ermöglicht einen Einstieg in die zeitgenössische Literatur des Landes und bietet gleichzeitig eventuell eine neue Akzentuierung für versierte Leser. Die präsentierten deutschen Texte verschaffen mit ihrer Vielfalt ungewohnte Einblicke in die Praxis der Genese eines Polenbildes, wenn zum Beispiel Geheimberichte der SED-Führung zu Papst Johannes Pauls II. analysiert oder Stereotypen aus Steffen Möllers Viva Polonia untersucht werden. Die in den Beiträgen genannte Fachliteratur sowie Internetquellen erlauben eine weitergehende Auseinandersetzung mit den einzelnen Themen, wodurch dieser Band als Einstiegslektüre im weitesten Sinne dienen kann.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Carsten Gansel / Monika Wolting (Hg.): Deutschland- und Polenbilder in der Literatur nach 1989.
V&R unipress, Göttingen 2015.
405 Seiten, 55,00 EUR.
ISBN-13: 9783847104599

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