Die Dämonen des versäumten Lebens

Tristan Garcias vielschichtiger Roman „Faber“ gibt den Ängsten der französischen Mittelschicht eine Gestalt

Von Sina de MalafosseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sina de Malafosse

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vier Jahre nach Erscheinen der Originalausgabe liegt Tristan Garcias Roman Faber – Der Zerstörer nun auch auf Deutsch vor; ein vielschichtiger Roman, der als fesselnder Thriller, als Gesellschaftsroman über die Generation Y sowie als umgekehrter Entwicklungsroman vor der Folie von Max Frischs Homo Faber gelesen werden kann.

Mehdi Faber, Madeleine Olsen und Basile Lamaison waren in ihrer Jugend im kleinen Städtchen Monray unzertrennlich. Inzwischen Mitte dreißig, fährt Madeleine in die Pyrenäen, um den verschwundenen Faber aufzuspüren. Sie findet ihren alten Freund verwahrlost und isoliert in einer Hütte. Einen Brief habe Faber ihr geschrieben und dabei einen alten Code benutzt, den das Trio erfunden hat – ein Hilfeschrei, dem sie nun folge. Da auch Faber, der von seinem eigenen nichts zu wissen scheint, wiederum gleichartige Briefe von seinen Freunden bekommen hat, lässt er sich von Madeleine in seine Heimatstadt im Südwesten Frankreichs zurückbringen. Von da an dringen wir höllenkreisförmig in die Erinnerung der Hauptfiguren vor und erfahren aus der wechselnden Perspektive der drei Freunde, wie sie zueinander fanden und wie es zum Bruch zwischen ihnen kam.

Es ist die Geschichte eines brillanten Jungen mit maghrebinischen Wurzeln, der von einem französischen Paar aus der Arbeiterklasse in Monray angenommen wird, nachdem seine ersten Adoptiveltern tödlich verunglückt sind. In der Schule wird Faber nicht nur in kürzester Zeit Klassenbester, sondern stellt sich auch mutig auf die Seite der Außenseiter. Madeleine und Basile finden in ihm einen Beschützer, der sie gegen drangsalierende Mitschüler verteidigt, ein Idol und einen treuen Freund.

Es ist die Geschichte dreier Jugendlicher, die gemeinsam erwachsen werden und sich mit der Veränderung ihres Körpers, den zum Teil problematischen Rollenvorbildern in Gestalt ihrer Eltern und ihren verwirrenden Gefühlen auseinandersetzen. Sie pflegen den gemeinsamen Traum, ihrer scheinbar vorgezeichneten Existenz zu entkommen und sich über ihre Eltern zu erheben, die es nicht geschafft haben, ihrem Leben Intensität und Bedeutung zu verleihen. Die drei Freunde isolieren sich immer weiter, ketten sich in gegenseitiger Abhängigkeit aneinander. Sie finden eine kleine Hütte im Wald, die sie zu ihrem Hauptsitz erklären und brüten in Erwartung lebensverändernder Ereignisse über Ideen, hören Musik und lesen Bücher.

Schnell wird ihnen klar, dass Faber jemand Besonderes ist. Er lernt im Handumdrehen, liest anspruchsvolle Literatur und ist den anderen immer einen Schritt voraus. Von klein auf springt Faber für Schwächere in die Bresche, übernimmt die Rolle des Anführers und entdeckt früh die machtvolle Waffe, über die er verfügt: Intelligenz. Damit kann er andere schützen, sie aber auch zerstören, wie er bald feststellen muss. In dem Erbauer steckt auch ein Zerstörer, der Schuld auf sich geladen hat. Und so tritt der hochbegabte Junge in einen Kampf mit sich selbst und seiner Umgebung. Er fügt sich Schnittwunden zu, hat merkwürdige Anfälle und entwickelt eine maßlose Wut auf seine Adoptiveltern. Er rebelliert, entzieht sich der Kontrolle der Erwachsenen. Seine anarchischen Aktionen werden zum Mittel, eine Welt zu steuern, in der er seinen Platz nicht findet.

Garcias Roman ist auch die Geschichte eines verführerischen und zugleich bedrohlichen Fremden, der zur Projektionsfläche für Träume und geheime Wünsche wird. In Madeleines und Basiles Faszination mischt sich Furcht, etwas Bedrohliches haftet Faber und seiner mysteriösen Vergangenheit an. Was ist damals, vor ihrer Begegnung, geschehen?

Das Dunkle, Satanische, das seine Freunde in Fabers Wesen wahrnehmen, erhält in der Rede eines alten Lehrers, der scheinbar den Verstand verloren hat und John Miltons Paradise Lost zitiert, eine metaphysische Ebene:

Die Dämonen sind nichts anderes als die frühen Idole unserer Kindheit. Als die Menschheit älter wurde, mochte sie die Götter ihrer kindlichen Anfänge nicht mehr.(…) Sie konnte ihrer eigenen Kindheit nicht mehr in die Augen sehen. Also hat sie denen, die sie ehemals geliebt hatte und die über sie gewacht hatten, alle Übel und ihr eigenes Vergehen angelastet. Hier liegt unsere Schuld, denn wir haben Angst vor den Teufeln, weil wir an sie geglaubt und sie verraten haben. 

Der „Fall“ Faber wird als wiederkehrender Prozess eingeordnet, in dem die Menschen ihre Sünden und inneren Dämonen auf den Heilsversprecher projizieren und ihn dann zu Fall bringen. Fabers Freundschaft verleiht Basile und Madeleine die gesuchte Bedeutung. Als er jedoch scheitert, weil sich die Ideale und die komplexe Identität dieses „Homo Faber“ nicht mit seinem Dasein als soziales Wesen vereinbaren lassen, werden auch die jugendlichen Hoffnungen der Freunde enttäuscht. Sie wenden sich von ihm ab, Gewalt und Kontrollverlust sind die Folge. Als sie erwachsen sind, soll der einst zum Idol erhobene Anführer, dessen Bild sie nicht loslässt, mit einem Racheplan zu Fall gebracht werden, der in der Katastrophe endet.

Nach und nach werden die Puzzleteile der Geschichte zusammengesetzt, doch durch den persönlichen Bericht der drei Freunde entstehen Leerstellen, Geschehnisse unterliegen der subjektiven Wahrnehmung und können nicht eindeutig verifiziert werden. Zeitsprünge und Perspektivwechsel erlauben eine allmähliche Annäherung an das Geschehene, die für Spannung sorgt und dem Text bereits formal verschiedene legitime Deutungsansätze einschreibt. Am Schluss tritt mit der Figur Tristan ein Doppelgänger des Autors als Erzähler, Beobachter und zentraler Akteur der Geschichte auf, sodass die Handlung in ein fiktionales Spiel überführt wird, das den Wahrheitsgehalt der Geschichte bestätigt und zugleich in Frage stellt. Der Erzähler macht die Fäden sichtbar, bietet im Text selbst verschiedene Lesarten der vorgeblich wahren Geschichte an und verwirft sie wieder, doch bleibt das Bild von Faber als symptomatische Figur seiner Epoche haften. Zeiten wie „lange Sommernachmittage abnehmenden Lichts“ brächten Menschen wie Faber hervor, die die Zeichen der Zivilisation deuten können – doch zieht es diese Zivilisation vor, ihre Propheten wegzusperren.

Obwohl dem Roman im letzten Teil ein wenig Straffung gutgetan hätte und die Konstruktion stellenweise zu deutlich durchschimmert, machen ihn die zahlreichen Deutungsebenen und die eingewebten Motive zu einer bereichernden Lektüre. Die Dreieckkonstellation der Freunde steht vor allem für das Scheitern einer Generation von Mittelstandskindern der späten Achtziger Jahre, die den Versuch aufgibt, dem eigenen Leben Bedeutung zu verleihen, aber von ihren Dämonen heimgesucht wird. Faber rebelliert gegen die herrschenden Kräfte der Gesellschaft, gegen die Enge der sie umgebenden Welt und wird so zunächst zur Leitfigur für seine Kameraden und später zum Inbild ihres versäumten Lebens, für das sie einen Schuldigen suchen. 

Ein fiktionaler Drahtseilakt mit zahlreichen intertextuellen und mythologischen Bezügen, der alle Sinne fordert und den Veränderungen der französischen Gesellschaft literarisch Rechnung trägt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Tristan Garcia: Faber. Der Zerstörer. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Birgit Leib.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2017.
428 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783803132888

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