Ein furioser Wälzer

Gardiners Buch über Bach

Von Michael PreisRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Preis

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach den 500-Jahr-Feiern 2016 zum Bayerischen Reinheitsgebot und 2017 zur lutherischen Reformation kann man 2018 ein kleineres Jubiläum begehen: das der Studentenbewegung von 1968. Sir John Eliot Gardiners Buch Bach. Musik für die Himmelsburg hat mehr mit diesen Daten zu tun, als es zunächst scheinen mag.

Während die USA den Vietnam bombardierten und Studenten weltweit gegen diesen Krieg auf die Straße gingen, gründete Gardiner das Monteverdi Orchestra. Zehn Jahre später rief er die English Baroque Soloists ins Leben und wurde neben dem 2016 verstorbenen Dirigenten Nikolaus Harnoncourt zu einem der Pioniere der Historischen Aufführungspraxis, wie sie ab Ende der 1950er-Jahre unter anderem die romantische Bach-Tradition herausforderte. Im selben Jahr schließlich, in dem die Berliner Mauer fiel, gründete Gardiner das Orchestre Révolutionnaire et Romantique, mit dem er sich ebenfalls auf die historisch informierte Aufführungspraxis beruft. Auf Originalinstrumenten interpretieren die Musiker nun das klassische und romantische Repertoire sowie Werke des frühen 20. Jahrhunderts.

Gardiners revolutionäre Ensembles gibt es immer noch. Mit dem bereits 1964 gegründeten Monteverdi Choir und den auf das Monteverdi Orchestra zurückgehenden English Baroque Soloists verfolgte er, so kann man es zu Beginn seines Bach-Buches nachlesen, im Jahr 2000 ein ehrgeiziges Projekt: die Bach Cantata Pilgrimage. In Dutzenden von europäischen Kirchen präsentierten die umtriebigen Musikerinnern und Musiker unter Gardiners Leitung damals die zahlreichen Kirchenkantaten von Johann Sebastian Bach, und zwar dem Jahreszyklus folgend, wie Bach ihn für diese Werke im lutherischen Kirchenjahr vorgesehen hatte. Beinahe verbietet es sich also, davon zu sprechen, dass jemand wie Gardiner der ideale Autor sei, um über Bach zu schreiben. Auch als studierter Historiker ist John Eliot Gardiner derzeit wohl eine der Autoritäten schlechthin, wenn es um Leben und Vokalwerk von Johann Sebastian Bach geht.

Blicke in ein Universum

In seinem furiosen Wälzer Bach. Musik für die Himmelsburg gibt Gardiner einen Einblick in das Universum dieses Komponisten. Es ist ein mitreißendes Buch geworden, ein Opus, mit dem sein Verfasser gegen den Heiligenkult um Bach opponiert, wie er seit dem 19. Jahrhundert gepflegt wird. Stattdessen interessiert sich Gardiner für den Menschen mit seinen Ecken und Kanten. Darüber hinaus bietet er eine Kulturgeschichte der Bach-Zeit. Er schildert darin die Umbrüche, denen die europäische Gesellschaft ausgesetzt ist, noch einige Jahrzehnte, bevor die Moderne anbricht.

„Unter den strengen Augen des Kantors“ habe Gardiner seine Kindheit verbracht, schreibt er im ersten Kapitel. Jeden Tag vor dem Schlafengehen war diesem Augenpaar kaum auszuweichen, befand sich doch das berühmte Haußmann-Porträt „auf dem Treppenabsatz im ersten Stock“, für jedermann gut sichtbar also in ebenjenem Anwesen, in dem Gardiner geboren wurde. Die Folgekapitel zeichnen in so elegant geschriebenen wie übersetzten Abschnitten das „Deutschland an der Schwelle zur Aufklärung“. Sie widmen sich der weitverzweigten Bachfamilie, der Situation des Glaubens im reformierten Deutschland nach dem 30-jährigen Krieg und zeigen „Bach an seiner Werkbank“. Und sie laufen vor dem Ende des „alte[n] Bach“ auf jeweils ein eigenes Kapitel über die beiden Passionen zu; diese hebt Gardiner als die vielleicht bedeutendsten von Bachs Werken heraus.

 Biografie konterkariert

Das entscheidende Kapitel findet sich in der Mitte des Buches: „Von Jahrgängen und Jahresläufen“ schildert Bachs Leipziger Kantatenproduktion ab 1723. Hier dekonstruiert Gardiner das biografische Schema, indem er die lineare Erzählung von der Geburt bis zum Tod durch das zyklische Denken konterkariert, das Bachs Kantaten jener Jahre zugrunde liegt: Jede dieser Kantaten habe ihren spezifischen Platz im Jahreslauf, so postuliert Gardiner, und als Zyklus werden diese Kantaten auch heute noch erst richtig verständlich.

Besonders deutlich wird diese dekonstruktive Spannung zwischen beiden Zeitkonzepten, während Gardiner über den zweiten Kantaten-Jahrgang schreibt: Hier hat Bach vor, 52 Kompositionen auf der Basis von Luther-Texten zu schaffen. Obwohl Bach diesen Plan vorzeitig abbrechen musste, ist der entstandene Zyklus laut Gardiner sehr geschlossen. Die „lineare Betrachtung“ dieser Werke habe trotzdem Nachteile,

denn sie kann uns den Blick auf die nicht minder spannenden Bezüge von einem Jahr zum anderen verstellen. Genau wie neben der horizontalen Verkostung guter Weine oder Whiskys auch die vertikale ihre Berechtigung hat, kann der ‚scheibchenweise‘ Vergleich der unterschiedlichen Ansätze, die Bach in verschiedenen Jahrgängen für denselben Anlass und dieselben Bibeltexte wählte, ebenfalls Einblicke in seine Künstlerpersönlichkeit eröffnen – die Mitwirkenden der Bachkantatenwallfahrt im Jahr 2000 haben das hautnah erlebt. Plötzlich steht Bach nicht mehr in Stein gemeißelt und göttergleich jenseits der Zeit, sondern tritt uns als wandlungsfähiger Mensch gegenüber, der im einen Jahr einen völlig anderen Ansatz verfolgte als im nächsten.

Kirche und Kaffeehaus

Die kulinarische Seite der Musikgeschichte streift Gardiner auch in einem der interessantesten Kapitel seines Buches: „Kantaten oder Kaffee?“ Dort zeigt er, wie Bach in Leipzig nicht nur dem (lutherischen) Glauben diente, sondern auch den leiblichen Bedürfnissen seiner Zuhörer. Zwar habe Luther, so Gardiner, unmissverständlich klargemacht, dass das Zuhören ein „heiliger Akt“ sei: „Gottes Wort war für Luther kein Text, sondern Klang, oder vielmehr eine Stimme, der es zuzuhören gelte: Vox est anima verbi (‚Die Stimme ist die Seele des Wortes‘).“ Doch bedauerte schon der Reformator selbst, dass dieses Zuhören alles andere als selbstverständlich sei.

In der Kirche konnte Johann Sebastian Bach nicht davon ausgehen, eifrige Hörer vorzufinden. Es galt, das Publikum zur Aufmerksamkeit zu zwingen. Der Gottesdienst war eine Veranstaltung, der viele weder von Beginn an beiwohnten noch bis zum Ende. Während sie in der Kirche weilte, unterhielt sich die Glaubensgemeinde oft eher mit sich selbst als mit dem Allerhöchsten. Man stolzierte in den neuesten Kleidern durch die Gänge, schnupfte eventuell Tabak. Ob der Gesang, sofern er erklang, ob seiner Vortrefflichkeit ergötzte, muss dahingestellt bleiben: Die vokale Qualität der Gemeinde reichte – allerdings vor Bachs Lebzeiten – von „grandios“ in Ulm bis „absolut erbärmlich“ in Bautzen.

Auch und gerade Bachs Kirchenkompositionen reagieren auf ein Publikum, das sich für Gottes Wort teils nur am Rande interessierte. Schockeffekte einer Musik, die eminent dramatische Züge trägt, dürften immer wieder für Aufsehen mit Redepausen sowie beim Klerus für Unmut gesorgt haben. Dieser schließlich trug Sorge, dass die allzu opernhafte Musik nicht zum Dienst an Gott führte, sondern von ihm ablenkte.

Ausprobiert und entfaltet hatte Bach sein dramatisches Potenzial auch in den neu entstehenden Kaffeehäusern zu Leipzig. Dort durfte er zuweilen auf ein gebildeteres Publikum hoffen als in der Kirche. Untergeben war dem Komponisten unter anderem das Collegium musicum, ein seit Georg Philipp Telemann sehr hochrangiges Orchester aus Berufsmusikern und Studenten, mit denen Bach seine Musik in neu entstehenden öffentlichen Räumen erprobte.

Hätte Gardiner zu Bachs Zeiten in Leipzig gelebt, er wäre wohl auch damals kein stummer Hörer geblieben. Sein tolles Bach-Buch vermittelt anschaulich die Faszination des Autors für seinen „Hausgott“. In vielen anregenden Analysen wirbt Gardiner dafür, Bachs Vokalwerke reflektiert, aber auch genießerisch zu hören. Wie ein ewiger Student zeigt sich Gardiner – mit der Mission, Bachs Erbe lebendig zu halten. Zwar politisiert er in diesem Buch nicht offen, mit Blick auf seinen Werdegang lässt sich dennoch mutmaßen, dass Bach-Hörer unter seiner Leitung nicht nur glauben und genießen, sondern im Zuhören womöglich ein theologisches Ideal und Movens von Politik erahnen sollen, das die Zeit überdauert, in der Bach seine komplexen Werke schuf.

Titelbild

John Eliot Gardiner: Bach. Musik für die Himmelsburg.
Übersetzt aus dem Englischen von Richard Barth.
Carl Hanser Verlag, München 2016.
735 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783446246195

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