Vom kleinen Verbrechen mit großer Tragweite

Andreas Gehrlach geht in seiner kulturwissenschaftlichen Studie „Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos“ einem prägenden Motiv der europäischen Geistesgeschichte auf den Grund

Von Michael BurgerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Burger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

DiebInnen sind überall. Nicht nur das alltägliche Leben ist von kleineren und größeren Diebstählen geprägt, sondern auch die Künste weisen eine große Affinität zum Diebstahl als narratives Element einerseits und der DiebIn als Figur andererseits auf. Diese oftmals mit Faszination geführte Auseinandersetzung in der Kunst spiegelt sich jedoch nur selten in den juristisch-rechtlichen Maßstäben wider, auf Basis derer die DiebInnen oftmals hart sanktioniert wurden. Das Buch des Kulturwissenschaftlers Andreas Gehrlach versucht nun, dem Diebstahl als Motiv in der Literatur und in mythischen Erzählungen nachzugehen und zugleich die historische sowie philosophische Perspektive nicht aus dem Auge zu verlieren.

Gehrlachs Untersuchungen beginnen folglich mit wichtigen Begriffseinschränkungen und theoretischen Annahmen, die den sehr umfassenden Themenkomplex in einen bearbeitbaren Rahmen bringen sollen. Zwei Überlegungen sind dabei von zentraler Bedeutung: Zum einen ist der Diebstahl, anders als der Raub, weder heroisch überhöht noch revolutionär, sondern geschieht heimlich und weitgehend ohne gesellschaftliche Relevanz; zum anderen steht der Diebstahl in Opposition zur Gabe. Wo die Gabe noch ein verbindendes Element darstellt, vollzieht sich durch den Diebstahl als Verstoß gegen eine vorhandene Ordnung eine intersubjektive Trennung. Diese Distanzierung wirkt zugleich konstitutiv auf das diebische Individuum und die Gesellschaft zurück: „Der Mensch behauptet sich, indem er sich im Diebstahl vom Bestohlenen […] als von einer ihm übergeordneten Macht absetzt und mit dem Diebesgut und der Reflexion darüber eine neue Kultur oder sich selbst als Individuum begründet.“ Gehrlach geht es folglich weniger darum, die Frage nach dem Warum eines Diebstahls zu klären, sondern darum, die unmittelbaren Folgen für Zivilisation, Kultur und Individuum aufzuzeigen.

In den sechs Kapiteln zeichnet er diese Begründungsgeschichte sehr genau und ausführlich nach. Das Quellenmaterial, auf das sich der Autor hierbei bezieht, hat einen beachtlichen Umfang: Es reicht von den Rechtsauffassungen des Alten Ägyptens über griechische sowie biblische Stoffe bis ins 20. Jahrhundert zu philosophischen Texten von Jacques Derrida und Jacques Lacan. Positiv ins Bild passt zudem, wie komplexe philosophische Zusammenhänge nachvollziehbar erläutert werden, wodurch es Gerlach gekonnt schafft, nicht allzu viel an Wissen für die Lektüre vorauszusetzen. Dennoch richtet sich das Buch dezidiert an ein Fachpublikum und an interessierte Laien, denen Namen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Augustinus und Derrida zumindest ein Begriff sind.

Bis einschließlich des vierten Kapitels liest sich das Werk als sehr gut recherchierte und ausgezeichnet aufgearbeitete Motivgeschichte des Diebstahls in vorwiegend mythisch-theologischen und philosophischen Texten. Zwar wird die These, dass die Philosophie im Generellen ein Problem habe, DiebInnen zu denken, lediglich anhand von Hegel und Karl Marx erörtert. Ebenso schleicht sich eine gewisse Redundanz ein, wenn unterschiedliche Deutungen zum Prometheus-Mythos und biblischen Geschichten im Hinblick auf den Diebstahl erläutert werden, aber dennoch verliert Gehrlach nie seinen zentralen Gegenstand aus den Augen. Vor allem erscheint seine Überlegung kontrovers und radikal, wenn der Autor dem Christentum einen starken Hang zum Diebstahl attestiert, indem die Religionsgemeinschaft Elemente und Aspekte aus der heidnischen Umwelt in ihre Ideologie inkorporiert. Diese Diebstähle dienen im Wesentlichen dazu, die Gemeinschaft gegen äußere Bedrohungen zu festigen und gegebenenfalls neu zu konstituieren. Dadurch perpetuiert das Christentum den Prometheus-Mythos, der ebenfalls eine kulturbegründende Funktion übernimmt, unter veränderten Bedingungen.

Zu den spannendsten und lesenswertesten Abschnitten zählen die beiden letzten Kapitel, in denen sich Gehrlach zum einen mit autobiografischen Texten und zum anderen mit einer grundlegenden sprachphilosophischen Überlegung zum Thema des Diebstahls beschäftigt.

Anhand der autobiografischen Texte von Augustinus und Jean-Jacques Rousseau exemplifiziert Gehrlach, wie der Diebstahl eines eigentlich unbedeutenden Gegenstandes eine Reflexionsfähigkeit freisetzt, die konstitutiv für das Individuum und seine Art des In-der-Welt-Seins ist. Der Widerstand gegen die Ordnung generiert ein der Erkenntnis fähiges Subjekt und präsentiert sich im Rahmen der beiden Autobiografien als Schlüsselmoment.

Gehrlach schließt seine Überlegungen, indem er die prinzipielle Verfasstheit von Sprache in einem philosophischen Kontext reflektiert. Ausgehend von der Diskussion von Derrida und Lacan zu Edgar Allen Poes Kurzgeschichte Der entwendete Brief widmet sich Gehrlach der sprachphilosophischen Dimension des Diebstahls. Sprachliche Zeichen, so Gehrlachs Feststellung, funktionieren nur deswegen, weil wir uns ständig gegenseitig die Wörter und Symbole stehlen. Hier mag man vielleicht – da der Name schon in den Vorüberlegungen fällt – Derridas Begriff der Iteration vermissen, der sich gut eingefügt hätte.

Während der Lektüre vermisst man jedoch zunehmend einen geschlechtssensiblen Umgang mit der zentralen Fragestellung, da stets nur vom Dieb im Maskulin die Rede ist. Interessant wäre hier gewesen, die möglichen Unterschiede in der diebischen Aneignung zu reflektieren, sobald aus dem Dieb eine Diebin wird. Denn auch das verwendete Quellenmaterial gäbe zumindest Anlass, diesen Umstand stärker zu berücksichtigen, wenn Gehrlach beispielsweise Simone de Beauvoirs Roman Das Blut der anderen oder den Apfeldiebstahl Evas aus der Bibel erörtert. Hierbei belässt es der Autor oft mit kurzen Erläuterungen, die ein potentielles Arbeitsfeld antizipieren sollen. Hierdurch wirkt das Werk, zumindest aus der Perspektive der Gender Studies, ein wenig unausgegoren.

Letztlich präsentiert sich Gehrlachs Studie dennoch als absolut lesenswert. Sie ist mit wenigen Abstrichen (beispielweise die Redundanz in den ersten drei Kapiteln, in denen die unterschiedlichen Prometheus- und Bibelinterpretationen und zum Teil die Argumentation der Primärquelle zu detailliert nachvollzogen werden) erkenntniserweiternd. Auch die Menge an bearbeiteten Materialien zeigt, weshalb es sich beim Diebstahl um einen wesentlichen, aber doch vergessenen Aspekt der europäischen Ideen- und Kulturgeschichte handelt. Leider bremsen die Erklärungen des Autors zum weiteren Vorgehen und die Erläuterungen, weshalb genau diese oder jene Quelle gewählt worden ist, den ansonsten sehr angenehmen Lesefluss. Dennoch schafft es Gerlach, sein wesentliches Anliegen im Fokus zu behalten und zumindest weitere Auseinandersetzungen mit der Materie, wie beispielsweise Fragen zur Sexualität und des Plagiats, anzudenken. Gehrlach gelingt mit Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos eine kulturwissenschaftliche Studie, wie sie in ihrer Breite, ihrem Thema und ihrer Klarheit nur selten zu finden ist.

Titelbild

Andreas Gehrlach: Diebe. Die heimliche Aneignung als Ursprungserzählung in Literatur, Philosophie und Mythos.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
421 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783770560004

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