Droben in der Zukunft

William Gibson schaut in seinem neuen Roman „Peripherie“ wieder weiter in die Zukunft hinaus

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den letzten Jahren war William Gibson mit seiner Science-Fiction ganz nah an die Gegenwart herangerückt. Bloß ein Wimpernschlag trennte seinen Roman Mustererkennung von der allgegenwärtigen Jagd nach flüchtigen Selfies. Sein neues Buch Peripherie nimmt nun die Zukunft wieder stärker in den Blick.

Der Roman führt die Leser ohne Umschweife in eine verblüffend spielerische Szenerie ein. Als Game-Testerin übernimmt Flynne alias Easy Ice einen Securityjob. In einer virtuellen Wirklichkeit soll sie mit einem Fluggerät lästige Paparazzidrohnen von einem Hochhaus fernhalten. Dabei wird sie Zeugin eines Verbrechens. Flynne ist deswegen nicht schockiert, sie besitzt genügend Erfahrung mit Killergames. Doch bald geraten die Dinge heillos durcheinander. Was sie für eine Game-Umgebung gehalten hat, erweist sich als Lebenswelt, die rund 70 Jahre später real stattfinden wird. Entsprechend hat Flynne einen wirklichen Mord beobachtet, der noch zu verhindern wäre.

William Gibson verdoppelt in seinem neuen Roman die Zukunft zu einem verwirrenden Plural. Flynne lebt um die Mitte des 21. Jahrhunderts in einem Kaff namens Davisville (North Carolina), im Jargon auch „Buttholeville“ genannt. Abgesehen von ein paar reichen Mafiosi und ihren gekauften Politikern leben die Menschen hier in ärmlichen, trüben Verhältnissen. Man geht zur Army oder arbeitet im Drogenbau, dem einzigen nennenswerten Erwerbszweig. Natürlich tummeln sich auch religiöse Fanatiker in der Gegend und ein paar rebellische Außenseiter wie Flynne, ihr Bruder Burton oder die Freunde Macon und Edward, die eine halblegale 3D-Druckerei führen. Die ungerade nummerierten Kapitel erzählen von ihnen, im Wechsel mit den gerade nummerierten Kapiteln, die im frühen 22. Jahrhundert in London spielen. Die ehemalige Metropole wirkt entvölkert, der sogenannte „Jackpot“ hat rund 80 Prozent der Menschheit hinweggerafft. Nur eine reiche Oberschicht hat überlebt und sich in friedlicher Koexistenz eingerichtet. Gerade deshalb schockiert der von Flynne beobachtete Mord einige Menschen, unter ihnen den Oligarchen Lev Zubov, sein Faktotum Wilf Netherton sowie die Detective Inspector Lowbeer. Sie müssen den Fall auflösen, um ihre heile Welt zu retten. Flynne ist dafür als einzige Augenzeugin unentbehrlich.

So beginnen sich die beiden Welten allmählich zu durchdringen und ineinander zu verzahnen. Im Wechsel zwischen Davisville und London entfaltet sich einen Kriminalplot, der fesselnd zu lesen ist und zugleich ausgesprochen behutsam mit den Thrillerfaktoren umgeht.

William Gibsons große Kunst besteht seit jeher darin, dass er seine Leser und Leserinnen in medias res führt, ohne darauf zu achten, ob ihnen neue Begriffe und verwirrende Phänomene auf Anhieb bekannt vorkommen. Er erzählt ganz aus der Logik seiner Story heraus. Demnach ist der Vorgang des „fabbens“ in Davisville allen geläufig und ebenso wenig benötigen „Peripherals“ in London weitere Erklärungen. Hinzu kommt, dass sich Gibson in keiner Weise darum kümmern mag, technische Details zu begründen und plausibel zu machen. Er hat sich wiederholt selbst als Laien im virtuellen Feld bezeichnet, lieber lässt er seinen Witz und seine Imagination spielen. Die Erfindung des Begriffs „Cyberspace“ anfangs der 1980er-Jahre ist entsprechend eine genuin poetische Setzung. In William Gibsons Büchern tritt aus der Literatur eine neue Realität heraus. Mittlerweile kann er sogar darauf vertrauen, dass Nerds in aller Welt nichts lieber tun, als den technischen Tatbeweis für seine literarischen Schöpfungen zu erbringen.

Diese Zurückhaltung kennzeichnet auch seinen Roman Peripherie. Die neuen Technologien dienen dazu, eine Atmosphäre zu schaffen, innerhalb der die Menschen längst durchdrungen sind von nanotechnischen und biomorphen Segnungen. Was früher ein Smartphone leistete, wird über das „Sigil“ des Anrufers oder einen informativen „Feed“ direkt im Sehfeld sichtbar. Auch das künstliche Leben hat einige Quantensprünge hin zum Artificial Life vollzogen.

Mit seiner technischen Überlegenheit versucht London, einen Kontakt mit Flynne herzustellen. Mithilfe einer Telepräsenz-Schnittstelle, die als Downgrade von Flynnes Freunden gefabbt werden kann, gelingt es tatsächlich, die Zeitlücke zu überbrücken. Flynne legt sich eine Apparatur um den Kopf, schließt die Augen, zählt von 15 bis Zero, um im Körper eines Peripherals in London aufzuwachen. Dieser künstliche Körper wird von Flynnes Geist durchflutet, so dass sie sich in dem neurophysiologisch gesteuerten Telepräsenz-Avatar in der Zukunft bewegen kann, während ihre vegetativen Bedürfnisse in Davisville siebzig Jahre zurückbleiben.

Aus dieser Konstellation entwickelt sich ein folgenreiches Hin und Her zwischen den zwei Zukunftswelten. Der Kampf um Macht, der sich in London anbahnt, verlagert sich zurück nach Davisville, wo zwei Gruppen um Macht, Einfluss und konjunkturellen Aufschwung streiten. Bald zeigt sich, dass wer die eine Auseinandersetzung gewinnt, auch in der anderen obsiegen würde. Mitten drin ist Flynne, die nur zuhause in Davisville wirklich sterben kann, weshalb sie hier um jeden Preis geschützt werden muss. Dafür lässt die Londoner City über einen mysteriösen Anwalt namens Griff Geld aus der Zukunft herüberwachsen und in Davisville investieren.

Dieses manichäische Ringen wird von William Gibson mit feiner Zurückhaltung und Ironie inszeniert. Er benötigt dafür keine Schockeffekte. Selbst den besagten „Jackpot“ schildert er nicht als jähes globales Desaster, sondern als eine sich über vier Jahrzehnte hinziehende „anthropogene, systemische, multifaktorielle Scheiße“, die die Menschen allmählich mit Kohlenstoff und Krankheitskeimen umbrachte. Dabei lässt er durchblicken, dass das Elend auf technisch-wissenschaftlicher Seite von verblüffenden Innovationen begleitet wird, wie man es auch heute oft propagiert. Im Endeffekt aber würde davon nur eine reiche Oberschicht profitieren, die eine entvölkerte Londoner City mit etwas viktorianischem Kitsch lebenswert gestalten. Wogegen Davisville schon 2014, als der Roman im Original erschien, wie ein wirtschaftlich abgehängtes County beschrieben wurde, in dem die Wahl Donald Trumps gesichert wäre. Dennoch wirkt dieses Davisville mit seinen schrägen Typen vitaler als die traurige kleptokratische Kulisse. William Gibson gibt sich diesbezüglich geradezu spröde realistisch. In solchen Zwischentönen entwickelt der Roman seine visionäre Kraft.

Demgegenüber handelt er den finalen Showdown auf wenigen Seiten ab. So sehr Peripherie als Thriller daher kommt, und so faszinierend er die technischen Settings beschreibt, im Kern interessiert sich William Gibson primär für „das stinknormal Menschliche“, für die gesellschaftlichen Verwerfungen und Entwicklungen, die er aus einem gegenwärtigen Blickwinkel interpoliert. Wo bleibt der Platz des Menschen in einer Welt, in der sich die Menschen selbst überflüssig machen?

Flynne soll mithelfen, den Mörder in der Londoner Zukunft zu entlarven. Würde das gelingen, könnte auch in Davisville das Komplott eines dubiosen Politikers vereitelt werden. Vielleicht ließe sich dann sogar der „Jackpot“ verhindern. Mit diesen verwirrenden zeitlichen Überlagerungen spielt Gibson mit dem alten literarischen Topos des „back to the future“. Die Welt würde besser, doch wäre es noch dieselbe Welt?

Wer an ersteres glaubt, kann sich wie Lev Zubov und Detective Inspector Lowbeer zu den „Kontinua-Enthusiasten“ zählen. Sie glauben daran, dass es ein historisches Kontinuum gibt, das eine Epoche aus der vorangegangen entstanden und erklärbar ist. Die traditionelle Science-Fiction spielt damit. Über einen mysteriösen chinesischen Server suchen diese Enthusiasten Kontakt mit der Vergangenheit aufzunehmen, mit dem Effekt, dass daraus „eine Gabelung der Kausalität“ entsteht, was zu einem „neuen Ast mit einer eigenen Kausalität“ führt: einem historischen Stummel („Stub“). Anders formuliert: Der nicht weiter erklärbare, im Kern indes paradoxe Vorgang erzeugt gewissermaßen historische Fragmente, die einem Hologramm vergleichbar eine Gesamtheit nur noch vorgaukeln, indem es die zersplitterten Sehweisen virtuell zusammenführt. Exakt damit schließt William Gibson an seine allererste Publikation an: Fragmente einer Hologramm-Rose von 1977, einer kurzen Erzählung voller dunkler Andeutungen. Einer der Protagonisten will mit einem technischen Hilfsmittel nochmals in die Welt seiner Ex-Geliebten eintauchen. Doch er muss erkennen: „Wir sind bloße Fragmente voneinander“ und die Geschichte besteht nur aus vereinzelten Dingen, Zuständen und Emotionen.

Sollte der Kampf gegen das Kartell der Bösen in Peripherie tatsächlich gewonnen werden, hätte das einschneidende Folgen, allem voran für Detective Inspector Lowbeer. Denn in der Person von Anwalt Griff, der den Widerstand in Davisville koordiniert, steckt niemand anderer als sie, die 70 Jahre ältere Detective Inspector Lowbeer. Gewänne sie also den Kampf in Davisville und veränderte sie so den Lauf der Dinge, so koppelte sie sich selbst von ihrer eigenen Vergangenheit ab, um sich in einem historischen Stummel wiederzufinden. Verwirrende Zustände: „Ich bin in der Zukunft, die sich ergäbe, wenn ich nicht bei Ihnen wäre. Da ich aber bei Ihnen bin, ist es nicht Ihre Zukunft. Hier.“ Wer würde dann in der Rolle von Detective Inspector Lowbeer die Welt retten?

Derlei kann Kontinua-Enthusiasten, wie wir es (fast) alle sind aus Gewohnheit und Fantasielosigkeit, durchaus in geistige Turbulenzen stürzen. Gerade deshalb ist es höchst reizvoll, ein solches Szenario nachzudenken. William Gibson hilft uns mit seinem faszinierenden Roman auf die Sprünge.

Titelbild

William Gibson: Peripherie. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann.
Tropen Verlag, Stuttgart 2016.
616 Seiten, 24,95 EUR.
ISBN-13: 9783608501247

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