Mit dem Kino auf den Spuren von Goethe, Molière und Shakespeare

Jörn Glasenapps Sammelband „Weltliteratur des Kinos“ und die Vor- und Nachteile aktueller Untersuchungen von Literaturadaptionen

Von Felix T. GregorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix T. Gregor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für Sergej Eisenstein war es eindeutig, worin die ästhetischen und narrativen Ursprünge des Films begründet liegen. Nicht aus den Werken anderer visueller Medien wie der Fotografie, der camera obscura oder der Malerei entwickelte für ihn der Film seine für uns medienspezifischen Ausdrucksweisen. Es war vielmehr die Literatur, mit der dieser laut Eisenstein untrennbar verbunden war – und vielleicht heute noch ist. In seinem 1942 erschienenen Aufsatz „Dickens, Griffith und wir“ erkor Eisenstein entsprechend den viktorianischen Roman nach Charles Dickens zum Vorbild für das frühe Kino, das besonders mit den Filmen solcher Regisseur*innen wie David Wark Griffith verbunden ist und heute noch immer in zahlreichen Konventionen des Hollywood-Kinos fortlebt. „Nun – so seltsam es uns auch vorkommt: hier liegen […] die Wurzeln des Films“, schrieb Eisenstein zu Dickens Bedeutung für die nicht nur narrativen, sondern auch audiovisuellen Anfänge des filmischen Mediums. Der jüngst erschienene und von Jörn Glasenapp, bezeichnenderweise Professor für Literatur und Medien an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, herausgegebene Sammelband Weltliteratur des Kinos versucht in elf Einzeluntersuchungen den Phänomenen der literarischen Verfilmung, Übersetzung, Adaption bzw. Transformation vergleichbare Aspekte der medialen Verflechtung und Abhängigkeit, zugleich aber auch Abgrenzung und Individualisierung zwischen Literatur und Film zu entlocken. Nicht allein angesichts der heute noch immer sehr populären und entsprechend zahlreichen Literaturadaptionen des Kinos erscheint dies als ein äußerst produktives Unterfangen. Diese Produktivität schafft der Band in einzelnen Beiträgen in besonderer Weise aufzuzeigen.

So beginnt Judith Ellenbürger ihren Aufsatz zu Friedrich Wilhelm Murnaus Herr Tartüff mit der Feststellung, dass Molières Vorlage nicht von Beginn an als das Stück Weltliteratur gesehen wurde, das sie heute ist. Vielmehr wurde seinem Text, der von den Falschspielen eines (schein-)heiligen Geistlichen erzählt, Gotteslästerung vorgeworfen, ein negatives Urteil, das auch Murnaus Film als für uns heute prototypische Literaturverfilmung nach seiner Premiere ereilte. Hiervon ausgehend zeigt Ellenbürger zunächst auf, dass das Phänomen der Literaturverfilmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts generell kritisch betrachtet wurde, um so in ihrer eigenen Analyse von Herr Tartüff von dem Begriff der Verfilmung Abstand zu nehmen, „denn eine Verfilmung ist kein ‚buntes Kostüm‘, das dem Text schlicht übergestülpt wird“ (S. 13). Anstelle dessen schlägt Ellenbürger den Begriff „Transformation“ in Anlehnung an Irmela Schneider für die Verhandlung der literarischen Vorlage im Film vor. Auf diese Weise, darin liegt eben jene Produktivität des Ansatzes, muss sie sich nicht mehr mit Fragen der geglückten bzw. gescheiterten Werktreue, die nicht nur zu den negativen Kritiken zahlreicher Literaturverfilmungen in den Anfangsjahren des Films beigetragen hat, sondern bis heute oftmals auch das wissenschaftliche Schreiben über Literaturverfilmungen noch prägt, beschäftigen. Diese Prozesse der Transformation versucht Ellenbürger daraufhin an ausgewählten Sequenzen aus Murnaus Film zu verdeutlichen, indem sie aufzeigt, dass durch die Möglichkeiten des filmischen Bildes und der Montage sowie durch den Einsatz von angepasster Begleitmusik neue Schichten eines Werkes geschaffen werden können, die derart in der literarischen Vorlage nicht vorhanden sind.

Eine andere Herangehensweise an die Frage von Literaturverfilmungen und ihre kritisch-wissenschaftliche Betrachtung, die mitunter zu den aufschlussreichsten im gesamten Sammelband gehört, schlägt Johannes Weber vor. In seinem Text zu Akira Kurosawas Das Schloss im Spinnwebwald macht sich Weber für die Ansätze der angloamerikanischen Adaptation Studies als einen offenen Zugriff auf die Übersetzungsprozesse von Literatur in den Film stark. Ausgehend vom Tod der Autor*in im Barthes’schen Sinne fragen die Adaptation Studies nicht, wie die literarische Vorlage mit dem filmischen Endprodukt in einer Beziehung steht, sondern welche Prozesse gerade in dem Raum zwischen diesen als einem Raum der Übersetzung und Mehrwertproduktion stattfinden. „Neben mash-ups wimmelt es in den Adaptation Studies von Begriffen, mithilfe derer man versucht, der monströsen, da Hybridwesen schaffenden Adaptionsphänomene Herr zu werden: parodies und retellings, translations und variations, updates und recyclings, re-makes und re-writes, fan-fiction und companion novels“, fasst Weber das neue Begriffsinstrumentarium entsprechend zusammen. Gerade in seiner darauffolgenden Auseinandersetzung mit Kurosawas Shakespeare-Adaption von Macbeth scheint diese Pluralität der Untersuchungskategorien mehr als notwendig, findet sich bei Kurosawa neben der basal an Shakespeares Werk angelegten Grundhandlung und ihrer Komposition kein weiterer Hinweis auf die literarische Vorlage. Webers interessante Zusammenführung von Text und Film unter dem Zeichen der Adaptation Studies eröffnen somit neue Ansätze für die Auseinandersetzung mit literarischen Stoffen im Kino. Sie wird allein durch einige kleine Falschübersetzungen japanischer Begriffe etwas getrübt.

Lisa Gotto versucht wiederum in ihrer Untersuchung des Films The Human Stain nach Philip Roths gleichnamigen Roman auf die Herleitung und den Rückbezug auf einen theoretischen Überbau gänzlich zu verzichten. Vielmehr soll „Bentons Film The Human Stain […] nicht in Form eines kritischen Vergleichs mit Roths Roman untersucht“ werden, sondern „als ein Text betrachtet [werden], der die produktive Rezeption eines anderen Textes vorführt. Es soll also nicht um eine Ableitung, sondern um eine Umleitung gehen, nicht um die angebliche Reduktion von Komplexität, sondern um die Verdichtung einer Textur.“ (S. 244). Entsprechend erscheinen Film und Literatur bei Gotto wie selten sonst im vorliegenden Sammelband in einem permanenten Dialog zu sein, wenn Beobachtungen am Roman beginnen, um dann in den Analysen ausgewählter Filmsequenzen fortgesetzt zu werden. Das diese Vermischung von Schrift und Bild, Text und Film, eine bereits in den jeweiligen Medien produzierte Beziehung ist, die dadurch zum Ausdruck der propagierten Umleitung im Prozess der Adaption wird, zeigt das von Gotto ausführlicher untersuchte Ende in Bentons Film. Das Weiß einer Schneelandschaft wird für sie hier zum Weiß der Leinwand, das sich wiederum als das Weiß eines Computerbildschirms zu erkennen gibt, in dem die ersten Zeilen der Erzählung The Human Stain erscheinen. Die Frage nach Verfilmung oder Adaption scheinen in diesem Moment obsolet zu werden, fallen doch Film und Text hier zusammen und werden zu einer neuen Einheit. Dieses Werden zeigt in besonderer Weise den produktiven Mehrwert einer Literaturadaption im Kino auf.

Jörn Glasenapps eigener Beitrag zu Béla Tarrs Krasznahorkai-Adaption Satanstango zeigt schließlich als letztes hervorzuhebendes Beispiel auf, wie man sich in der Auseinandersetzung mit filmischen Literaturadaptionen wiederum den spezifischen Eigenschaften und Möglichkeiten eines schriftlichen Textes annähern und bedienen kann. So fungiert Glasenapps Text als ein Begriffslexikon zu Tarrs Filmen, das bei A wie Adaption beginnt, über E wie Einstellung, F wie Fenster und K wie Kinder fortläuft (allesamt wichtige bzw. wiederkehrende Bildmotive in Tarrs Filmen und Krasznahorkais Texten), um bei Z wie Zwang zu enden. Und trotz dieser originellen Filmadaption im Medium des Textes ist auch Glasenapp letztlich nicht davor gefeit zu fragen, ob „die Größe Tarrs der Literatur geschuldet“ ist, ob also am Ende nun der Film oder die Vorlage besser sei.

Neben den hier genannten Positivbeispielen für eine neue Beschäftigung mit Literaturadaptionen im Film macht der vorliegende Sammelband zugleich an anderen Stellen (eher ungewollt) auch auf die Schwierigkeiten derselben aufmerksam. Elisabeth K. Paefgens Text beispielweise zeigt, dass sich der klassische Vergleich zwischen Literatur und Film in Hinblick auf die medialen Unterschiede, die ein Prozess der Übersetzung unweigerlich mit sich bringt, im Sinne eines etwas redundanten „Hier funktioniert der Film anders als der Text“ immer noch hartnäckig hält. Auch hätte dem Band eine zum Geleit vorangestellte, allgemein einführende Beschäftigung mit den Theorien und Untersuchungsansätzen der sowohl historischen wie auch gegenwärtigen Filmadaptionsforschung sicherlich gutgetan. Die einzelnen Beiträge versuchen dies zum Teil zu leisten, können es verständlicherweise aber aufgrund ihrer Fokussierung auf ein konkretes Beispiel nicht in dem Maße umsetzen, wie es ein Einführungskapitel hätte tun können. In diesem Kontext erscheint auch die Auswahl der untersuchten Filme und Texte stellenweise etwas disparat und unbegründet zu sein, zumindest wenn man sie unter der im Titel des Bandes prominent vertretenen Begrifflichkeit der Weltliteratur betrachtet. Hieran wird der Kontext der Beiträge, eine Vorlesungsreihe an der Universität Bamberg im WS 2012/13, allzu deutlich.

Trotz dieser kleinen Schwächen des Bandes machen die einzelnen Beiträge insgesamt nicht nur Lust, die Filme neu zu sehen, sondern vor allem auch Lust darauf, die Texte neu zu lesen und in ihnen, ganz im Sinne Eisensteins, ihre filmischen Nachkommen zu suchen und zu finden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jörn Glasenapp (Hg.): Weltliteratur des Kinos.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016.
299 Seiten, 36,90 EUR.
ISBN-13: 9783770560509

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