Der Mythos als Telos des Bios im Kosmos

Jonas Grethleins narratologische Perspektiven auf die Odyssee

Von Maria BehreRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maria Behre

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Umberto Eco erläutert in einem seiner Sechs Streifzüge durch die Literatur 1994 an der Harvard University anhand Homers Odyssee die zentrale erzähltheoretische Unterscheidung der russischen Formalisten: Fabel bzw. Story ist nicht Sujet bzw. Plot. Die Story des Odysseus führt von Troja nach Ithaka, der Plot der von Homer erzählten Odyssee ist aber nicht chronologisch und die Erzählsituationen richten sich auf unterschiedliche Auditorien: Es wird vom Erzähler über Odysseus berichtet, und er erzählt selbst seine Geschichte, und zwar in verschiedenen Versionen vor diversen Zuhörerschaften. Obschon die Story des Odysseus vor Homer vielen längst bekannt war, so wurde sie erst durch ihn zum Ereignis des Erzählens per se. 

Die so in Erinnerung gerufene Kunst des Erzählens wurde im NRW-Zentralabitur 2017 für den Deutsch-Leistungskurs sogar zum Thema, in Gestalt des von Eco sogenannten „Fiktionspakts“ zwischen Erzählenden und Lesenden. Dann wird vielleicht auch die vorliegende Odyssee-Analyse Jonas Grethleins, des 1978 geborenen Lehrstuhlinhabers für Griechische Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg und europäisch geförderten Forschers zum Thema „Experience and Teleology in Ancient Narrative“, kurz übersetzt als „Erzählung in der Antike“, kanonisch. Grethlein vermittelt erhellende Einsichten und erweist die Modernität der Odyssee in solcher Weise, dass eine Lektüre des griechischen Originals unter seiner Leitung plötzlich für jeden möglich erscheinen mag.

Sicher, das Werk ist bekannt, genauso wie seine Vermittlungsmöglichkeiten. So verzichtet Johannes Bobrowski 1955 im Vorwort seiner Ost-Berliner Neu-Herausgabe der Gustav Schwabschen Sagen von Troja und von Irrfahrt und Heimkehr des Odysseus nicht darauf, kulturpolitisch weise „den Drang der Griechen, über das Meer in ferne Länder vorzudringen und die Seltsamkeiten der Fremde zu enträtseln“, zu betonen. Auch heute werden – trotz oder gerade wegen diverser Medien-Mythen – in der fünften Klasse im Deutsch-Unterricht die Sagen und die Frage nach dem Heldenstatus des Protagonisten der Abenteuer thematisiert. Dabei hilft z.B. in herausragender Weise Michael Köhlmeier, der Walter-Hasenclever-Literaturpreisträger der Stadt Aachen des Jahres 2014, mit seinen Bestsellern Sagen des klassischen Altertums (1996) oder Das große Sagenbuch des Klassischen Altertums (1999). Er fragt nach einem „Oneliner“ der Odyssee: Ist es eine Abenteuer-, Heimkehrer-, Lügen- oder Liebes-Geschichte? Ist Odysseus eher der einsame Wolf als Abenteurer und unglücklich-glücklicher Heimkehrender oder ein in komplexen sozialen Beziehungen Stehender, als Sohn, als Ehemann, als Liebhaber, als Vater, als sorgender oder gefährdender Gefährte, als Gastfreundschaft Gestaltender zu betrachten?

Schon auf dieser Ebene, die Köhlmeier brillant in Deute- und Leselust gestaltet, steht die Frage nach der Funktion der Erzählungen im Vordergrund; es sind erzählte Erfahrungen, die die Erfahrungen der Lesenden, seien sie vergangen oder zukünftig, faktisch oder im Fiktionalen verankert, bereichern.

Grethlein stellt seine Erkenntnisse nun auf die Ebene aktueller narratologischer Forschung. Dabei ist für ihn die Schlüsselszene, dass sich Odysseus und Penelope bei ihrer Wiederbegegnung vor allem ihre Erfahrungen erzählen, was umso erstaunlicher ist, weil das zu erwartende Liebesspiel demgegenüber zurücktritt. Sie ‚erkennen sich‘ und die Kraft ihrer 20-jährige Trennung überdauernden Liebe − im hebräisch-alttestamentlichen Sinne („und Adam erkannte Eva“, Gen 4,1) − an ihrer Kunst des Erzählens von Erfahrungen. Für Grethlein ist dieses wahrhaftige „Ende“ als Telos der Odyssee – die ja nach dem XXIII am Hof von Ithaka in den Hades und in Gebiete weiterführt, die noch nie etwas von Meer, Seefahrt oder Rudern gehört und gesehen haben – der Schlüssel zum Verständnis des Ganzen. Es geht nicht um das „Was“, sondern um das „Wie“, das Erzählbare, den Mythos oder das Epos als Ausgangs- und Zielpunkt des Bios, des Lebbaren. Diese Botschaft wird den Lesenden der umfangreichen Darstellung immer wieder vor Augen geführt und bedeutet zweifelsohne eine eindrucksvolle Erkenntnis.

Innerhalb der aktuellen Forschungsdiskussion um das Narrativ und die Theorien des Narrativen liegt hier eine bodenständige und mithilfe der Antike auch die Basis der Kulturgeschichte fundierende Untersuchung vor, die auf keine Spezial-Theoreme irgendeiner Schule begrenzt bleibt. Grethlein zitiert wichtige Gräzisten unterschiedlicher Generationen wie Uvo Hölscher (1914-1996) und Glenn Warren Most (geb. 1952). Hölschers Diktum von der Antike als „das nächste Fremde“ schafft den Raum, um unsere Rezeption zu reflektieren. Leider weist Grethlein nicht auf, dass für Hölscher und durch Hölscher auch Hölderlins Zusammendenken von Hellas und Hesperien als kulturgeschichtliche Wanderung von der Antike in den Akut des Aktuellen (vgl. Hölderlins Anmerkungen zur Antigone) epochemachend war. In Hölschers Werk Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman (1988) liegt Grethleins Fragestellung nach dem Verhältnis der Erzählperspektivenwahl auf wundersame Ereignisse im Unterschied zu einer Bildungsgeschichte des Einzelsubjekts schon vor. Nach 1988 erschien aber erst in deutscher Sprache Paul Ricoeurs Zeitphilosophie (1983-85), auf die sich Grethlein stützt, um z.B. zu erläutern, dass die Göttin Athene einfach die Nachtzeit dehnt, damit Penelope und Odysseus einander ihre Geschichte zu Ende erzählen können, während der folgende Tag überstürzt beginnen muss, damit Odysseus nach sehr gerafftem Liebesvollzug bzw. lakonisch einversig dargestellter Ehebettnutzung („Die erneuerten froh den Brauch des früheren Lagers“) weiterziehen kann. 

Neben Hölschers kulturgeschichtlicher Ausweitung greift Grethlein auf Glenn Mosts Methode der klärenden Strukturierung, Parallelisierung, Gegenüberstellung als Engführung zurück. Diese hat Most in seinem Werk Raffael − Die Schule von Athen: Über das Lesen der Bilder (1999), leider immer noch vergriffen, elegant vorgeführt; diese integriert auch Grethlein in seine Odyssee-Darstellung, die kein fachwissenschaftliches Werk ist, sondern ohne griechische Lettern, nur in Transkription für interessierte Nicht-GräzistInnen, und führt die graphische Darstellungsweise seines Vorgängers auf dem Heidelberger Lehrstuhl (1991-2001) über die Struktur der Apologe (1989), also der Erzählungen des Odysseus beim Königshof der Phäaken im Buch IX, fort. Von Grethleins Hinweisen her möchte man gleich eine Struktur des Gespräches zwischen Penelope und Odysseus im Buch XXIII gestalten. Grethlein betont als Keyword terpsis, er übersetzt es als ‚Ergötzen‘, wählt aber leider nicht die leicht zugängliche Übersetzung als ‚Freude‘ von Roland Hampe (1908-1981). Die besondere philologische Herausforderung liegt in der Hermeneutik des Ergötzens bzw. der Freude: Welche Energiequelle ist stärker, die der Liebe/des Beischlafs oder die der Erzählung/des Berichtens? Oder darf gar nicht mehr so gefragt werden, sondern zählt nur ‚die Parallele zwischen Liebe und Lesen bzw. über die Liebe Lesen‘, „Liebes- und Leselust“, „Genuß am Erzählen und […] am Geschlechtsverkehr“. Kernstelle ist dann: „Aber nachdem sich die beiden der Liebe erfreut, der ersehnten,/ Freuten sie sich am Erzählen und sprachen noch lang miteinander“. 

Penelope will ein Zeichen und gewinnt es in Odysseus‘ Erzählung von der Genese des durch ihn selbst in einen Ölbaum integrierten, unverrückbaren Ehebettes, das man sich kaum visuell als Gegenstand vorstellen kann, denn wir haben nur die umkreisende, prozessuale Konstruktions-Beschreibung eines sema. Odysseus spricht: „dies geb ich dir kund als Zeichen/ semat‘ anagnouse“. Dies ist die Szene der Anagnorisis, der Wiedererkennung, doch er lässt nach der Vorstellung des Gründungsmythos der Ehe die sokratische Formel folgen: „aber ich weiß nicht/ oude ti oida“: Erzählen heißt nicht Wissen, es ist eine andere Erkenntnisform und andere Geltung. Der Bettpfosten ist dafür ein Zeichen eines Mythos, allerdings nicht von Dauer, denn gleich beginnt der nächste Mythos, Odysseus geht mit dem Ruder, das er „Flügel für die Schiffe“ nennt, los, bis er in eine nicht mediterran geprägte Kultur kommt, die das Ruder als Worflerschaufel sehen wird.

Grethlein zeigte schon in den ersten beiden Teilen der Odyssee, der Telemachie (Bücher 1-4) und der Phaiakis (Bücher 5-12), dass das Verbum terpein eine komplexe Wirkung beschreibt, ein erhebendes Gefühl, auch eine Ergriffenheit durch Klagen, eben eine ästhetische Erfahrung gewaltigen Ausmaßes, eine Hingabe an das Schöne als das Schreckliche und umgekehrt, eben die Katharsis als Reinigung durch Tränen, sei es aus Mitleid mit anderen, sei es aus Furcht für sich selbst. Grethlein wählt aber nicht den Weg der Auslegung des Aristoteles, sondern sucht den Weg in eher andeutender Weise über moderne kognitionswissenschaftliche Ansätze, die das Emotionale und die Therapie von Traumata durch Erzählen betonen, wie z. B. Odysseus‘ ethisches Versagen durch Gefährdung seiner Gefährten oder seine eigenen Schreckenserfahrungen im Umgang mit Monstern und die der extremen Todesnähe. Grethlein wählt zur modernen Aktualisierung eine Parallele zu den Schriften Primo Levis, der seine Holocaust-Traumata in Texten zwar thematisiert, wohl aber kaum verarbeitet.

Penelope weint beim Gesang des Phemios beim Hof auf Ithaka (I, 336 und 346f.); Odysseus weint beim Gesang des Demodokos bei den Phäaken am Hof auf Scheria (VIII 522 und 540). Bei diesen beiden Schlüsselstellen stellt sich nun doch eine weiterführende Frage nach dem Buchkonzept. Zwar zieht Grethlein das „Eros der Narrativität“ (Platon) und die „narrative Ethik“ Dietmar Mieths heran, doch der entscheidende Hinweis auf die Bedeutung der aus der Antike zu gewinnenden Narrativität für die Moderne fehlt. Im Juli 1953 notiert Hannah Arendt in ihrem „Denktagebuch“ Gedanken, die sie in ihrem Hauptwerk Vita activa ausführen wird, und zwar, dass politische Praxis für sie die Ebenen des Arbeitens (Lebensunterhalt) und Herstellens (Bürokratie) in Richtung auf das Miteinandersprechen (in der direkten, partizipativen Demokratie) überschreitet und dass dies in der Odyssee Homers im Kontext der Idee der antiken Polis grundgelegt ist:

An die Stelle des ‚äußeren Tuns‘ [Drama] tritt die Erzählung [die Rede, die Prosa], vor allem des Boten [modern: des Erzählers]: Als sei erst der Bericht wirklich ‚Praxis‘. Die erste solche Verwandlung des Geschehenen geschieht in der ‚Odyssee‘, wenn Odysseus den Phäaken sein Leben berichtet, nachdem er es erst angehört und geweint hat. In diesem Weinen erkennt er das Geschehene als seinen ‚Bios‘.

Das Erzählen am Hof der Phäaken ist für Arendt wichtiger als das im Bett mit Penelope, das ja für die Lesenden auch nicht hörbar ist, denn was sind schon 31 knappe Verse vor Penelope gegenüber neun Gesängen vor den Phäaken? Arendt erläutert die geschichtsphilosophische, Polis konstituierende Bedeutung der Narration: „Hier trug sich zum ersten Mal die Katharsis zu […]. Und sie trug sich zu in den Tränen der Erinnerung. […] Bestünde Geschichte in nichts anderem als interessanten Nachrichten und wäre Dichtung vorwiegend zur Unterhaltung da, so wäre Odysseus nicht erschüttert, sondern gelangweilt gewesen.“ Durch die Erzählkunst der Odyssee, durch Ästhetik wird die Politik begründet: „Gleichzeitig verschiebt sich die für das Frei-Sein wichtigste Tätigkeit vom Handeln auf das Reden, von der freien Tat auf das freie Wort“. Und weiter: „Gegen die Schläge des Schicksals, gegen die Streiche der Götter kann der Mensch sich zwar nicht wehren, aber er kann sich im Reden ihnen entgegenstellen und ihnen erwidern, und wiewohl diese Erwiderung nichts hilft, weder das Unglück wendet noch das Glück herbeilockt, gehören solche Worte doch zu dem Geschehen als solchem […].“ Diese Poliskonstitution ist bei Grethlein indirekt angelegt, wenn er z.B. Odysseus‘ Lob des Gesangs des Demodokos als eines eigenen „Kosmos“ entfaltet, eine Kunstkritik, die „epistemologische, ästhetische und ethische Aspekte miteinander“ verwebt. Er betont die Identitätsbildung durch Erzählen vor Anderen, vor Zuhörenden, als Alternative zum Konzept des cartesianischen Subjekts. Er erweist das ‚partizipatorische Persönlichkeitskonzept‘ im Mut zum Einberufen von Volksversammlungen und im kulturellen, ethischen Kern der Gastfreundschaft mit Gastgeschenken, insbesondere Erzählungen. Hier möchte man gleich aus dem Griechischen das Verbum agorein entfaltet sehen und die Verwendungsstellen in der Odyssee einzeln durchgehen: auf den Marktplatz gehen, um dort zu reden bzw. so reden, dass es für alle wichtig ist. Auf der letzten Seite formuliert er sogar auch Arendts Politik-Begriff, die „wechselseitige Durchdringung von Erzählung und Erfahrung“, als „Platz im Leben“. 

Wie anschaulich Grethlein die Lesenden in das antike Werk einführt, bezeugt seine Vermittlungsstrategie im Anfangskapitel über das Odysseus-Motiv in der bildenden Kunst bei europäischen und außereuropäischen Künstlern sowie in einigen Filmen. Literarische Hinweise auf die Rezeption sind  kein Namedropping, denn die kritische Perspektive im Werk The Penelopiad (2005) von Margaret Atwood, designierte Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels 2018, scheint in der Fokussierung der Geschichtenerzählkunst des Odysseus vor der sehr geduldig und klug zuhörenden Penelope auf. Daneben gewinnt Grethlein von Atwood wohl auch die skeptische Fragehaltung, ob der Freier- und Mägde-Mord gerecht bzw. zu rechtfertigen sei. Dies könnte auch in Bezug auf den Polyphem-Mord eingewandt werden. Ein sehr ausführlicher Schwerpunkt liegt deshalb in Grethleins Motiv-Interpretation der Polyphem-Blendung auf antiken Krateren, Amphoren, Trink- und Augenschalen. Ähnliches könnte zur Darstellung des Paares „Odysseus und Penelope“ über die Umrisszeichnung von 1844 hinaus noch sehr ergiebig sein.

Abschließend ist zu fragen, ob Penelope den ihr gebührenden Raum erhält. Vom griechischen Text her gibt es Besonderheiten, deren altphilologische Würdigung gewünscht ist: Penelope wird mit ‚starker‘, ‚kräftiger‘, ‚fester‘, ‚mächtiger Hand‘ geschildert, die Schlüsselgewalt hat (cheiri pacheini); ihr stetes Auftrennen des Gewebes wird bei Heidegger und Hannah Arendt als Kunst der Denkbewegung des Auflösens gedeutet, Penelope verlangt von Telemach die Initiative zu einer entschlossenen Entscheidung angesichts des sich hinziehenden Freier-Schmarotzertums, die Horaz mit den berühmten Imperativen „Sapere aude“/„Incipe“ (Epist. I,2,40f.) verbindet, weil er in der „Odyssee“ mehr Weisheit verborgen sieht als in den antiken Philosophien. Sehr wünschenswert wäre eine Rezeptionsgeschichte aus der Perspektive Grethleins, z. B. unter Berücksichtigung von Michael Köhlmeiers Romanen Telemach (1995) und Kalypso (1997), vor allem aber Inge Merkels Roman Eine ganz gewöhnliche Ehe. Odysseus und Penelope (1987) und Barbara Köhlers Gesängen Niemands Frau (2007). 

Zum Schluss ist noch festzuhalten, dass der wissenschaftliche Apparat stellenweise leider unzureichend ist, denn es fehlen mindestens 22 Literaturangaben, die in den Anmerkungen mit Kurzformen angedeutet werden, vor allem im letzten Kapitel. Diese den interessierten Lesenden nachzuliefern, sollte keine Schwierigkeit bereiten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jonas Grethlein: Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens.
Verlag C.H.Beck, München 2017.
329 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783406708176

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