Die 500-Jahr-Feier der Reformation hat einen Haken

Martin Luther, der Begründer des Protestantismus, war Antisemit

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kritik theologischer Fundierungen des Antisemitismus als Forschungsdesiderat

Dieses Jahr steht ein großes Jubiläum an. 500 Jahre ist es nun her, dass mit der Reformation die evangelische Kirche entstand. 1517 veröffentlichte Martin Luther seine 95 Thesen gegen den katholischen Ablasshandel. Wer der Römischen Kurie damals Geld bezahlte, sollte damit für sich oder seine bereits verstorbenen Verwandten einen zeitlichen Erlass der Leidenszeit im Fegefeuer erwirken können. Eine lehrreiche Erinnerung daran, mit welchen idiotischen Methoden die christliche Kirche über Jahrhunderte hinweg ihre Gläubigen zum Narren hielt, um ihnen mit drohenden Phantastereien über den Teufel und die Hölle das letzte Hemd zu rauben. Die beträchtlichen euopaweiten Erlöse dieser Geschäfte mit lügenhaften Versprechen wurden seinerzeit nach Rom geschleust und erlaubten es den Päpsten, dort den prunkvollen Petersdom zu erbauen.

Dass Luther derlei katholischem Gebaren – er geißelte es als Beutelschneiderei – mit robuster Rhetorik Einhalt gebot, war sicher ein Fortschritt für die Aufklärung. Allerdings gibt es auch im Jahr 2017 immer noch einen Papst, wenn auch keinen Ablasshandel mehr. Die katholische Kirche, die nach wie vor Frauen das Priesteramt verbietet, die systematischen Kindesmissbrauch in den eigenen Reihen vertuschte und in Sachen Sexualität stets genau das Falsche predigt, ist keineswegs die einzige religiöse Organisation auf dieser Erde, die den Menschen auf der Grundlage unbelegbarer Hirngespinste alle möglichen Dinge verbieten möchte, die das Leben schön machen. Im Namen des Islam ist mittlerweile sogar ein ganz neuer Terrorismus unterwegs, der die westliche Welt in Angst und Schrecken versetzt und dem Irrsinn der Religion ein Comeback verspricht, das die mittelalterlichen Folter- und Hinrichtungsinstitution der katholischen Inquisition bald wie eine bloße Fußnote der Geschichte erscheinen lassen könnte.

Nun gibt es allerdings ein klitzekleines Detail, welches das geplante evangelische Kirchentags-Gejubel über die Reformation in diesem Jahr zumindest aus der Sicht kritikfähiger Christen empfindlich trüben dürfte. Mit den Massenmördern des Islamischen Staats, den Israel-Hassern von der Hamas und vielen anderen antisemitischen Gruppen unserer Zeit hatte Luther etwas gemein, das unter anderem auch der Propaganda des „Dritten Reiches“ gelegen kam, die sich immer wieder begeistert auf den Urvater der evangelischen Kirche berief. Julius Streicher, dessen NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ zu den krassesten Publiktionen in der Geschichte des Antisemitismus zählt, schrieb in einer Ausgabe von 1943: „Dieser Judenkenner Martin Luther spricht in unsere Zeit hinein als großer Mahner, der Erkenntnis die Tat folgen zu lassen: Das Verbrechervolk der Juden muß vernichtet werden, auf daß der Teufel sterbe und Gott lebe.“

Dass sich führende und einflussreiche Nationalsozialisten wie Streicher plötzlich derartig auf einen Kirchenmann berufen konnten, obwohl sich ihre Ideologie im Kern antichristlich gab, lässt aufhorchen. Genauso wie die Antisemitismusforschung die Rolle der Emotionen für den Judenhass, der sich schon in seinem Namen als Gefühl ausweist, bislang sträflich vernachlässigt hat, darf nicht vergessen werden, dass Judenverfolgungen seit jeher – und bis heute – immer wieder mit fundamentalistischen religiösen Begründungen mehrheitsfähig gemacht werden konnten. Zu Luthers Zeiten, gegen Ende des Mittelalters, war es vor allem die damalige christliche Weltanschauung, die seit Jahrhunderten Pogrome gegen jüdische Minderheiten provoziert hatte, und heute sind es islamistische Ideologien, die derzeit den spektakulärsten, regelmäßig stattfindenden Attentaten auf Juden in Israel und in Europa den Weg bereiten.

Doch der Antisemitismus ist und bleibt erfinderisch. Er bewegt sich in der Wahl seiner zentralen Hass-Motive und affektiven Skripts in der Geschichte äußerst flexibel vor und zurück. Wie etwa die verstörenden Forschungsergebnisse von Monika Schwarz-Friesel und Yehuda Reinharz zeigen, ist er auch in Deutschland wieder auf dem Vormarsch, also in einer heute zum Großteil säkularen, wenn auch immer noch eher christlich geprägten Mehrheitsgesellschaft. Nicht nur fanatischen muslimischen Demonstranten erschien es im Sommer 2014 einleuchtend, den demokratischen Staat Israel auf deutschen Straßen als „Kindermörder“ zu denunzieren. Deutsche Polizisten fanden damals nichts dabei, dem Mob noch bereitwillig das Megaphon dafür zu reichen, derartige antisemitische Dämonisierungen ungehindert durch deutsche Innenstädte zu brüllen. So gut wie niemandem fiel jedoch dabei auf, dass es sich bei dem „Kindermörder“-Vorwurf schlicht um ein modernes Remake eines uralten Ritualmordvorwurfs gegen ‚die Juden‘ handelte, Kinder zu religiösen Zwecken zu rauben und grausam zu schlachten, der ursprünglich aus dem frühen Mittelalter stammt.

Wo kommen die zentralen, oftmals uralten Narrative des Antisemitismus im Einzelfall her? Ein Blick zurück auf Martin Luther und seine Rezeption in der Moderne, die bislang verblüffend wenig untersucht worden ist, verspricht Aufschluss. Das Thema Religion für die Antisemitismusforschung fruchtbar zu machen, liegt dieses Jahr aus gegebenem Anlass ohnehin in der Luft. So fällt eine Berliner Tagung mit prominenten VorträgerInnen zum Thema auf, deren Folgepublikation erhellend auszufallen verspricht. Heißt es doch in der Ankündigung:

In der bundesdeutschen und europäischen Antisemitismusforschung spielen Theologie und Kirchengeschichte kaum eine Rolle. Sowohl die Wurzeln des säkularen Antisemitismus wie auch Teile seiner Gegenwart sind aber religiös bestimmt. Damit kommen zentrale Motive, die das schwierige Verstehen von Antisemitismus möglich machen, nicht in den Blick. […] Für die Theologie gilt, dass die Bearbeitung des Antisemitismus zentral ist für die Aufarbeitung von Gewalttraditionen, für ein Akzeptieren der Ambivalenzen im Glauben und für den Verzicht auf christliche Identitätsbildung durch Ab- und Ausgrenzung. Solche Motive sind auch im säkularen Antisemitismus virulent. Die Antisemitismusforschung müsste sich theologischen Fragen öffnen. Dann würde sichtbar, dass der säkulare Antisemitismus eine Form politischer Theologie ist. Die Tagung wird diesen Zusammenhang analysieren.

Grund genug, einmal einen genaueren Blick auf bereits vorliegende jüngere Publikationen zum Thema zu werfen – einerseits auf Dietz Berings Studie zur Grundsatzfrage „War Luther Antisemit?“ und andererseits auf einen ersten kirchengeschichtlichen Band zur Rezeption des Reformators im 19. und 20. Jahrhundert, untersucht anhand der späteren Resonanz seiner „Judenschriften“ in der Theologie und im politischen Antisemitismus.

Sie braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und gut

Genau 400 Jahre vor Julius Streichers zitierter Berufung auf Luther, 1543, hatte sich der Reformator aus Sicht der Nazi-Propaganda den Rang eines kardinalen Vorboten des „Dritten Reichs“ mit seinem radikalen Pogrom-Aufruf „Von den Juden und ihren Lügen“ redlich verdient. Diese hasserfüllte Schrift begründete aus NS-Sicht maßgeblich Luthers „Ruhm als führender Antisemit“. Das Pamphlet, so der euphorisierte Luther-Editor Walter Holsten 1936 weiter, sei „geradezu das Arsenal zu nennen, aus dem sich der Antisemitismus seine Waffen geholt hat“.

Wieso konnte diese ahistorisch erscheinende Behauptung angesichts der beispiellosen Diskriminierungsmaßnahmen gegen Juden, die in Deutschland ab 1933 sukzessive verschärft worden waren, der Mehrheitsgesellschaft des „Dritten Reichs“ so unmittelbar einleuchten, dass auch die landesweiten Gräuel der Reichspogromnacht zwei Jahre später, exakt zum Datum von Luthers Geburtstag, keine öffentlichen Proteste mehr nach sich zogen? Luther forderte in seinem Text tatsächlich bereits ein knappes halbes Jahrtausend zuvor, alle Synagogen und jüdischen Schulen niederzubrennen oder mit Erde zu überhäufen, die Juden für vogelfrei zu erklären, sie zur Zwangsarbeit heranzuziehen, sie „wie die tollen Hunde“ aus dem Land zu jagen und sie in großer Zahl totzuschlagen.

Die Quelle ist ein Beleg dafür, wie fragwürdig die strikte Trennung zwischen einem christlichen „Antijudaismus“ und dem eliminatorischen modernen Antisemitismus im späten 19. Jahrhundert seit jeher war. Ersterer forderte angeblich nichts weiter als die Konversion der Juden zum Christentum, um es dabei bewenden zu lassen, wenn sich die Juden tatsächlich taufen ließen, während der moderne Antisemitismus primär biologistisch und rassistisch hergeleitet worden sei und auf die ‚Ausmerzung‘ der Juden zielte – unabhängig von ihrem religiösen Glauben oder ihrer säkularen Assimilation. Dietz Bering stellt jedoch in seiner 2014 erschienenen Studie fest, dass es in Luthers zitierter Schrift „kaum abweisbare Parallelen zu den dominanten Argumentationen des Antisemiten des 19. Jahrhunderts und 20. Jahrhunderts gibt“.

So schreibt Luther, die Juden seien eine „schwere Last, wie eine Plage, eine Pestilenz“, und sie seien „durch und durch ein Unglück in unserem Land“. Hier klingt bereits Heinrich von Treitschkes Diktum „Die Juden sind unser Unglück“ (1879) aus dem Berliner Antisemitismusstreit an, das dieser sogar direkt von Luther übernommen haben soll, und der Vergleich der Juden mit einer Plage und Seuche liest sich heute wie eine dunkle, verfluchende Prophetie angesichts ihrer tatsächlichen Massenvernichtung durch ein Insektenvertilgungsmittel im Holocaust.

Bering entdeckt bei Luther sogar die Warnung vor „Rassenmischung“, in der Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ (1543). Demnach seien die Juden „begierig“, die „losen, abtrünnigen, abgefeimten Christen an sich zu ziehen und einzusammeln“, wodurch das „israelitische Blut“ jedoch „stark vermischt, unrein, wässrig und wild“ werde. Nicht zuletzt sieht Bering bei Luther schon die Verschwörungstheorie der Weltherrschaft des Judentums angelegt. Wo Antisemiten heute (wieder) glauben, ,die Juden‘ dominierten die internationalen Banken und eine ungreifbare ‚Hochfinanz‘ der Wallstreet, um nationale Wirtschaftssysteme zu zerstören, da schrieb Luther:

Jawohl, sie halten uns Christen in unserem eigenen Lande gefangen, sie lassen uns arbeiten im Schweiß unseres Angesichts, Geld und Gut gewinnen sie; sie sitzen derweil hinter dem Ofen, faulenzen, feiern großmächtig und braten Birnen, fressen, saufen, leben sanft und gut von unserem erarbeiteten Gut, haben uns und unsere Güter gefangen durch ihren verfluchten Wucher, spotten dazu und speien uns an, dass wir arbeiten und sie faule Junker sein lassen von dem Unseren und in dem Unseren, sind also unsere Herren, wir ihre Knechte.

Der Autor solcher geifernder Tiraden musste zweifelsohne ein radikaler Judenhasser sein. Bering stellt deshalb nüchtern fest, dass Luther „seit dem Ende der 1530er Jahre Antisemit“ im Sinne der modernen Definition des Wortes gewesen sei: Wie die Nazis habe Luther den Glauben dezidiert über die (jüdische) Vernunft gestellt. Bering widerspricht damit dem Luther-Biographen Martin Brecht und dem Hagiographen Walther Bienert, die wie viele andere meinen, Luther habe mit dem „späteren rassistischen Antisemitismus“ nichts zu tun gehabt. „Denn: Es kommt auf die Unaufhebbarkeit der Negativexistenz der Juden an. Rassismus ist nur eine, vermeintlich durch Wissenschaft gestützte Variante von Unabänderlichkeit – ein religiös fundierter Glaube an die Unrettbarkeit der Juden eine andere. Die Verankerung im Glauben galt den Menschen ihrer Zeit nicht weniger unerschütterlich als das im 19. und 20. Jahrhundert von den wissenschaftlichen Wahrheiten angenommen wurde.“ Bei Luther hätten demnach bereits „erschreckend komplett“ jene Kategorien vorgelegen, die „auch Hitler und seine Vor- und Mitläufer nutzten“.

Des Rätsels Lösung: Kontrastbetonung

Die Sachlage verleiht dem Titel von Dietz Berings Studie, „War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe“, den Beiklang einer lauwarmen rhetorischen Relativierung. Das hat mit einer Einschränkung zu tun, die Bering in seinem Buch geltend macht und dort zum Beleg seiner zentralen These weiter ausführt. Demnach sei der „unbezweifelbare Antisemitismus“ nicht „der ganze Luther“ gewesen. Es war nach Berings Dafürhalten vielmehr Luthers offensichtliche Nähe zu zentralen Werten der jüdischen Kultur, die ihn im Sinne einer sogenannten Kontrastbetonung dazu brachte, deren Vernichtung zu wünschen, um das eigene Glaubenskonzept aufrecht erhalten und sich gegenüber der konkurrierenden Religion behaupten zu können: „Luther bekämpfte die Juden womöglich nicht dermaßen radikal, weil sie ihm so fremd, so andersartig waren, sondern weil er ihnen so nahe gerückt war, dass unweigerlich Reibungshitze und Gegnerschaft entstehen musste.“

Berings Berufung auf ein naturwissenschaftliches Prinzip, die bei der Lektüre seiner Ausführungen ferne Erinnerungen an den Physik- oder Biologieunterricht im Gymnasium weckt, klingt auf Anhieb verblüffend einleuchtend. Die Kontrastbetonung meint eine umso größere Abgrenzung zwischen Lebensformen oder Wahrnehmungsweisen, die sich tatsächlich sehr nahe und ähnlich sind. Doch ist es angemessen, den Antisemitismus, der selbst einmal ‚biologisch‘ begründet worden ist, nunmehr bei der Analyse des Judenhasses Martin Luthers ebenfalls auf eine biologische Grundannahme unserer Zeit zurückzuführen?

Von dem Naturgesetz der Kontrastbetonung will Bering seiner skurrilen Danksagung im Anhang des Buchs nach im Jahr 1989 an einem Kopierer im Wissenschaftskolleg in Berlin von einem namenlosen (und ihm bis heute nicht bekannten) Biologen erfahren haben. Bering erzählte dem zufällig angetroffenen Mann von seinem Projekt. Der antwortete ihm nur trocken, in seinem Fach habe er damit dauernd zu tun. Spiele doch dort der Begriff der Kontrastbetonung eine große Rolle: „Der werde überall dort angesetzt, wo sich bei Populationen mit deutlicher Ähnlichkeit und gleichzeitiger Verschiedenheit massive Abwehr entwickele.“

So entstehen Universaltheorien. Nach dem geschilderten Erweckungserlebnis am Uni-Kopierer scheint sich die Kontrastbetonung bei Bering zu einer Forschungskonstante der kommenden Jahrzehnte entwickelt zu haben. Zumindest figuriert das schlichte Theorem nun auch in Berings Luther-Buch als Passpartout zur Erklärung der gesamten Antisemitismusgeschichte als Urphänomen eines ‚Zwillingskonflikts‘: „Nach Beispielen von Kontrastbetonung muss man nicht lange suchen. Jeder kennt die Geschichte von Kain und Abel, zahlreiche auch die von Esau und Jakob, den Zwillingskindern, die sich schon im Bauch der Mutter stoßen und später hart aneinander geraten. (Gen 24–32) Fast alle haben die besonders geprägte Geschichte von Völkern mit gemeinsamen Grenzen vor Augen: Deutsche und Franzosen, Deutsche und Polen.“

Doch kann der „longest hatred“, wie Robert S. Wistrich den Antisemitismus nannte, wirklich einfach nur dadurch erklärt werden, dass sich Judenhasser wie Luther von ihren halluzinierten Feinden stets gerade deshalb so radikal absetzen wollten, weil sie ihnen ‚zu ähnlich‘ waren? Hatte Luther die Juden in Wahrheit alle ganz doll lieb, nur leider ein bisschen zu sehr? Von da aus ist es zum Beispiel auch nicht mehr weit zur heute so beliebten Behauptung, sowohl Araber als auch Juden seien „Semiten“, weswegen Palästinenser und Israelis in Wahrheit identisch seien und die Hamas eigentlich gar nicht antisemitisch sein könne. Quod erat demonstrandum!

Derartigen Unsinn schreibt Bering in seinem Buch zum Glück aber auch gar nicht. Stattdessen bemüht er sich redlich, die bisherige Forschung zu Luthers Antisemitismus kurz und bündig zusammenzufassen und die auf den ersten Blick tatsächlich äußerst ambivalent erscheinende Wandlungsgeschichte von Luthers Auffassungen über das Judentum greifbar zu machen. Luther meinte zum Beispiel, das Hebräische sei die wichtigste Sprache überhaupt, und zeitlebens setzte er sich geradezu obsessiv mit dem Alten Testament auseinander. Zudem schätzte er die Jahrtausende alte jüdische Tradition des zweisprachigen Schriftstudiums von Kindesbeinen an und forderte auch in der deutschsprachigen Kultur einen christlichen Glauben als Bildungsmultiplikator, ohne die Notwendigkeit seiner entmündigenden Vermittlung durch die autoritäre Figur eines Priesters oder gar Papstes: Jeder Mensch sollte in die Lage versetzt werden, die von Luther eigens ins Deutsche übersetzte Heilige Schrift zu allererst selbst zu lesen, zu verstehen und zu deuten.

Es musste also Liebe sein. Bering hat zudem keine Probleme, zur Untermauerung seiner Allzweck-These bei Sigmund Freud fündig zu werden. In der Schrift „Das Unbehagen in der Kultur“ (1930) diskutierte der Vater der Psychoanalyse die Tendenz sich besonders nahe stehender Gemeinschaften zu radikalisierter Distanznahme. Die „Intoleranz der Massen“, so Freud später weiter in seinem letzten publizierten Werk „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (1939), äußere sich „merkwürdigeweise gegen kleine Unterschiede stärker als gegen fundamentale Differenzen“.

Derart variabel gefasst, ist diese Beobachtung, auf Luthers „Judenschriften“ angewandt, also sicher vertretbar. Bering hätte hier sogar auch noch auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ in der „Dialektik der Aufklärung“ (1944) verweisen können, in dem von der „pathischen Projektion“ der Antisemiten die Rede ist, die verleugnete Anteile ihrer eigenen Wunschproduktion auf ‚die Juden‘ verschieben und so von sich abzuspalten versuchen. Im Antisemitismus geht es nie um ‚die Juden‘, sondern immer nur um die Antisemiten selbst, die eine verzerrte Phantasie ‚des Judentums‘ entwerfen, um sich innerhalb dieser geschlossenen erzählten Welt Emotionen zu erlauben, die ihnen – aus welchen Gründen auch immer – Erleichterung verschaffen. Bei Horkheimer und Adorno heißt es:

Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich. Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und prägt noch das Vertrauteste als Feind. Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer.

Letztlich bleibt Luther in Berings Buch als weiteres Beispiel für die grundsätzliche tiefe Ambivalenz der Antisemiten stehen. Seit jeher bewunderten sie insgeheim vieles an ihrem Feindbild und modellierten es nach eigenen psychischen Bedürfnissen. So konnten sie auch gerne Bewunderung für bestimmte Juden oder bestimmte Aspekte der jüdischen Kultur äußern, um im nächsten Moment ihre komplette Ausrottung zu fordern. Luther kann gewiss viel Anschauungsmaterial dazu liefern, wie sehr sich Philosemitismus und Antisemitismus spiegeln und ineinander umzuschlagen vermögen. 

Die evangelische Kirche müsste damit beginnen, ihre eigenen theologischen Grundannahmen zu reformieren

Wichtiger ist es aber wohl, herauszufinden, warum die Geschichten, die derartige Populisten wie Luther von den Juden erzählten, bis in unsere heutige Zeit hinein bei ihren Rezipienten so wirksam geblieben sind. Damit ist nicht gemeint, dass sich heutige Antisemiten – oder gar Kirchenvertreter – nach wie vor explizit auf Luther berufen, um judenfeindliche Lügen zu tradieren. Doch viele Christen in Deutschland stehen, rein statistisch betrachtet, antisemitischen Weltbildern nach wie vor keineswegs kritisch gegenüber. Viele der judenfeindlichen Fiktionen, denen sie folgen, stammen aus der Kirchengeschichte – und wurden auch von Luther tradiert. Meistens jedoch dürften Leute, die behaupten, ,die Juden‘ seien stets reich und lebten bestens von dem mühsam erarbeiteten Geld anderer, gar nicht mehr wissen, dass sie damit eine Phantasie aufgreifen, an die bereits Luther fest geglaubt hat.

Das war bis ins 20. Jahrhundert hinein aber noch anders. Über Jahrhunderte hinweg begriff man und erzählte man sich sehr wohl, welche Haltung Luther den Juden gegenüber eingenommen hatte. Diese lange und teils intensive Rezeptionsgeschichte nachzuzeichnen, kann verstehen helfen, warum heute eine positive Berufung auf Luthers Antisemitismus zwar kaum noch anzutreffen ist, während zugleich viele von Luthers judenfeindlichen Narrativen auch ohne das Wissen über ihre problematischen Quellen nach wie vor im kollektiven Gedächtnis abrufbar sind, wiedererkannt und dabei als etwas ,Reales‘ verstanden bzw. affirmiert werden können. 

Kurz: Anstatt darüber zu spekulieren, wie nah der Reformator den Juden nun ideell gewesen sein mag oder nicht, also Menschen, die er letztlich buchstäblich vertrieben und massakriert sehen wollte, wirkt ein analytischer Blick auf die faktische Rezeption seiner fatalen „Judenschriften“ vielversprechender – so werden Luthers antisemitische Hasspredigten in der theologischen Forschungen übrigens tätsächlich immer noch genannt, wenn auch (meistens) in Anführungszeichen. Zu den kirchengeschichtlichen Folgen von Luthers geifernden Pamphleten im 19. und 20. Jahrhundert haben fünf TheologInnen einen Band publiziert, in dem diesem bisher kaum behandelten Thema genauer nachgegangen wird.

Tatsächlich lässt sich die von dem Münchner Professor für Kirchengeschichte Harry Oelke und einer Reihe von FachkollegInnen herausgegebene Aufsatzsammlung gut neben Berings Studie legen. Wird doch auch hier aufgrund des fokussierten Zeitabschnitts erneut die Frage virulent, wie sich TheologInnen heute zum Problem der Definition von Luthers Judenhass im Kontext der späteren Geschichte des Antisemitismus positionieren sollen. Oelkes Überblick zur Nachkriegsforschung, der aufgrund der strikten chronologischen Anordnung der Aufsätze erst am Ende des Bandes steht, sich aber gleichwohl wie eine Art Vorwort liest, zeigt auf, dass sich nach wie vor nur sehr wenige Theologen dazu haben durchringen können, die alte Kontinuitätsthese, wie sie bereits 1941 von dem amerikanischen Historiker William Montgomery McGovern in seinem Buch „From Luther to Hitler“ aufgestellt worden war, einmal ernsthaft auf den Prüfstand einer kritischen Geschichtsschreibung des Antisemitismus seit der Reformation zu stellen.

Allerdings handelt es bei diesen wenigen Autoren (nicht nur in der Theologie) um einflussreiche Forscher, und die Kirche wird nicht darum herumkommen, ihnen mehr Gehör zu verleihen. Der Antisemitismus-Spezialist Klaus Holz stellte im Dezember 2016 in der Zeit fest, dass die „Transformation des christlichen Antijudaismus zum modernen, nationalistischen Antisemitismus“ in der Folge der Reformation in der gegenwärtigen Selbstkritik des Protestantismus nach wie vor „randständig“ bleibe. Dagegen stellt Holz klar:

Der deutsche Protestantismus war entscheidend daran beteiligt, den alten christlichen Antijudaismus in den modernen Antisemitismus zu verwandeln. Er stellte die Mehrzahl der antisemitischen Vordenker und Propagandisten. Im Protestantismus entstand 1879 die erste antisemitische Partei, die Christlich-soziale Arbeiterpartei des Hofpredigers Adolf Stoecker. Schließlich formierte sich mit den Deutschen Christen bereits vor 1933 eine protestantische Nazikirche, der sich in Berlin mehr Pfarrer anschlossen als der gegen sie gerichteten Bekennenden Kirche.

Der Lutherkenner Thomas Kaufmann ist als einer derjenigen zu nennen, die den behaupteten Bruch zwischen dem frühen, angeblich judenfreundlicheren Luther von 1523 und dem Hassprediger von 1543 in eine „Kontinuität einer theologisch begründeten Ablehnung der Juden“ umgedeutet haben, wie Oelke betont. Aus dieser Beobachtung heraus spricht Kaufmann ausdrücklich von einem „frühneuzeitlichen Antisemitismus“ bei Luther und bricht damit das zähe Diktum, jeglicher (christliche) Judenhass vor dem Ende des 19. Jahrhunderts sei als bloßer Antijudaismus abzuhandeln. Auch der Theologe Peter von der Osten-Sacken ist hier zu nennen, der in seinem 2002 erschienenen Buch „Martin Luther und die Juden“ den Begriff „Proto-Antisemitismus“ verwendet.

In einem Interview mit dem Tagesspiegel hat Kaufmann, ähnlich wie Bering, ausdrücklich auf Vorformen rassistischer Denkweisen bei Luther hingewiesen. Gebe es doch bei dem Reformator bereits „Formulierungen, die die Juden als bestimmte Menschenklasse ansprechen, geradezu biologistisch“: 

Da wird es antisemitisch. In Luthers Tischreden finden sich Äußerungen wie: „So wie die Elster das Rauben nicht lassen kann, so kann der Jude nicht davon absehen, Christen umzubringen.“ Diese Vorstellungen, die mit biblischen Befunden nichts mehr zu tun haben und von einer geradezu naturhaften Andersartigkeit der Juden ausgehen, sind für mich vormoderne Formen dessen, was dann ab dem späten 18. Jahrhundert rassetheoretisch ausformuliert wurde. Die häufig aufgestellte Behauptung, der rassische Antisemitismus sei etwas völlig Neues, muss meines Erachtens korrigiert werden. Denn Luther war ein Kind seiner Zeit, er hat diese vormoderne Form des Antisemitismus nicht erfunden. Schon im Spanien des 15. Jahrhunderts wurde das Konzept der Geblütsreinheit als Motiv zur Vertreibung der Juden verwendet.

Doch auch ohne die Annahme, Luther habe geradezu biologistische Vorstellungen von ‚den Juden‘ tradiert, wird seine Ideologie in der Forschung zunehmend als Antisemitismus definiert. Der Professor für Neuere Kirchengeschichte Berndt Hamm fasst das betreffende Ergebnis der Tagung an seiner Erlanger Universität, aus welcher der hier nun vorzustellende Band hervorgegangen ist, in seinem Schlusskommentar so zusammen: Dass Luthers Wunsch einer ‚judenfreien‘ Christenheit nicht im Sinne eines biologisch hergeleiteten Rassenantisemitismus geäußert worden sei, mache die Botschaft seiner „Judenschriften“ nicht weniger bedrohlich. „Die Begründungen des diskriminierenden, verfolgenden und mörderischen Antisemitismus veränderten sich mit der Zeit und ihren weltanschaulichen Koordinaten; konstant aber blieb sein e-liminatorischer (aus-grenzender) Charakter.“ Aus dieser Sicht sei es verharmlosend, heute noch davon zu sprechen, Luthers Spätschriften seien Ausdruck des Antijudaismus, wie er bisher definiert wurde.

Hinzu kommt jedoch noch ein weiterer Punkt. Hamm betont, dass Luthers Auffassung, das Alte Testament sei aufgrund des von ihm konstruierten sensus litteralis, eines buchstäblichen christologischen Schriftsinns, ausschließlich in der Folge Jesu zu verstehen und vom Judentum daher nicht mehr für seine Religion reklamierbar, bereits eine Zuspitzung des bis dahin bekannten christlichen Antijudaismus gewesen sei. Da jedoch dies bereits der Standpunkt des frühen Luther in seiner angeblich noch so toleranten, letztlich jedoch rein missionsstrategischen Schrift von 1523 war, müsse klar sein, dass das Judentum für den Reformator von Anfang an eine Religion „ohne Eigenwert und Existenzrecht“ war, die „durch die christliche Wahrheit der Schriftauslegung zum Verschwinden gebracht werden“ müsse.

Von hier aus fällt es selbst dem theologischen Laien nicht mehr schwer, eins und eins zusammenzuzählen: Wenn Luther also letztlich schon immer Antisemit war und man bedenkt, welche zentrale Rolle seine theologischen Grundannahmen für die gesamte evangelische Kirche nach wie vor haben, fragt sich, wie diese ihre eigene Existenzberechtigung vor den heutigen Menschenrechten, dem Gebot der Toleranz und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch sinnvoll begründen will, ohne sich komplett von Luther loszusagen. Die Frage wäre, was danach von der protestantischen Kirche, wie wir sie kennen, noch übrig bliebe.

Tatsächlich wird dies auf einer der letzten Seiten des Sammelbands bereits angedeutet. Wolfgang Kraus, Professor für Neues Testament an der Universität des Saarlandes, fasst es in seinem abschließenden Kommentar zu aktuellen kirchenpolitischen Entwicklungen so: „Die Judenfeindschaft, die sich in Luthers Judenschriften zeigt, stellt kein Randphänomen der Theologie Luthers dar, sondern führt ins Zentrum seiner Theologie. Die Konsequenzen aus dieser Erkenntnis müssten gleicherweise reflektiert werden.“

Der letzte Satz klingt unscheinbar, hat es jedoch unter den geschilderten Voraussetzungen in sich. Angesichts der dürren, teils widersprüchlichen und selbst schon wieder problematischen Erklärungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bzw. ihrer einzelnen Landeskirchen, die diese erst seit 1988 hier und da über Luthers Antisemitismus absonderten, merkt Kraus nur trocken an: „Eine Distanzierung von Aussagen Luthers in dessen Judenschriften allein ist nicht ausreichend.“

Man muss sich vor Augen halten, wie wenig die EKD in dieser Sache bisher unternommen hatte: Die Chance, anlässlich des 500. Geburtstags Luthers im Jahr 1983 eine klare Erklärung zu der Problematik abzugeben, ließ man ungenutzt verstreichen. In den teils verharmlosenden Erklärungen, die seit 1988 publiziert wurden, findet sich unter anderem immer wieder die küchenpsychologische Schein-Begründung von Luthers später „Judenschrift“, diese sei entstanden, weil der Reformator allzusehr darüber enttäuscht gewesen sei, dass sich seine Hoffnung von 1523, die Juden könnten ein Einsehen haben und sich bald in großen Zahlen bekehren lassen, nicht bewahrheitet habe.

Um diesen nun seit Jahrhunderten tradierten Unsinn loszuwerden, muss sich die Kirche endlich klarmachen, dass es für den Antisemitismus keinerlei Kausalbegründungen geben kann und dass es selbstverständlich niemals auch nur das geringste irgendwie sinnvoll herleitbare Recht auf Seiten des Christentums gegeben hat, Juden oder irgendwen sonst auf der Welt zu missionieren. Religiöse „Mission“ hat in der Weltgeschichte am Ende nichts anderes bedeutet als die humanistische Verbrämung von Unterwerfung, Vertreibung und Völkermord. Siehe die Eroberung der Amerikas. Siehe die Kolonialgeschichte und den Sklavenhandel. Siehe das islamische Expansionsstreben und seine terroristischen Pervertierungen im 21. Jahrhundert. Siehe Luthers „Judenschriften“.

Immerhin scheint hier und da der Groschen gefallen zu sein. So meldete sich 2015 der Dietrich-Bonhoeffer-Verein mit einem Appell an den damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Nikolaus Schneider, zu Wort. Man möge angesichts des kommenden Reformationsjubiläums doch bitte endlich ein „unüberhörbares und öffentlichkeitswirksames Wort“ zu Luthers Antisemitismus beschließen. „Denn für uns gehört ein deutliches Wort der Distanzierung von Luthers Judenfeindschaft unabdingbar zum Reformationsjubiläum. Ohne einen solchen Akt können wir uns im Dietrich-Bonhoeffer-Verein e.V. nicht vorstellen, das Jubiläum recht mitzufeiern.“

Wie gesagt: Solche bloßen Erklärungen werden in Zukunft aber nicht mehr reichen. Dem scheinen auch Schneiders vier „Konkretionen“ Rechnung zu tragen, die sich der Ex-Präses der EKD für 2017 wünschte. In ihrer Tragweite dürften sie aber kaum über Nacht umzusetzen sein. Im November 2015 folgte dann tatsächlich die erbetene Absage an den Antisemitismus Martin Luthers. Allerdings wird darin dem Reformator von 1523 entgegen dem oben erwähnten Forschungsstand nach wie vor eine „bedingt judenfreundliche Haltung“ unterstellt. Manche Formulierung in dem Entschluss gleicht einem fortgesetzten Eiertanz. So habe man sich in der Rezeption zwar „auf Luthers Spätschriften zur Rechtfertigung von Judenhass und Verfolgung berufen, insbesondere mit dem aufkommenden rassischen Antisemitismus und in der Zeit des Nationalsozialismus“, wie der Text korrekt einräumt. Andererseits seien jedoch „Kontinuitätslinien“ nicht einfach zu ziehen. Um dann weiter zu formulieren: „Gleichwohl konnte Luther im 19. und 20. Jahrhundert für theologischen und kirchlichen Antijudaismus sowie politischen Antisemitismus in Anspruch genommen werden.“ Was denn nun?

Es ist sicher begrüßenswert, dass sich die EKD im November 2016 in einem offiziellen Synodalbeschluss auch noch von der sogenannten Judenmission distanziert hat – die Kirche im Rheinland hatte dies bereits 1980 schon einmal getan, in einem wichtigen, aber damals noch singulären Vorstoß, maßgeblich initiiert von dem Dietrich-Bonhoeffer-Biographen Eberhard Bethge. In dem von Irmgard Schwaetzer unterzeichneten Abschlussdokument der aktuellen „Kundgebung“ fallen allerdings erneut unfreiwillig komische Aspekte auf, wenn man etwa in Betracht zieht, dass dieser Beschluss erst im Jahr 2016 erging und man also nach dem Holocaust etwa 70 Jahre brauchte, bis der erwähnte ‚Wandel im Denken‘ halbwegs publizierbare Gestalt annahm: „Das nach 1945 gewachsene Bekenntnis zur Schuldgeschichte gegenüber den Juden und zur christlichen Mitverantwortung an der Schoah hat zu einem Prozess des Umdenkens geführt, der auch Konsequenzen im Blick auf die Möglichkeit eines christlichen Zeugnisses gegenüber Juden hat.“

Die Redensart „Gut Ding will Weile haben“ lässt sich in dem Fall also nur bedingt anbringen. Wie es kirchliche Synodalbeschlüsse so an sich haben, kann man die eine oder andere Wendung darin zumindest missverstehen. Derartig verklausulierte theologische Merksätze können vieldeutig oder sogar drohend klingen. So wird auch im letztgenannten Fall bedeutungsvoll offengelassen, wie „Gott“ am Ende über die Tatsache entscheiden werde, dass das Judentum nicht an Jesus als Retter der Welt glauben wolle: „Das Verhältnis zu Israel gehört für Christen zur eigenen Glaubensgeschichte und Identität. Sie bekennen sich ,zu Jesus Christus, dem Juden, der als Messias Israels der Retter der Welt ist‘ (EKIR, Synodalbeschluss von 1980). Die Tatsache, dass Juden dieses Bekenntnis nicht teilen, stellen wir Gott anheim.“

Wie schrieb doch Martin Luther im Jahr 1534 so treffend an einen Kaufmann namens Hans Kohlhase, der dem Land Sachsen und einem adeligen Pferdedieb, dem Junker Günter von Zaschwitz, eine pivate Fehde erklärte, danach angeblich brandstiftend Amok lief und zum Vorbild für Heinrich von Kleists Erzählung „Michael Kohlhaas“ (1810) wurde? Luther riet ihm brieflich, von seiner Selbstjustiz abzulassen: „Die Rach ist mein, spricht der Herr, ich will vergelten.“

Luthers komplexe Rezeption seit dem 19. Jahrhundert

Doch wie sieht es nun mit den fraglichen Kontinuitätslinien von Luther zum modernen Antisemitismus aus, welche die EKD einerseits einräumt, andererseits aber 2015 doch noch nicht ‚einfach‘ ziehen will? Man muss sagen: Die Sachlage der Luther-Rezeption seit dem 19. Jahrhundert ist tatsächlich denkbar kompliziert. Einerseits wurde immer wieder behauptet, Luthers antisemitische Schriften seien bis zur Nazizeit ohnehin kaum noch gelesen worden. Die Antisemitin Mathilde Ludendorff postulierte sogar, man habe deren Tradierung gezielt unterdrückt. Ludendorff publizierte dazu 1928 eine Artikelserie in der Berliner Deutschen Wochenschau, dem Vereinsorgan des Tannenbergbundes, einer schon bald darauf in der Bedeutungslosigkeit versunkenen „Arbeitsgemeinschaft völkischer Frontkrieger und Jugendverbände“. Die antisemitische Autorin warf den Kirchen in ihren verschwörungstheoretischen Anschuldigungen vor, Luthers Reformation verfälscht zu haben, indem sie dessen judenfeindliche Schriften verschwieg.

Davon kann, wie der Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin nachweist, nicht die Rede sein. So war unter anderem bereits 1920 Band 53 der Weimarer Ausgabe der Werke Luthers erschienen, der die maßgeblichen Texte „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras“ enthielt. In einem weiteren Grundlagenartikel demonstriert andererseits Anselm Schubert, Professor für Neuere Kirchengeschichte in Erlangen-Nürnberg, dass Luther-Biographen das heikle Thema der „Judenschriften“ seit dem 19. Jahrhundert kaum mehr beachtet hatten, weil sie – wie der bis 1917 kanonische Biograph Johannes Mathesius – gar kein Problem darin sahen. Luthers Verschwörungstheorie über eine zeitgenössische jüdische Bekehrungskampagne in Mähren, bei der ,die Juden‘ viele Christen zu ihrem Glauben verführt und beschnitten haben sollten („Wider die Sabbater“, 1538), wurde nicht weiter hinterfragt und also auch nicht ausführlich behandelt.

Da Mathesius dies alles ganz einfach für bare Münze nahm und daran offenbar auch nichts Negatives erkennen konnte, vermochte er das Thema gleichsam im Nebensatz abzuhaken. Meistens aber erwähnten die Biographen Luthers antisemitische Schriften fortan lieber gar nicht mehr – womöglich, weil ihnen der wutschnaubende Luther in solchen Texten peinlich war. Diese bezeichnende Verleugnung von Luthers Judenhass von Seiten der (populärwissensschaftlichen) Biographik, die Mathilde Ludendorffs Verschwörungstheorien eine ironische Note verleiht, gipfelte in einer ganzen Reihe von Luther-Porträts, die nach 1945 erschienen und das Thema nach der Shoah abermals ignorierten. Dieses dröhnende Schweigen der deutschen Nachkriegsbiographen dauerte aufgrund meist zahlreicher Neuauflagen ihrer Luther-Darstellungen teils bis in die Gegenwart an – im Fall von Hanns Liljes sage und schreibe 27-fach aufgelegter Beschreibung von Luthers Leben und Wirken de facto sogar bis zur (vorläufig letzten) Auflage bei Rowohlt 2008.

Wesentlich offenherziger war da bereits der jüdische Historiker Heinrich Graetz, der in seiner 1853-1876 zuerst erschienenen „Geschichte der Juden“ festhielt, dass Luthers antisemitische Altersschriften das Verhältnis des Protestantismus zu den Juden nachhaltig beschädigten. Wie schmerzhaft mussten solche Wahrheiten jenen Theologen, die nach 1945 über Luther publizierten, erst angesichts der seinerzeit noch kaum eingestandenen Mitschuld der evangelischen Kirche an der Judenvernichtung im „Dritten Reich“ in den Ohren geklungen haben, wenn sie sie denn zur Kenntnis nahmen (hier zitiert nach dem Beitrag von Hanns Christof Brennecke):

Wie der Kirchenvater Hieronymus die katholische Welt mit seinem unverhüllt ausgesprochenen Judenhasse angesteckt hat, so vergiftete Luther mit seinem judenfeindlichen Testamente die protestantische Welt auf lange Zeit hinaus. Ja, die protestantischen Kreise wurden fast noch gehässiger gegen die Juden, als die katholischen. Die Stimmführer des Katholizismus verlangten von ihnen lediglich Unterwerfung unter die kanonischen Gesetze, gestatteten ihnen aber unter dieser Bedingung den Aufenthalt in den katholischen Ländern. Luther aber verlangte ihre vollständige Ausweisung. Die Päpste ermahnten öfter, die Synagogen zu schonen; der Stifter der Reformation dagegen drang auf deren Entweihung und Zerstörung. Ihm war es vorbehalten, die Juden auf eine Linie mit den Zigeunern zu stellen.

Wie drei weitere Beiträge demonstrieren, war die ambivalente jüdische Luther-Rezeption seit Heinrich Heine und Ludwig Börne bis hin zu Hermann Cohen und Leo Baeck oftmals von dem Bestreben gekennzeichnet, die eigene prekäre Assimilation mit einer Preisung und Betonung von Luthers früher ‚toleranter‘ Phase im Umkreis seiner Reformationsschrift „Das Jesus ein geborner Jude sei“ (1523) zu untermauern. In diesem Text mahnte Luther noch zur Milde gegenüber den Juden, allerdings wie gesagt in der Hoffnung, sie würden sich auch alle brav missionieren und bekehren lassen.

Christian Wiese, Professor für jüdische Religionsphilosophie in Frankfurt am Main, fasst die lange positive jüdische Rezeption Luthers im 19. und 20. Jahrhunderts als tragische Liebesgeschichte. Gleiche sie doch jenem unbeantworteten, verzweifelten Schrei nach Anerkennung, den Gershom Sholem als Mythos eines deutsch-jüdischen Gesprächs charakterisierte, das es nie gegeben habe, weil es von der deutschen Mehrheitskultur nicht aufgenommen wurde. In der Tat, mag man hinzufügen, eine seltsame „Liebesgeschichte“, in welcher der jahrhundertelang – und sogar mit Luther-Rühmungen – angeflehte ‚Partner‘ am Ende mit der Gaskammer antwortete. Zumal ja selbst der von den werbenden Autoren so nachsichtig behandelte Luther in seinem Alter bereits die Vernichtung der jüdischen Kultur gefordert hatte.

Wie völkische und theologische Antisemiten Luther im 20. Jahrhundert lasen

Ein anderes Thema, das Wiese in seinem Beitrag ausführlicher aufrollt, ist die Luther-Rezeption von kirchenfernen Antisemiten und judenhassenden Theologen bis ins „Dritte Reich“ hinein. Seit 1917, einer Zäsur, die das Ende des Einflusses der Mathesius-Biographik markiert, waren alle Dämme völkischen, rassistischen und biologistischen Hasses gebrochen, dessen Wortführer sich nunmehr plötzlich begeistert auf Luthers finsterste Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ berufen zu können glaubten. Zu nennen sind hier zunächst einmal die extremen AntisemitInnen Theodor Fritsch, Houston Stewart Chamberlain, der völkische Schriftsteller Alfred Falb, Mathilde Ludendorff und der Autor Arthur Dinter. Aus dem Rahmen fiel dabei nur Alfred Rosenberg, der Luther und die Reformation in seinem Mythos des 20. Jahrhunderts (1930) anders als beispielsweise Julius Streicher beschuldigte, eine „Verjudung“ des deutschen Volkes eingeleitet zu haben.

Alle anderen sahen es genau umgekehrt: Luther habe, so Fritsch, das Christentum mit dem Deutschtum verbunden und so vor dem Judentum und dem ‚verjudeten‘ Papst gerettet. Falb wiederum meinte, der treuherzige Luther sei 1523 noch ganz naiv auf ‚die Juden‘ hereingefallen, aber dennoch zu würdigen, da er sich im Alter zum „allerschärftsten Judengegner“ entwickelt habe. Dieser kraftvollen Wendung in Luthers Leben komme, so fasst Wiese Falbs Machwerk „Luther und die Juden“ von 1921 mit einem sprechenden Zitat zusammen, für die „arische Menschheit“ höchste Bedeutung zu, als „innerste Empörung und jähe Abschüttelung jüdisch-orientalischer Wesensvergewaltigung, als erstes Erwachen der germanischen Seele zu arischer Gotteserkenntnis und Wiedergeburt“.

Im „Dritten Reich“ gesellten sich zu solchen verräterischen antisemitischen Wunschträumen handfeste Taten. Zum Novemberpogrom 1938 steuerte der evangelische thüringische Landesbischof Martin Sasse, ein Vertreter der nationalsozialistisch gleichgeschalteten Deutschen Christen, folgenden feierlichen Kommentar bei: 

Am 10. November 1938, an Luthers Geburtstag, brennen in Deutschland die Synagogen. […] In dieser Stunde muss die Stimme eines Mannes gehört werden, der als der Deutschen Prophet im 16. Jahrhundert aus Unkenntnis einst als Freund der Juden begann, der, getrieben von seinem Gewissen, getrieben von seinen Erfahrungen und der Wirklichkeit der größte Antisemit seiner Zeit geworden ist, der Warner seines Volkes wider die Juden.

Ab 1933 dominierten aber auch unter evangelischen Theologen, die sich selbst nicht unbedingt als begeisterte Nationalsozialisten sahen, eher halbherzige Abgrenzungsstrategien, mit denen sie den radikalen Antisemitismus des „Dritten Reiches“ zu ihren Zwecken zu domestizieren trachteten. Während sie Luthers Interesse am Alten Testament im Sinne einer kirchlichen Besitzstandswahrung gegenüber den zensierenden Angriffen der germanisierten Theologie der Deutschen Christen verteidigten, die es abschaffen wollten, machten sie gleichzeitig weitgehende Zugeständnisse gegenüber der faktisch einsetzenden Judendiskriminierung in Deutschland.

Man stimmte Luthers Hasspredigten zu und ließ alle nur erdenklichen Maßnahmen gegen die jüdischen Bürger unkommentiert. Kritiker mahnten höchstens an, dass es dumm sei, die ‚jüdischen Teile‘ der Bibel gleich ganz abzuschaffen, weil sich darin doch ganz wunderbare Belege für die Verkommenheit der Juden finden ließen – so jedenfalls der Rostocker Lutherforscher Wilhelm Walther bereits 1921 in seiner fortan für lange Zeit wegweisenden Artikelserie „Luther und die Juden. Und die Antisemiten“. Ähnlich urteilte der schwäbische Pfarrer Richard Widmann 1935 in einer Broschüre des Evangelischen Gemeindedienstes, die sich dem gleichlautenden Thema „Luther und die Juden“ widmete, um Plänen wie denen des Württembergischen Kultusministeriums entgegenzutreten, alttestamentliche Texte aus den Lehrplänen zu tilgen, weil sie „artfremd“ seien. Handele es sich doch beim Alten Testament um Luthers „schärfste Waffe gegen das Judentum“, so Widmann. Wenn dieses nur noch als „Judenbuch“ verstanden und verboten werden solle, habe „der Jude“ gesiegt.

Wilhelm Walther hatte seine erwähnte Reihe von Beiträgen in der Evangelisch-Lutherischen Kirchenzeitung als Reaktion auf die gleichnamige Publikation Alfred Falbs verfasst. Gury Schneider-Ludorff, Professorin für Kirchen- und Dogmengeschichte in Neuendettelsau, stuft diesen publizistischen Vorstoß als Verteidigung gegen den Angriff des völkischen Antisemitismus auf die Kirchen und ihre theologischen Grundlagen ein. Walthers Artikelserie habe aber zugleich jenes verhängnisvolle Deutungsmuster vorgeprägt, das nach 1933 dafür sorgte, dass von Seiten der evangelischen Theologen im Nationalsozialismus kaum nennenswerter Widerstand gegen die Judenverfolgung entstand.

Alles in allem stellt nicht nur Wiese in seinem Beitrag der evangelischen Kirche ein vernichtendes Zeugnis aus. Erst nach der Shoah habe sich der christlichen Forschung erschlossen, dass die „protestantische Theologie dem Antisemitismus keine Tradition der Achtung entgegenzusetzen hatte“, wie es der Beiträger am Ende denn doch sehr vornehm und nachsichtig formuliert.

Klar ist jedenfalls nach der Lektüre dieses Bands, dass man sich selbst in gemäßigten Kreisen der Kirche zur NS-Zeit, wenn überhaupt, höchstens in verklausulierten Ansätzen um die sogenannte Judenfrage kümmerte, wie das notorische Stichwort deutscher Theologen seinerzeit lautete, obwohl es eine solche ‚Frage‘ bekanntlich nie gegeben hat. Jedenfalls, solange man nicht meinte, es sei erwägenswert, die Existenz einer jüdischen Minderheit im Lande als Problem anzusehen, das die Erörterung gewisser ‚Antworten‘ erforderte.

Schuld an diesem Komplettversagen war nicht zuletzt Luthers „Zwei-Reiche-Lehre“, die es den Theologen leicht machte, den Staat einfach machen zu lassen, während man selbst guten Gewissens im stillen Kämmerlein an gewichtigen Denkschriften im Stile des Jargons der Eigentlichkeit (Theodor W. Adorno) herumfeilte, die immer wieder auf das Gleiche hinausliefen: Die Juden seien in der Tat ein furchtbar verdammtes und verstocktes Volk und die abstruse Halluzination der Judenfrage eine Tatsache, wobei es lediglich darauf ankomme, in welchem Stil der Staat nun darauf antworten werde, was allerdings die Kirche nichts anginge.

Antijudaismus und Antisemitismus in der Bekennenden Kirche

Selbst jener dissidente Teil der evangelischen Kirche, der im „Dritten Reich“ mit tapferen Widerständlern wie Dietrich Bonhoeffer gegen die regimetreue Schule der Deutschen Christen stand, bekommt im Blick auf ihr Judenbild bei Wiese schlechte Noten. Wiese benutzt dabei Luthers unnachahmliches Wort der „scharfen Barmherzigkeit“, um die Richtlinie dieser ‚Ethik‘ gegenüber den Juden zu beschreiben: „Unter Berufung auf die lutherische Unterscheidung zwischen den beiden Regimenten Gottes gaben weite Kreise selbst der Bekennenden Kirche die Juden der ‚scharfen Barmherzigkeit‘ staatlichen Handelns preis und beanspruchten allenfalls das Recht zu einem anderen Handeln an den Judenchristen im Bereich der Kirche. Theologisch aber hatten sie der Diffamierung des Judentums nichts Wirksames entgegenzusetzen.“

Eine nicht anders als desillusionerend zu nennende quellenkritische Auseinandersetzung mit diesem Thema gibt es im folgenden Aufsatz des Kölner Theologen Siegfried Hermle, einem der bestürzendsten Beiträge zu „Martin Luthers ‚Judenschriften‘“. Nach Durchsicht der einschlägigen Publikationen der Bekennenden Kirche sei darin zu dem Thema des Bandes zunächst einmal größtenteils „Fehlanzeige“ zu vermelden, so die entwaffnende Nachricht Hermles zum Stand der Antisemitismus- und Lutherkritik in den einschlägigen Zeitschriften „Junge Kirche“ und „Theologische Existenz heute“. Noch niederschmetternder ist jedoch Hermles Befund anhand der wenigen Beispiele von Positionierungen von Vertretern der Bekennenden Kirche zu Luthers „Judenschriften“, die Hermle in diesen Periodika überhaupt gefunden hat. Sieht sich der Autor doch gezwungen festzustellen, dass alle dort publizierenden Theologen die „seit den Zeiten der Alten Kirche geltend gemachten Vorwürfe gegen die Juden teilten“. Dazu zähle auch die Forderung einer Abwehr eines angeblich „zersetzenden“ Einflusses des „religionslosen Judentums“ auf „mancherlei Gebieten unseres Volkslebens“, wobei die deutsche Politik, Wirtschaft, Kultur, Presse und das Rechtswesen Erwähnung fänden.

Im Großen und Ganzen kann man die immer wieder vertretenen Standpunkte der Bekennenden Kirche in dieser Sache so zusammenfassen: Luther habe Recht damit gehabt, das Alte Testament rigoros als ein ‚christliches Buch‘ gegen die Juden und ihre ‚rabbinischen‘ und damit ,diebischen‘ Deutungen zu lesen. Da ist sie wieder, Luthers antisemitische Idee eines christologischen sensus litteralis: Anhand der Schriften einer Reihe von einschlägigen Autoren belegt Hermle die haarsträubende und von Luther hergeleitete Auffassung, das Alte Testament sei kein Produkt der „vorderasiatischen Kultur und Rasse“, sondern es sei vielmehr allein von Christus her zu verstehen. Problematisch und wenig einleuchtend daran war laut Hermle unter anderem, dass man in dieser ‚Verteidigungsstrategie‘ gegen die Deutschen Christen je nach Belieben einfach Luther gegen Luther ins Feld führte, also lediglich bestimmte Schriften des Reformators betont wissen wollte, während die nationalsozialistische Propaganda problemlos auf andere verweisen konnte, die ihre Standpunkte zu untermauern schienen: Luther-Zitat stand damit ganz einfach gegen Luther-Zitat.

Wie Hermle unterstreicht, waren in dieser gespenstischen Debatte alle Parteien antijudaistisch bis antisemitisch. Teilweise wurden traditionelle antijudaistische Stereotype von Vertretern der Bekennenden Kirche sogar noch verschärft, indem man der allgemeinen theologischen Auffassung der Zeit folgte, das gegenwärtige Judentum habe keineswegs mehr das Recht, sich noch als solches zu verstehen. Letztlich wurde sogar den Deutschen Christen vorgeworfen, mit ihrem Ziel, das Christentum zu germanisieren und das Alte Testament abzuschaffen, die Deutschen zu einem ‚jüdischen Volk‘ zu machen. Hier kam also selbst bei der Bekennenden Kirche jenes antisemitische Grundprinzip zum Tragen, das David Nirenberg in seiner beeindruckenden Studie „Anti-Judaismus“ als Grundkonstante ‚westlichen Denkens‘ seit vorchristlichen Zeiten analysiert: Wer auch immer als Gegner ausgemacht war, wurde bezichtigt, einer frei erfundenen ‚Verjudung‘, dem ‚Judaisieren‘ oder, wie es zu Luthers Zeiten hieß, ‚Judenzen‘ der eigenen nicht-jüdischen Gruppe Vorschub zu leisten.

Allerdings, so die Linie der Bekennenden Kirche, müsse man gegen die Deutschen Christen und den „Stürmer“, welche die Taufe von Juden und den Schutz vormals jüdischer Gemeindemitglieder als ‚Zersetzung‘ des deutschen Volkes unter den Fittichen des Protestantismus strikt ablehnten und verhöhnten, daran festhalten, dass Luther selbst noch in seiner letzten Predigt nicht ausgeschlossen habe, dass es immerhin möglich sei, einzelne Juden zu missionieren, woran also auch die Bekennende Kirche weiter festzuhalten habe. Der völkische Theologe Gerhard Hahn konterte diesen Standpunkt auf der Reichstagung der Deutschen Christen 1935 in Bremen mit den markigen Worten:

Und wenn nun der Staat den jüdischen Einfluß mehr und mehr ausschaltet und die arische Art schützt vor dem Gift der jüdischen Rasse und damit stehn muß und soll gegen den fanatischen Haß des gesamten internationalen Judentums, dann kann und darf der deutsche Christ nicht feige abseits stehn oder gar dulden, daß der Jude durch die bewährte Praxis vergangener Zeiten, das heißt, durch die Hintertür der Taufe sich wieder hineinschmuggelt in seine alten Einflußkreise. Der Jude wird durch die Taufe nie und nimmer ein Deutscher.

Während also die Deutschen Christen, die sich ebenfalls auf Luther beriefen, die Trennung zwischen Kirche und Staat aufgehoben sehen wollten, um alle jüdische Kultur in Deutschland gemeinsam mit Adolf Hitler ‚restlos auszumerzen‘ und daran tatkräftig mitzuarbeiten, beharrte die Bekennende Kirche auf dem Recht der Bekehrung der Juden in ihrem Zuständigkeitsbereich. So radikal war der Unterschied zwischen diesen beiden Strömungen bei Lichte besehen aber nicht: Selbstverständlich seien alle Juden schlimm, räumten auch die von Hermle zitierten Theologen der Bekennenden Kirche immer wieder ein, und die „Judenfrage“ habe sich zweifelsohne zu einer entscheidenden ‚Bedrohung‘ entwickelt – aber man möge doch wenigstens versuchen dürfen, auch noch im „Dritten Reich“ den Versuch zu unternehmen, einige wenige Juden zum Taufbecken und damit auf den ‚rechten Weg‘ zu führen.

Dies alles ist gleichermaßen lehrreich wie enttäuschend zu lesen. Wie auch im Fall mancher befremdlich nachsichtiger Wendungen in einigen der anderen zitierten Beiträge aus dem besprochenen Band ist Hermles erhellende Zusammenstellung von Argumentationsmustern aus der Bekennenden Kirche lediglich dort zu kritisieren, wo der Autor Formulierungen wie diejenige verwendet, die von ihm zitierten Theologen seien mit ihren problematischen Ansichten „Kinder ihrer Zeit“ gewesen. Dabei handelt es sich um eine notorische Redewendung, die in der Umgangssprache immer wieder dann gerne zum Einsatz kommt, wenn historische Schuld aus heutiger Sicht relativiert werden soll. In dem vorliegenden Fall ist dies aber gewiss nicht das Ziel. Zusammen mit Oliver Arnholds Beitrag über die Luther-Rezeption der Deutschen Christen vermag Hermle dem Leser vor Augen zu führen, dass es zwischen den Grundsätzen der Bekennenden Kirche und denen der NS-Opportunisten unter den Protestanten nach 1933 mehr Überschneidungen gab, als man in der Geschichtsschreibung zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus lange angenommen hat.

Verständliche Überblicke, aber teils holzschnittartige Thesen

Beide hier besprochene Bücher sind, obwohl für ihren Inhalt teils Theologen verantwortlich sind, in einer klaren und verständlichen Sprache verfasst. An Berings Buch stört der ältliche „Wir“-Stil, der ganz einfach nicht mehr zeitgemäß ist und sein Buch passagenweise klingen lässt, als befinde man sich im falschen Film. Dafür hat der Autor darauf Wert gelegt, seine Studie nachvollziehbar zu strukturieren. Sie ist bündig formuliert und bietet dem Publikum eine gute Einführung in Luthers Verhältnis zum Judentum seiner Zeit – besser gesagt, wie er es sich vorstellte. Im Schlusskapitel weitet Bering seine skizzierte These sogar noch einmal zu einer Theorie zum Verständnis der gesamten Geschichte des deutsch-jüdischen Verhältnisses aus, was jedoch etwas zu schematisch wirkt.

Der Band zu Martin Luthers „Judenschriften“ bietet im Schnitt ebenfalls eher knappe und klar verständliche Aufsätze und ist für die theologische Forschung vielleicht sogar so etwas wie ein erster kleiner Meilenstein auf dem Weg zu einer kritischeren Betrachtung der kirchlichen und politischen Folgen von Luthers Antisemitismus.

Soviel ist nach der Lektüre beider Bände jedenfalls endgültig klar: Viel dürfte die evangelische Kirche im Reformationsjahr 2017 nicht zu feiern haben. Angesichts der jahrhundertelangen Tradition des Antisemitismus insbesondere im Protestantismus seit Luther wäre es wohl angemessener, dieses Jahr mindestens einmal täglich für mehrere Stunden in den Keller zu gehen und dort bitterlich über die mörderische Dummheit, die Bigotterie, die Heuchelei, die Gemeinheit und den Hass in einer Kirche zu weinen, die einst dazu angetreten war, gegen die Intoleranz der katholischen Kirche die Botschaft der Liebe zu verkünden.

Um mit einer optimistischeren persönlichen Note zu enden: Der Rezensent wuchs in einem evangelischen Pfarrhaus auf und wurde stets im Sinne von Toleranz und Gerechtigkeit erzogen. Die Konzentration auf die Deutung von Texten, die Offenheit der Diskussionen in diesem Umfeld haben ihn keineswegs zu einem Antisemiten gemacht. Die Zukunft dieser Welt liegt in der Beschäftigung mit Literatur. Wenn Luther also in einem Recht hatte, dann war es wohl diese ursprüngliche Idee, die er schließlich selbst ad absurdum führte: Früh mit dem Lesen zu beginnen und gemeinsam die Deutung von Texten zu erproben, kann die Menschen klüger machen und ihre Herzen öffnen. Es dürfte sich sogar um eine Tätigkeit handeln, die in unserer heutigen Welt wichtiger denn je geworden ist. Nicht zuletzt für die Überwindung des Antisemitismus in aller Welt.

Titelbild

Dietz Bering: War Luther Antisemit? Das deutsch-jüdische Verhältnis als Tragödie der Nähe.
Berlin University Press, Berlin 2014.
321 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783862800711

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Wolfgang Kraus / Gury Schneider-Ludorff / Anselm Schubert / Axel Töllner / Harry Oelke (Hg.): Martin Luthers „Judenschriften“. Die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015.
338 Seiten, 80,00 EUR.
ISBN-13: 9783525557891

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