Die Geschichte von Derdâ und Derda

Der türkische Bestsellerautor Hakan Günday erzählt in „Extrem“ von zwei Außenseitern, deren Wege sich kreuzen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sie heißen Derdâ und Derda. Allein der Zirkumflex über dem abschließenden „a“ trennt das Mädchen Derdâ von dem Jungen Derda. Hakan Günday (Jahrgang 1976), das enfant terrible der neueren türkischen Literatur, erzählt in seinem siebenten Roman Extrem – seinem ersten ins Deutsche übersetzten Buch – die Lebensgeschichte zweier Außenseiter. Sie ist elf Jahre alt, wenn der erste Teil des Romans beginnt – er zehneinhalb zu Beginn des zweiten. Beiden gemeinsam ist, dass sie von ganz unten kommen, zu jenen „Erniedrigten und Beleidigten“ gehören, für die das Leben nur Niederlagen, Schmerz und Enttäuschungen bereitzuhalten scheint. Dass sie am Ende, mit 40 Jahren, zusammenfinden, mutet, wenn man sich durch fast 400, dem Leser einiges zumutende Seiten gekämpft hat, fast wie ein Märchen an. Und ist Gündays Helden doch auch wieder zu gönnen.

Derdâs Leidensweg beginnt in einer kleinen Stadt in der Osttürkei. Vaterlos aufgewachsen, die Mutter kaum in der Lage, sich und die Tochter zu ernähren, wird das Kind an einen Geschäftsmann verkauft, der in London lebt und Kontakte zu radikalislamistischen Kreisen unterhält. Von ihrem Ehemann fünf Jahre wie ein Tier in dessen Wohnung gehalten, immer wieder vergewaltigt und misshandelt, gelingt ihr schließlich mithilfe eines Nachbarn die Flucht. Doch aus dem Regen gerät sie in die Traufe, aus den Händen eines Sadisten in die eines Masochisten. Der beginnt, Pornofilme mit ihr als verschleierter Hauptdarstellerin ins Netz zu stellen und damit ein lukratives Geschäft aufzuziehen. Im Gegenzug erlernt Derdâ von ihm die englische Sprache und beginnt, die Literatur für sich zu entdecken.

Schwer drogenabhängig, überlebt sie ihr Martyrium letztlich nur, weil die Sozialarbeiterin Anne sich ihrer annimmt und sie, nachdem sie der jungen Frau als Entzugsbegleiterin gedient hat, an Kindes statt adoptiert. Ihr Einfluss und die Liebe zu den Büchern machen aus der verwahrlosten jungen Türkin binnen zehn Jahren eine der erfolgreichsten Studentinnen, die die Universität Edinburgh je gesehen hat. Und als sie in ihrem 40. Lebensjahr Derda zum ersten Mal begegnet, lehrt sie bereits selbst als Professorin Literatur.

Ähnlich hart wie das Schicksal des anatolischen Mädchens Derdâ im ersten Teil des Buches, schildert Hakan Günday anschließend den Lebensweg des Istanbuler Straßenjungen Derda. Auch der, in einer notdürftigen, sich an die Mauer eines Friedhofs anlehnenden Unterkunft lebend und Gelegenheitsarbeiten auf dem Friedhof verrichtend, verliert früh beide Eltern. Der Vater im Gefängnis, die Mutter vor seinen Augen gestorben, muss er ihren Tod geheim halten, um nicht als elternloses Kind in einem Heim zu landen. Deshalb zerhackt er ihren Körper und lässt die Teile nachts in zehn fremden Gräbern verschwinden. Eines davon ist das des türkischen Schriftstellers Oğuz Atay, der so etwas wie die geheime Referenzfigur für den orientierungslosen Jungen wird.

Atays (1934–1977) literarische Schaffensphase ist nur ganze sieben Jahre lang gewesen, von 1970 bis 1977. Trotzdem gilt der studierte Bauingenieur und spätere Dozent für Bauwesen an der Technischen Universität Istanbul als einer der wichtigsten und einflussreichsten Autoren des 20. Jahrhunderts in seinem Heimatland. Für Günday – und die Protagonisten des Romans Extrem – ist Atay eine Vorbildfigur. Derda erlernt das Lesen mithilfe des Romans Die Haltlosen (1970) und verliert sich anschließend in den Erzählungen des Bandes Warten auf die Angst (1973) und den Notaten von Atays Tagebuch. Um sein Idol an jenen zu rächen, die den Schriftsteller sein Leben lang missverstanden und seine Werke in der Öffentlichkeit herabgesetzt haben, wird der junge Mann schließlich sogar zum Mörder und verschwindet für Jahrzehnte im Gefängnis.

Dort, in seiner Zelle, findet er auf einem Smartphone, das Freunde ihm zu seiner Unterhaltung mit Musik und Hunderten von Filmen aus dem Internet aufgerüstet haben, eines Tages einen jener pornografischen Streifen, in denen die junge Derdâ in zahlreichen entwürdigenden Szenen zu sehen ist. Ihr flehentliches, während der Vergewaltigung durch Dutzende von Männern immer wieder ausgestoßenes „Komm her! Komm hierher!“ bezieht er ganz auf sich und schreibt der Unbekannten, die ihm fortan nicht mehr aus dem Sinn geht, kurz vor seiner Entlassung jenen Brief, der die beiden Menschen mit dem so ähnlichen Schicksal für den Rest ihres Lebens zusammenbringt.

Die Kraft der Literatur ist es, die sowohl Derdâ als auch Derda aus einem Schicksal befreit, in dem sie wie Spielbälle in den Händen anderer immer tiefer in Resignation, Elend und Abhängigkeit gerieten. Den untersten Gesellschaftsschichten entstammend, war ihnen der Weg nach oben scheinbar für immer versperrt. Bis Derda in einer Erzählung von Atay die an den Leser sich richtende Frage findet: „Ich bin hier, mein lieber Leser, und wo bist du?“ Die kraftvolle Antwort des jungen Mannes, ein hinausgeschrienes „Hier bin ich!“ ist eine Kampfansage an die Welt und die Verhältnisse, in denen Derda groß geworden ist. Und obwohl er die Wahrheit hinter den Zeilen jenes Mannes, der ihm mit seinen Büchern den Weg ins Leben öffnet, zunächst mehr ahnt als begreift, ist er bereit, für sie zu kämpfen.

„In einer Zeit, in der alle türkischen Schriftsteller ihre politisch bewegten Texte verfassten, kam Atay und schrieb über echte Menschen und ihre Ängste. Er wurde von seinen Kollegen verhöhnt. Er war ihnen nicht missionarisch genug“, hat Hakan Günday die Rolle seines Vorgängers in einem Gespräch beschrieben. Ein ähnlich provokativer Außenseiter in der türkischen Literatur ist er heute selbst. Extrem trägt einerseits Züge eines Sozialmärchens, lässt auf der anderen Seite aber auch kein Tabu aus. Fällt das Happy End am Ende des Buches fast ein wenig zu süßlich aus, wird dem Leser dafür bei der Beschreibung der höllischen Jugend der beiden Romanhelden gelegentlich mehr als das Erträgliche zugemutet. Aber Hakan Gündays Provokationen sind genau kalkuliert. Und nicht zuletzt dürften sie es sein, die den heutigen Ruf und die große Popularität dieses Autors in seinem Heimatland mitbegründet haben.

Titelbild

Hakan Günday: Extrem. Roman.
Übersetzt aus dem Türkischen von Sabine Adatepe.
btb Verlag, München 2014.
415 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783442753970

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