Ein Kaleidoskop mit blinden Flecken

Zu einigen Publikationen über Arthur Schnitzler

Von André SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von André Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die historisch-kritische Ausgabe von Arthur Schnitzlers Werken ist eine der bedeutendsten und verdienstvollsten  Beiträge zur Erforschung des Werks dieses Dichters. Bereits die ersten Bände zu Lieutenant Gustl, zur frühen Novelle Sterben und dem Schnitzlers Ruhm wohl am ehesten begründenden Anatol-Zyklus machten deutlich, welche längst überfälligen Anstrengungen hier unternommen wurden, der Schnitzler-Forschung neue Wege zu zeigen und die Arbeit mit den Texten und Textfassungen in einem ebenso kompakten wie zugänglichen Format zu erleichtern. Mittlerweile sind weitere Bände zur Liebelei (2014), zu Die Frau des Weisen (2016) und zu Die Toten schweigen (2016) erschienen.

Die Erzählung Die Toten schweigen, erstmals im Oktober 1897 in der von Fernand Ortmans herausgegebenen internationalen Zeitschrift „Cosmopolis“ erschienen, ist eng mit der im Jahr zuvor in der „Neuen Deutschen Rundschau“ veröffentlichten Erzählung Abschied verbunden. So lautete denn auch der Arbeitstitel der Entwurfskizze zu Die Toten schweigen ebenfalls „Abschied“. In seinem Tagebuch erwähnt Schnitzler seine Arbeit am „andern Abschied“. Und auch inhaltlich stehen sich die beiden Texte nahe: Der Tod eines Geliebten, das Verschweigen gegenüber dem Ehepartner, die Frage von Schuld – diese Themen werden in beiden Texten variiert.

Der später entstandene Text weist zudem eine Besonderheit auf, die ihn zu einer der interessantesten Erzählungen Schnitzlers machen. Denn das Ende der veröffentlichten Erzählung unterscheidet sich vom handschriftlichen Entwurf in der Weise, dass die Handschrift mit dem Erwachen der Frau endet. Der Blick des Gatten ruht lächelnd auf ihr, die Affäre, das Schicksal des Geliebten werden nicht zur Sprache gebracht. Dieses beinahe versöhnlich-idyllische Ende arbeitet Schnitzler bis zur Druckfassung um. Hier stellt sich die Situation gänzlich anders da: Die Frau erwacht, der von ihr im Schlaf gesprochene Satz „Die Toten schweigen“ steht im Raum und weckt das Misstrauen des Ehemannes. „[I]ch glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen“, heißt es dort. Und diesem Erzählen wird eine Katharsis im psychologischen Sinne zugesprochen, wenn es heißt, es „kommt eine große Ruhe über sie, als würde vieles wieder gut“. Die Bezugnahmen auf die heilende Wirkung des Aussprechens innerer Konflikte und Emotionen, wie sie Schnitzlers Zeitgenossen Sigmund Freud und Josef Breuer etwa in den Studien über Hysterie beschreiben, liegen hier auf der Hand.

Zwei Jahre vor Die Toten schweigen war Schnitzlers Schauspiel Liebelei erschienen, in denen er sich ebenfalls mit der Liebe außerhalb der Ehe befasst. Das „süße Mädel“, jener Prototyp des unschuldigen, unverbrauchten Mädchens aus der Vorstadt, das sich von den bürgerlichen Männern verführen lässt und ein klares Gegenkonzept zur Ehefrau darstellt, spielt hier eine herausragende Rolle. Doch dieses „süße Mädel“ ist in der Liebelei weit mehr als ein Klischee, Schnitzler verhandelt darin in herausragender Weise weibliche Rollenmodelle und deren gesellschaftlichen Wechselwirkungen. Christine und Mizzi, die beiden Protagonistinnen, sind die beiden Pole, zwischen denen sich das „süße Mädel“ bewegt. Mizzi durchschaut das Spiel, das die Männerfiguren mit ihr spielen möchten – aber sie spielt in dieser „Komödie“ wider besseren Wissens mit. Christine hingegen hofft auf eine schon gesellschaftlich unerfüllbare „wahre“ Liebe, die natürlich enttäuscht wird, woran sie letztlich zerbricht. Schnitzler zeigt mit seiner Kontrastierung zwischen der emanzipierten Mizzi und der träumerischen Christine die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den Wunschvorstellungen der weiblichen Figuren und der Realität.

Besonders im Fall der Liebelei ist die historisch-kritische Ausgabe ein wahrer Fundus. Denn dies ist eines der Werke, das Schnitzler mit am längsten beschäftigte. Bereits in jungen Jahren spielte er mit der Idee, den Stoff zu dramatisieren, in einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1881 sammelt er erste Ideen, eine frühe Handlungsskizze stammt aus dem Jahr 1891. Doch erst ein Gespräch mit Felix Salten im September 1894 bringt ihn dazu, den Stoff aufzugreifen und auszuarbeiten. Über mehrere Fassungen lässt sich die Textgenese wunderbar verfolgen, auch die Bearbeitung für das Burgtheater, wo das Stück im Jahr 1895 uraufgeführt wird, zieht sich über längere Zeit hin. Hier arbeitet die Ausgabe dankenswerterweise mit Übersichten und Gegenüberstellungen, sodass man mit den einzelnen Versionen sehr gut arbeiten kann. Eine gute Entscheidung war es auch, das Regiebuch des Burgtheaters mit in die Ausgabe aufzunehmen, ebenso die Synopsenform ist ungemein vorteilhaft. Hier haben die Herausgeber Peter Michael Braunwarth, Gerhard Hubmann und Isabella Schwendtner hervorragende Arbeit geleistet. Zusätzlich gibt der zweite Band noch Einblicke in die Pläne zur Verfilmung der Liebelei und macht so auch die Drehbuchfassungen Schnitzlers zugänglich.

Eine ähnlich wechselvolle Entstehungsgeschichte wie die Liebelei hat auch die Erzählung Die Frau des Weisen, mit der sich der 2016 erschienene, von Konstanze Fliedl und Evelyne Polt-Heinzl herausgegebene Band der historisch-kritischen Ausgabe befasst. Auch wenn Schnitzler daran nicht derart lange gearbeitet hat wie an der Liebelei, lassen sich anhand der Frau des Weisen die Bearbeitungsschritte und vor allem die überaus kritische Betrachtung des eigenen Werkes durch den Autor gut nachvollziehen. Erste Skizzen entstanden im Sommer 1895, bereits im Juli 1895 lag eine erste Fassung vor, die Schnitzler allerdings nach erneuter Durchsicht sehr missfiel: Er habe „die Entdeckung gemacht, daß sie großentheils neu zu schreiben, zum mindesten in eine andre Beleuchtung zu rücken ist“, schreibt er in einem Brief an Marie Reinhard. In den kommenden Monaten wechseln sich die Arbeit an der Erzählung und teilweise deutliche Selbstkritik ab, bis er im Dezember 1896 eine gänzlich neue Fassung beginnt. Hermann Bahr schlägt er den Text als Beitrag für die von diesem herausgegebene Wochenzeitschrift „Die Zeit“ vor, aber erst nach einigen Mahnungen reicht Schnitzler die erneut überarbeitete Fassung kurz vor Weihnachten ein. In Buchform erscheint Die Frau des Weisen dann erst im Jahr 1898 als Titelerzählung einer Sammlung bei S. Fischer. Offenbar plante Schnitzler zudem eine Dramatisierung des Stoffes, wie eine im Anhang des Bandes enthaltene Skizze beweist.

Sämtliche handschriftlichen Fassungen werden in der Ausgabe sorgsam transkribiert, was angesichts der äußerst schwer lesbaren Handschrift Schnitzlers schon eine Leistung an sich darstellt. Alle Eingriffe werden sorgfältig verzeichnet und alle verfügbaren Druckfassungen sind ebenso vorhanden wie – im Falle der Liebelei etwa – weitere Texte wie Drehbücher, Bühnenfassungen et cetera. Die Bände enthalten zudem jeweils knappe, aber informative Vorbemerkungen, Verzeichnisse der Herausgebereingriffe und erläuternde Kommentare. Man kann gespannt sein, wie dieses herausragende Projekt fortschreitet.

Film und Emotion

Felix Salten, Schnitzlers Freund und Gefährte unter den Autoren im Wien der Jahrhundertwende, war einer der Pioniere des frühen Films. Er verfasste ein Dutzend Drehbücher und bemühte sich, auch den Jung-Wiener Kreis für das Medium Film zu begeistern – teilweise mit Erfolg. Arthur Schnitzler zum Beispiel stand dem Kino sehr offen gegenüber. Er war nicht nur ein überaus fleißiger Kinogänger, sondern war auch der geschäftlichen Seite des Kinos nicht abgeneigt. Er sah sehr wohl die Qualitäten und auch die Verdienstmöglichkeiten des neuen Mediums. So verfasste er auch Drehbücher, etwa zur Liebelei, oder machte sich aktiv daran, seine Stoffe zur Verfilmung anzubieten. Mit eben jenen Schnitzler-Verfilmungen befasst sich Henrike Hahns in ihrer bei Transcript erschienenen Dissertation Verfilmte Gefühle. Sie stellt ihre theoretischen und methodologischen Prämissen überaus ausführlich und gut nachvollziehbar dar, bisweilen ufert ihre Darstellung jedoch ein wenig aus. Lesenswert und informativ sind ihre Ausführungen zu „Schnitzler und der Film“, hier hätte man sich aber ein wenig mehr als die knapp sieben Seiten gewünscht. Im eigentlichen Hauptteil der Arbeit beschränkt sich Hahn dann auf zwei Schnitzler-Stoffe beziehungsweise deren Verfilmungen, nämlich Fräulein Else und die Traumnovelle. Ihre Filmanalysen zu Fräulein Else (D 1929), Mademoiselle Else (F/Ö/D 2002), Traumnovelle (Ö 1969) und Eyes Wide Shut (GB/USA 1999) sind jedoch sehr fundiert, mit Blick für Details und Interpretationsangebote. Ausführliche Sequenzprotokolle und gut gewählte, vielleicht ein wenig zu kleine Standbilder unterstützen die Analyse. Die Bezugnahmen auf die Novellen sind schlüssig, an der faktenreichen Argumentation ist nicht zu rütteln.

Schade, dass das Lektorat bisweilen etwas schlampig ausgefallen ist, ein paar Satz- und orthografische Fehler trüben das gute Bild ein wenig. Dennoch ist Henrike Hahns Dissertation ein wichtiger Beitrag gerade zur Emotionsforschung in Bezug auf Schnitzler. Man würde sich wünschen, dass auch andere Schnitzler-Verfilmungen unter den von Hahn untersuchten Aspekten betrachtet werden würden.

Der Anschein einer persönlichen Fehde?

Etwas seltsam erscheint jedoch ein anderes Werk, das sich der Person Arthur Schnitzler nähert. Dass Schnitzlers Umgang mit Frauen nicht nur nach heutigen Maßstäben einige Fragen aufwirft, das ist biografisch Interessierten schon seit geraumer Zeit bekannt. Peter Lacher hat sich in seinem Buch Der Mensch ist eine Bestie. Anna Heeger, Maria Chum, Maria Reinhard und Arthur Schnitzler akribisch und faktenreich mit den einstigen Geliebten Schnitzlers befasst. Dabei hat er in einer bemerkenswerten Fleißarbeit Fakten, Daten und Ereignisse zusammengetragen und Schnitzlers Verhältnis zu den genannten Frauen untersucht. Vor allem die Umstände von Maria Reinhards plötzlichem Tod im März 1899 und die Verbindung zu Schnitzler sind es, die ihn tiefer forschen lassen.

Daran ist eigentlich nichts auszusetzen. Doch macht Lacher den Fehler, das Ganze allzu persönlich zu nehmen und beinahe eine Art Fehde mit Schnitzler anzuzetteln. Schnitzler ist, etwas verkürzt gesagt, für Lacher, der Hauptschuldige am Tode Reinhards. Eine Abtreibung steht im Raum, die offizielle Todesursache eines Blinddarmdurchbruchs erscheint ihm unwahrscheinlich, dass Schnitzlers Bruder Julius einer der behandelnden Ärzte war, suspekt – und dass der Dichter schließlich die Beerdigungskosten übernahm, verdächtig. Im Laufe des Texts kommt jedoch immer mehr ein unsachlicher Ton zum Tragen, der einem das Buch nachhaltig verleidet. Sicherlich war das Verhalten Schnitzlers moralisch fragwürdig, das Echauffieren darüber ist aber wissenschaftlich äußerst unschön. Lacher trägt Beweis um Beweis für seine These zusammen, das ist legitim, aber was er daraus macht, ist keine ernsthafte oder gar ausgewogene Auseinandersetzung, sondern eine bloße Anklage – leider nicht mehr.

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Rolf-Peter Lacher: Der Mensch ist eine Bestie. Anna Heeger, Maria Chlum, Maria Reinhard und Arthur Schnitzler.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2014.
250 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783826053962

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

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Arthur Schnitzler: Liebelei. Historisch-kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Peter Michael Braunwarth, Gerhard Hubmann und Isabella Schwentner.
De Gruyter, Berlin 2014.
1181 Seiten, 399,00 EUR.
ISBN-13: 9783110301748

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Henrike Hahn: Verfilmte Gefühle. Von "Fräulein Else" bis "Eyes Wide Shut". Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
404 Seiten, 39,99 EUR.
ISBN-13: 9783837624816

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Arthur Schnitzler: Die Frau des Weisen.
Werke in historisch-kritischen Ausgaben, Herausgegeben von Konstanze Friedls und Evelyne Polt-Heinzl.
De Gruyter, Berlin 2016.
305 Seiten, 229,00 EUR.
ISBN-13: 9783110450460

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Arthur Schnitzler: Die Toten schweigen. Historisch-kritische Ausgabe.
Herausgegeben von Martin Anton Müller.
De Gruyter, Berlin 2016.
277 Seiten, 169,95 EUR.
ISBN-13: 9783110476149

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