Parkplatz, Paradies und Porno

Ralph Hammerthalers „Kurzer Roman über ein Verbrechen“ nimmt sich der ostdeutschen Provinz an und zeigt exemplarisch das Scheitern an sich selbst

Von Manuel Alberto GarcioloRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Alberto Garciolo

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Oft taucht sie auf in den Nachrichten, die ostdeutsche Provinz. Als Stigma einer gescheiterten Wendepolitik im Allgemeinen oder in Form von Negativschlagzeilen über junge, perspektivlose und pöbelnde Menschen, die ihren Hass über alles ergießen, was nicht mit ihrem Weltbild konform geht. Spärlicher hingegen findet man diese Provinz in der aktuellen Literaturlandschaft, die inhaltlich größtenteils immer noch der Aufarbeitung und dem Leben in der gespaltenen Republik hinterherhinkt. Umso erfrischender ist es, wenn Ralph Hammerthalers Kurzroman dem Leser ebenjene unliebsame, zeitgenössische Provinz vor Augen führt, die nur zu gern ausgeklammert wird.

Dabei wagt sich Hammerthaler, dessen Werk oftmals gesellschaftskritisch angehaucht ist und der 2010 bereits mit Der Sturz des Friedrich Voss einen Roman mit ostdeutscher Wende-Thematik vorlegte, mit Kurzer Roman über ein Verbrechen inhaltlich auf schwieriges Terrain. Der Titel deutet es bereits an, von Anfang an ist klar, worauf alles hinausläuft, und gelesen wird in Erwartung auf das Kommende.

In einer Kleinstadt im Land Brandenburg, in welcher „das Verhängnis seinen Lauf nahm“, ist die Handlung angesiedelt. Rückblickend berichtet der zwanzigjährige Ich-Erzähler  von den Umständen und Konstellationen, die zum Verbrechen führten. Die Liaison mit seiner Englischlehrerin führt ihn von Berlin aus in ebenjene Kleinstadt, in welche sich die Lehrerin versetzen lässt. Das Verhältnis der beiden ist primär geprägt vom Verheimlichen der Beziehung, aber auch von Dominanz, Degradierung und Machtspielen, die in Enttäuschung und Obsession des Erzählers münden. Ablenkung von Frau Simonis, wie er sie nennt, suchend, schweift er umher in dieser Provinz, in der eine desolate Mischung aus Tristesse, Langeweile und Hoffnungslosigkeit herrscht. Abwechslung und Freunde findet er jedoch schnell, diese „waren leicht zu finden, weil sie nur darauf warteten, dass einer sie ansprach. Auf dem Parkplatz vorm Aldi hockten immer welche mit Dosenbier“.

Zum einen ist da Til, der Nazi, der in seiner rechten Clique Halt sucht, aber mit Arben, einem Kosovo-Albaner, befreundet ist. Zum anderen sind da die Schwestern Lore und Mirka sowie die hübsche Anna, die in der Schule gemobbt wird. Sie haben alle eines gemeinsam: Sie stammen aus problematischen Elternhäusern, sie sind minderjährig und – sie drehen Pornos, die sie nebenher zu Geld machen. Später kommt noch Gerhard hinzu, ein dicklicher Familienvater, den der Erzähler, der zugleich der Regisseur der Filme und Anführer dieser Clique ist, mit an Bord nimmt, da für die anvisierte Porno-Klientel „ein älterer Schauspieler unentbehrlich“ ist. Gerhard übernimmt diese Rolle erwartungsfroh und unterwirft sich wie alle anderen dem Spiel im Keller des leer stehenden Hauses von Tils Großmutter.

In diesem Keller entsteht eine Intimität, eine „geschützte Zone“, in der alles zurückgelassen und ein Stück Freiheit und Zwanglosigkeit ausgekostet wird, in welcher persönliche Komplexe oder Alltagsprobleme zeitweise ausgeklammert werden können und die Mitglieder der Clique Zufriedenheit erlangen oder sogar „wachgeküsst“ werden wie die Außenseiterin Anna. „Die Arbeit tat ihnen gut“, äußert der Erzähler. „Was hätten sie ohne die Freiheiten, die ich ihnen gewährte, anfangen sollen? Nichts als das trostlose Leben in der Provinz wäre ihnen geblieben.“ Doch mit dem Regisseur, dem Anführer, finden auch zunehmend Machtspiele und Degradierungen in diese eigens geschaffene Intimität, in der die gespielten Szenen immer „kühner wurden“: „Und wir, die Jungs, stachelten ihn [Gerhard] zu immer dreisteren Handlungen an.“

Minderjährige, die kopulieren und sich betrinken, Extrem-Mobbing an der Schule, Eltern, die fast ausschließlich mit sich selbst beschäftigt sind… Hammerthalers Buch ist keine leichte Kost, was jedoch mehr auf die Thematik zurückzuführen ist. Denn wer krude, explizite Darstellung erwartet, liegt falsch. Die Pornografie dient hier literarisch als metaphorisches Vehikel, um eine fortwährende, allgemein-gesellschaftliche Verrohung aufzuzeigen: „Früher hieß es, dass du gnädig sein sollst, wenn einer am Boden liegt und keinen Mucks mehr macht, weil der fertig ist. Heute treten sie nach.“ Sowohl Pornografie als auch Sexualität sind kritischer und reflexiver Ausgangspunkt, um Themen wie Gemeinschaft, Zugehörigkeit, Heimat, Schuld, aber auch Macht, Dominanz, gesellschaftliche Fesseln und nicht zuletzt Emotions- und Perspektivlosigkeit zu vergegenwärtigen.

Im Mittelpunkt des Geschehens stehen hierbei die Jugendlichen, Minderjährige der sogenannten „Generation Porno“. Leicht hätte Hammerthalers Buch hierbei in Klischeehaftigkeit und Stereotypen abdriften, schlimmstenfalls zu einer Provinzposse mutieren können. Doch liebevoll, fast mit ernsthafter Vorsichtigkeit beleuchtet er die Protagonisten, ihre eigentlichen Träume und Sehnsüchte, ihre Umstände und jeweiligen Lebenssituationen – da spürt man den Soziologen Hammerthaler zwischen den Zeilen. Gelegentlich stellt er sie auch bloß, das muss sein, entlarvt ihre mangelnde Bildung oder ihre wie eine Verkleidung gewählte politische Gesinnung, die einer näheren Befragung nicht standhalten würde: „Wer war Mao, wer Trotzki?, fragte sich Mücke. Sie nahm sich vor, die beiden Namen zu googeln.“

Mangels Perspektiven herrscht Motivationslosigkeit, es ist keine egalitäre Gesellschaft, die man präsentiert bekommt, hier herrscht Sozialdarwinismus, es gibt „Schwächste in der Gruppe“ und eine Frau ist „leichte Beute“, die sich „danach sehnt, erlegt zu werden“. Alles andere ist Schein, ist Anstrich: „Inzwischen war das meiste in Ordnung gebracht, der Osten sah vielerorts besser aus als der Westen.“

Doch das ist nur inhaltliches Beiwerk, sekundär, es ist der Rahmen, in welchem die eigentliche Frage des Buchs gedeiht: wie es zur Kulmination kommt, zur verbrecherischen Tat. Dieser Tat nähert sich Hammerthaler vornehmlich durch ebendiese Charakterisierung der Figuren und Ausleuchtung der sozialen Umstände, die einem Häuten von Zwiebelschichten gleichkommt. Versatzstücke werden zu einem Ganzen, dessen Kern die Tat ist, die in ihrer daherkommenden Banalität unbegreiflich erscheint. Hier offenbaren sich gefährliches Mitläufertum, explosive Unbedachtheit sowie unmoralische Abgestumpftheit. Metaphorisch aufgeladen wird die Frage des blinden Gehorsams zusätzlich durch Anspielungen und Erwähnung des Kosovo-Konflikts oder des Zweiten Weltkriegs. Die ungeschliffenen Minderjährigen in ihrer Symbolik der Unmündigkeit, aber auch das schwache Mitglied Gerhard, der immer nur davonrennt, werden zu Handlangern des Anführers und Regisseurs, der sich privat gern mit Kriegsführung oder auch mit einer Biografie über Rommel beschäftigt, dem es um Macht und Kampf geht, nicht um Politik; er will kämpfen: „egal ob links oder rechts.“

Die temporär gewonnene Freiheit  in der Komfortzone des Kellers ist trügerisch und währt nur kurz. Die eigentlichen Träume und Sehnsüchte der Jugendlichen bleiben auf der Strecke, zerstört wie das Haus des serbischen Lehrers, den Arben in Albanien aufsucht und wo er nur die von den albanischen Nazis zerstörten Trümmer vorfindet. So bleibt am Ende, wie zu Anfang, ein Unbehagen, das bereits der Titel des Buchs evoziert. Dabei geht es jedoch nicht so sehr um das Verbrechen an sich, denn das Opfer erahnt man bereits nach wenigen Seiten. Es geht vielmehr um die Manipulierbarkeit des Menschen, um die Banalität des Bösen und die Veranschaulichung des Abbaus von Hemmschwellen durch sprachliche oder auch gespielte Degradierungen. Das Beängstigende ist wohl, dass diese Unmündigkeit, diese Unreflektiertheit nicht nur in der ostdeutschen Provinz verortet werden kann, sondern überall dort lauert, wo Machtstrukturen bestehen; der Keller dient bloß als Exempel.

Hammerthaler legt mit Kurzer Roman über ein Verbrechen ein brisantes Buch vor, das genau in unsere prekäre Zeit passt, in der aufstrebende populistische Machthaber sich weltweit immer mehr von demokratischen Grundwerten entfernen. Ein Warnschuss, den man ernst nehmen sollte.

Titelbild

Ralph Hammerthaler: Kurzer Roman über ein Verbrechen. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
136 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321947

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