Wem gehört Auschwitz?

Imke Hansen schildert die frühen Jahre der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auschwitz gilt heute wie selbstverständlich als das Symbol für die Vernichtung der Menschen, die die nationalsozialistische Ideologie als Juden definiert hatte. Imke Hansen skizziert in ihrer detailreichen Untersuchung Nie wieder Auschwitz eine völlig andere Perspektive auf den Ort, der doch eigentlich wie kein anderer für den antisemitisch motivierten Vernichtungswillen des Nationalsozialismus steht.

Eine wichtige Rolle in der Gründungsphase des Museums Auschwitz spielte der Verband der ehemaligen Politischen Häftlinge. Die Ziele seiner Mitglieder standen dem besonders in Deutschland sich allmählich verbreitenden Verständnis von Auschwitz diametral gegenüber: „Der Verband vertrat also gezielt die Interessen der ehemaligen polnischen Politischen Häftlinge […]. Er setzte sich in den ersten Nachkriegsjahren für eine an traditionelle katholische und nationalistische Narrative anknüpfende Repräsentation der Lagergeschichte ein, die auch dem allgemeinen Zeitempfinden in Polen entsprach.“

Diese Frühgeschichte des Museums bleibt heutigen Besuchern verborgen.

Faktenreich schildert Imke Hansen das Ringen um den Symbolgehalt des Vernichtungslagers Auschwitz. Den einen galt es als Zeichen des verfolgten katholischen polnischen Volkes, den anderen als Symbol für den wahren Charakter des Kapitalismus. Hansen belegt mit ihrer Dissertation, wie weit die Auseinandersetzung um die Deutungshoheit von Auschwitz zurückreicht. Sie begann mit der Befreiung der noch lebenden Lagerinsassen durch die Rote Armee am 27. Januar 1945.

Für den heutigen Leser erstaunlich ist die Tatsache, wie marginal dabei lange Zeit das Schicksal der jüdischen Opfer erschien. Gleichzeitig versuchten kommunistische Kräfte bereits 1948, „die politische und gesellschaftliche Autonomie der jüdischen Gemeinschaft abzubauen.“ Ideologische Überlegungen dominierten immer mehr den Blick auf die Kriegsereignisse und damit auch auf Auschwitz. Am 1. Oktober 1947 wurde das Jüdische Historische Institut (ŻIH) gegründet, mit dem Ziel, das „jüdische Schicksal“ zu erforschen und „sich auch an der Gestaltung von Gedenkveranstaltungen zu beteiligen.“

1949 übernahm der kommunistische Aktivist Bernard Mark die Leitung des ŻIH. Eine unabhängige Forschung zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in den Vernichtungslagern auf polnischem Boden wurde abgelöst von einer ideologischen Vereinnahmung der Ereignisse. 1952 beteiligte sich das ŻIH „an der ‚antizionistischen‘ Kampagne.“

Dennoch bleiben Fragen offen. In der Gründungsphase der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau wurde der Widerstandswille der Lagerinsassen von verschiedenen Seiten in den Mittelpunkt gerückt. Das polnische Volk, so die Botschaft, hatte auch im Lager und unter widrigsten Bedingungen Widerstand geleistet. Die Lagerinsassen waren eher Kämpfer als Opfer – eine Schilderung, bei der die Wehrlosesten kaum eine Rolle spielen konnten, nämlich jüdische Frauen und Kinder, die unmittelbar nach der Ankunft im Lager ermordet wurden, weil sie nicht als Arbeitskräfte ausgebeutet werden konnten. Als Widerstandskämpfer galten in erster Linie männliche, politisch organisierte Lagerinsassen. Das kommunistische polnische Regime war nur in Ausnahmen bereit, dem nationalen Widerstand Platz einzuräumen: „Dass die antikommunistischen Widerstandsgruppen teilweise auch für ihren Antisemitismus und für ihre Gewalt gegen Juden bekannt waren, blieb unerwähnt – ein Zeichen dafür, dass das heroische Bild des Widerstandes nicht beschmutzt werden sollte.“

Eine solche antikommunistische Widerstandsgruppe bildete die Heimatarmee (Armia Krajowa, AK). Die Formulierung von Imke Hansen, die Heimatarmee sei „teilweise auch für ihren Antisemitismus und für ihre Gewalt gegen Juden bekannt“ gewesen, verweist auf die Frage nach dem Antisemitismus in Polen vor, während und nach dem Krieg. In ihrer Zusammenfassung blendet  Hansen die von ihr zunächst gezeigten Konflikte um das Gedenken in Auschwitz-Birkenau weitgehend aus zugunsten einer versöhnlichen Deutung. Sie konstatiert:

Insgesamt waren die Repräsentationen von Auschwitz-Birkenau in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Offenheit, Pluralität und relativ konfliktfreier Koexistenz, ja sogar Integration divergierender Konzepte und Narrative geprägt. Nationalistische und kommunistische, säkulare und religiöse, an Leiden, Aufopferung, Kampf und Heldentum orientierte Interpretationen der Lagergeschichte wurden kombiniert, Gemeinsamkeiten betont und Unterschiede ausgeblendet. […] Das Bedürfnis nach einer positiven Interpretation von Auschwitz-Birkenau war offenbar auf allen Seiten so groß, dass es die zentrale Basis für Kompromisse und Integrationen verschiedener Repräsentationen und Geschichtsbilder darstellte.

Eventuelle antisemitische Ursachen dafür, dass die besondere Rolle des Lagers als Menetekel für die Vernichtung des jüdischen Volkes im untersuchten Zeitraum eine eher untergeordnete Rolle spielte, werden in der Zusammenfassung kaum in Erwägung gezogen.

Imke Hansens Ausführungen zur frühen Geschichte der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zeichnen gerade für deutsche Leser ein überraschendes Bild der damaligen Ereignisse. Minutiös beschreibt ihre Untersuchung das Ringen um die Deutung von Auschwitz. Vor allem aber macht sie deutlich, dass der Eigensinn des Symbols Auschwitz stärker ist als sämtliche Versuche, diesen Ort ideologisch zu vereinnahmen.

Titelbild

Imke Hansen: „Nie wieder Auschwitz!“. Die Entstehung des Symbols und der Alltag einer Gedenkstätte 1945-1955.
Diktaturen und ihre Überwindung im 20. und 21. Jahrhundert, Bd. 9. Herausgegeben von Carola Sachse und Edgar Wolfrum.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
310 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835316300

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