„…was wohl wäre, wenn das kollektive Gedächtnis der Welt andere Dinge erhalten und wiederum andere verloren hätte.“

Ein Essay zu Nino Haratischwilis „Das achte Leben (für Brilka)“

Von Dominik ZinkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Zink

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie sähe die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus, wenn sie nicht von denen geschrieben worden wäre, die sie bestimmt haben, sondern von denen, die stumm bleiben mussten? Welche Erinnerungen hätten diejenigen Menschen zu erzählen, die vergessen worden und niemals gefragt worden sind? Wie sähe dieses 20. Jahrhundert aus, wenn man von seinem Rand her darauf blickt? Diese Fragen stellt sich die georgische Schriftstellerin Nino Haratischwili in ihrem in deutscher Sprache verfassten Roman Das achte Leben (für Brilka) (2014).

Sie erzählt die fünf Generationen umfassende Geschichte der fiktiven georgischen Familie Jaschi von der vorsowjetischen Zeit bis zum Jahre 2007. Sie beginnt beim Ururgroßvater der Ich-Erzählerin, der durch Europa gereist war, um nach seiner Rückkehr in der georgischen Kleinstadt Kutaissi erfolgreicher Schokoladenfabrikant zu werden. Seine Tochter Stasia, die Urgroßmutter der Erzählerin, ist deren wichtigste Vorbildfigur. Obwohl die im Männersattel reitende, freiheitsliebende und von einer Karriere am Ballett Russe in Paris träumende Stasia früh erkennt, dass eine Heirat für sie lediglich zu Einschränkungen ihrer Freiheit führen kann, willigt sie doch in eine Ehe mit einem Offizier ein, der zunächst auf zaristischer, dann auf bolschewistischer Seite in den russischen Revolutionskriegen kämpft.

Die aus dieser Ehe hervorgegangen Kinder nehmen in der Gesellschaft nach dem zweiten Weltkrieg Positionen ein, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Der Sohn, Kostja, macht eine glänzende Karriere als Marineoffizier in der Roten Armee und gelangt zu Reichtum, Privilegien und Ansehen. Die Tochter Stasias, Kitty, wird während des Krieges von der sowjetischen Geheimpolizei gefangen genommen, sie wird gefoltert und an ihr wird eine Zwangsabtreibung vorgenommen, weil sie von einem Mann schwanger ist, der auf Seiten der Nazis gekämpft hat. Da sie durch einen Zufall die Offizierin wiedertrifft, die die Verhöre geleitet hat, bringt sie diese aus Rache um. Mit Hilfe ihres Bruders gelingt es, den Mord zu vertuschen, sie muss jedoch fliehen und lässt sich in London nieder, wo sie eine erfolgreiche Karriere als Pop-Sängerin beginnt, jedoch die Verletzungen und Traumata der Vergangenheit letztlich nicht überwinden kann. Der Bruder Kostja, der in Tiflis und Moskau lebt, heiratet und bekommt eine Tochter, die gegen ihn aufbegehrt und die er verstößt, weil sie nicht seinen Moralvorstellungen gemäß lebt. Seine Enkelin, die Erzählerin, die den Namen Niza trägt, wächst ebenso in Tiflis auf, zieht dann aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Berlin, wo sie Geschichtswissenschaft studiert und beginnt, die Familiengeschichte aufzuschreiben.

Auch ihr Leben ist wie das aller weiblichen Figuren zu einem großen Teil geprägt von Gewalt- und Leiderfahrungen, worunter der Tod ihrer Schwester Daria sicher eine der entscheidendsten ist. Für Darias Tochter Brilka wiederum schreibt die Erzählerin die Geschichte in der Hoffnung auf, dass eine Einsicht in die die Familie beherrschenden Gewaltmuster deren Perpetuierung unterbrechen könnte. Der Roman ist das Manuskript, das sie für Brilka anfertigt. Es hat acht Kapitel, die jeweils nach dem Familienmitglied benannt sind, welches im Fokus der Aufmerksamkeit steht. Das achte Kapitel heißt „Brilka“ und umfasst lediglich eine Leerseite. Die nächstliegende Deutung dieser formalen Auffälligkeit ist sicherlich, dass das Leben Brilkas, die ca. 13 Jahre alt ist, noch ein unbeschriebenes Blatt ist und dass die Arbeit des Aufschreibens als Möglichkeit der Einsicht in die transgenerationalen Traumata es eigentlich erst ermöglicht, ein eben solches unbeschriebenes Blatt zu sein. Am Ende der Aufarbeitung der Familiengeschichte stünde dieser Interpretation folgend die Freiheit, sich selbst zu entwerfen. Obwohl die Erzählerin bezeugt, dass sie genau dies im Sinn hat, und es auch dem Roman in seiner Gesamttextperspektive um die Möglichkeiten des selbstbestimmten Selbstentwurfes geht, ist auf den zweiten Blick zu erkennen, dass er diese allzu einfache und positive Deutung unterläuft.

Zu dieser positiven Deutung scheint das zentrale Symbol des Textes zu passen: Es ist eine geheimnisvolle heiße Schokolade, deren Rezept der Schokoladenfabrikant aus Wien mitgebracht hat und die so hervorragend schmeckt, dass sie seinen ökonomischen Erfolg begründet, indem er jedem seiner Produkte eine winzige Menge dieser Schokolade beimischt. Dieses Rezept wird von einer Generation in die nächste weitergegeben, wobei bereits der Fabrikant seine Tochter Stasia warnt, dass die Schokolade lediglich in kleinen Mengen Gutes bewirken könne, in großen Dosen oder gar pur genossen allerdings verheerenden Schaden anrichte. Stasia tut dies zunächst als Aberglauben ab, ist einige Jahre später allerdings selbst davon überzeugt, dass der Fluch tatsächlich existiert. Auch die Erzählerin tendiert eher dazu, an den Fluch zu glauben, was den Eindruck erweckt, dass der Text offenlässt, ob es sich hier um ein Hirngespinst, oder um ein märchenhaftes Element in einem ansonsten realistisch erzählten Roman handelt.

Da das Rezept nach der initialen Übergabe immer von den Frauen der Familie weitergegeben wird, wird es zum Symbol der weiblichen Familientradition. Ganz explizit spricht die Erzählerin auch davon, dass sie den Fluch der Schokolade brechen möchte, indem sie die Familiengeschichte aufschreibt. Außer als Symbol für die verfluchte Tradition, muss die Schokolade jedoch auch als Symbol des Ursprungs verstanden werden, weil die ganze durch Stasia begründete Linie der Familie allein aufgrund dieser Schokolade existiert. Denn der Schokoladenfabrikant hatte seine Frau mit dem Versprechen, ihr jeden Tag diese Schokolade zuzubereiten, zu einer weiteren Schwangerschaft überredet. Er hatte sich davon einen männlichen Erben erhofft, geführt hat es jedoch zur Geburt Stasias, zur Totgeburt ihrer Zwillingsschwester und zum Tod der Mutter im Wochenbett. Die Schokolade ist damit sowohl Grund der Existenz als auch Grund des Leides der Familie, in den von Anfang an eine geschlechtliche Dimension eingeschrieben ist, da Stasia nur geboren worden ist, weil sie ein Mann hätte werden sollen. Das Leid, das mit der Schokolade verknüpft ist und dessen transgenerationelle Weitergabe von Frau zu Frau symbolisiert dies. Es muss also nicht zuletzt als ein weibliches Leiden begriffen werden, an unerfüllbaren Ansprüchen notwendig zu scheitern.

Eine dritte wichtige Bedeutungsdimension des Schokoladensymbols erschließt sich durch ihre Wirkung. Der Genuss wird als ein Rausch beschrieben, der Raum und Zeit vergessen lässt. Ein dionysisches Entrücken aus der Welt, das instantanes Erleben höchsten Glücks ermöglicht. Damit steht der Konsum der Schokolade natürlich im krassen Gegensatz zu dem, was die Erzählerin tut. Wo das Getränk ein Glück in Aussicht stellt, das vom begrifflichen Durchdringen der eigenen Situation absieht, indem es die Sinne betört, wäre die akribische Recherche, das sinnvolle Arrangieren und das detaillierte Aufschreiben der Familiengeschichte der genaue Gegenentwurf: Die Schokolade ist das betäubende Sedativum, das schnell wirkt, aber immer Surrogat bleibt, weil es lediglich die Symptome lindert, an der Ursache des Leidens jedoch nichts ändern. Die Arbeit am Manuskript dagegen ist die schonungslose Aufarbeitung, die schmerzvolle Trauma-Bearbeitung, die dafür allerdings verspricht, zur Ursache vorzudringen und das Leiden dadurch zu kurieren.

Obwohl der Text sicherlich diese Opposition von Schokolade und Schrift aufbaut, ist das Verhältnis, wie oben bereits angedeutet, nicht so eindimensional wie es scheinen möchte.  Denn sowohl für das Symbol der Schokolade als für das Sich-Frei-Schrieben bleibt der Aspekt der Weiblichkeit zentral, der letztlich ein Problem gesellschaftlicher Struktur beschreibt, das nicht einfach durch Selbsterkenntnis der Betroffenen aus der Welt geschafft werden kann. Es darf als sehr gelungen beurteilt werden, dass offenbleibt, ob das Symbol der Schokolade, das Ursprung und Genealogie miteinander verschränkt, eine in die Naturkausalität eingreifende magische Dynamik oder eine self-fulfilling prophecy ist. Dadurch wird zweierlei geleistet: Erstens ist diese Offenheit ein Kommentar zum Konstrukt ‚Weiblichkeit‘. Denn es ist selbstverständlich nicht einfach so, dass eine Frau zu sein lediglich eine self-fulfilling prophecy ist und man sich der Nachteile des Frauseins entledigen könnte, indem man aufhört, sich als Frau zu verhalten. Andererseits nimmt der Text durch die konkrete Ausgestaltung dieses Symbols aber auch ernst, dass Geschlechtlichkeit etwas performativ Hergestelltes ist. Diese Performativität läuft jedoch nicht auf individueller Ebene ab, sondern als fait social auf einer überindividuell-gesellschaftlichen, was für die einzelne Frau dann unter Umständen als eben genau das erlebt werden kann, was die Schokolade für Stasia ist: ein unbesiegbarer Fluch.

Die zweite Konsequenz daraus, dass der Text sich hinsichtlich der vermeintlichen magischen Qualität der Schokolade nicht festlegt, ist folgender: Es wird verschleiert, was das Wesen des Familienursprungs ist und inwiefern das Erforschen einer Genealogie überhaupt zu einem Ursprung führen kann. Was dadurch vor allem deutlich wird, ist, dass die Deutung der Genealogie eigentlich dasjenige ist, was eine Wirkung entfaltet. Der Text stellt die Frage, was denn eigentlich erforscht wird, wenn man zu einem ‚Ursprung‘ zurück will und zeigt, dass es viel mehr darauf ankommt, wie man die eigene Genealogie auslegt, als darauf, entlang einer Genealogie zu einem vermeintlichen Ursprung zu gelangen, dem man eine irgendwie bestimmende Macht zuspricht. Die Unsicherheit hinsichtlich der Existenz des Fluchs muss auch als Unsicherheit der Existenz gedeutet werden, ob es so etwas wie einen Ursprung überhaupt gibt, den man entdecken und befragen könnte.

In diese Richtung weist nicht nur das Symbol der Schokolade, sondern bei näherer Betrachtung auch, wie das Sich-Frei-Schreiben, das Niza für Brilka betreibt, dargestellt wird. Der Text gibt einige Hinweise darauf, wie die Erzählerin zu ihrem erstaunlich umfangreichen Wissen gelangt. Die Figur Giorgi Alania spielt dabei z.B. eine besondere Rolle. Er ist ein Freund Kostjas aus der Kadettenschule, der dann für den KGB in London in der russischen Botschaft arbeitet. Ihn kann die Erzählerin sowohl als Quelle für das Wissen anführen, das sie über militärische Geheimoperationen Kostjas als auch über Kittys Leben in London hat. Dennoch erzählt Niza ganz offensichtlich weit mehr, als sie überhaupt wissen kann. Sie spricht das in einer der wenigen poetologischen Passagen selbst an:

Brilka, manchmal habe ich das Gefühl, dass mir beim Erzählen die Luft wegbleibt, dann muss ich innehalten, ans Fenster treten und tief Luft holen. Es ist nicht wegen der richtigen Worte, die man nicht findet, nicht wegen der strafenden Götter, Richter und allgegenwärtigen Chöre. Auch nicht wegen der Geschichten, die alle erzählt werden wollen; es ist vielmehr wegen der Leerstellen.[1]

Es gibt mehrere Arten von Leerstellen und dementsprechend mehrere Arten mit ihnen umzugehen. Niza legt umfassend Rechenschaft über ihre poetologischen Probleme ab, deren Erstes das Problem der Wahl ist:

Früher, als ich etwa so alt war wie du, Brilka, habe ich mich oft gefragt, was wohl wäre, wenn das kollektive Gedächtnis der Welt andere Dinge erhalten und wiederum andere verloren hätte. Wenn alle Kriege und alle diese unzähligen Könige, Herrscher, Führer und Söldner vergessen und nur Menschen in den Büchern blieben, die ein Haus mit eigenen Händen gebaut, einen Garten angelegt, eine Giraffe entdeckt, eine Wolke beschrieben und den Nacken einer Frau besungen hätten; ich habe mich gefragt, woher wir wissen, dass die, deren Namen überdauert, besser, klüger oder interessanter sind, nur weil sie der Zeit standgehalten haben – wo bleiben die Vergessenen?            

Wir entscheiden uns dafür, an was wir uns erinnern wollen und an was nicht. Die Zeit hat damit nichts zu tun. Der Zeit ist das egal. Aber an unserer Geschichte ist das Ungerechte, Brilka, dass weder mir noch dir die Möglichkeit gegeben ist, an alles erinnern zu können, eben auch an alle Vergessenen, dass auch ich – für dich – auswählen muss, entscheiden, was erzählenswichtig ist und was nicht; eine bisweilen unmögliche Aufgabe, scheint mir.[2]

Niza gibt hier zu, dass eine vollständige Darstellung niemals möglich wäre, dass jedem Erzählen ein Entscheiden notwendigerweise vorausgehen müsse und dass diese Aufgabe der Entscheidung ihr zumindest in manchen Situationen unmöglich scheint. Dass die unüberbrückbaren Unzulänglichkeiten aber auch noch von radikalerer Art sein können, berichtet sie im weiteren Verlauf dieser Reflexion. Sie halluziniert, dass sie die bereits tote Stasia auf der Straße treffen würde, die sie als Gespenst besucht. Dies kategorisiert sie jedoch nicht als Wahnvorstellung oder Täuschung, sondern nutzt es gewissermaßen für ihre Geschichte. Sie imaginiert die Personen ihrer Geschichte, um die Leerstellen zu füllen:

Da wusste ich, dass die Gespenster nun zu mir gekommen sind, und ich wusste auch, dass es wirklich richtig ist, dir ihre Geschichte aufzuschreiben. Unsere. Deine. Meine und die all der anderen Menschen, die sich mit ihren Leben in die unsrigen geschrieben haben. Ich wusste plötzlich, warum ich das tue und dass es richtig ist, es zu tun. Ich wusste, dass ich einer Pflicht folge, die Pflicht einer Axt, die die Zeiten zerschmettert, für dich. Auf einmal waren alle meine Zweifel weg.

Ich begriff, dass sie irgendwann alle kommen werden, all die Gespenster, die noch etwas nicht zu Ende erzählt haben, und dass sie sich über meine Worte beugen werden. Und ich lachte auf. Ja, ich lachte. Ich dachte an dich. Ich vermisse dich mit einer unerträglichen Sehnsucht, aber ich spürte Erleichterung, ja das tat ich.[3]

Man würde sowohl der Erzählerin als auch dem Text unrecht tun, würde man hier interpretieren, dass es sich in dem Sinne um eine unzuverlässige Erzählerin handelte, dass sie entweder in böser Absicht löge, oder aber sogar verrückt wäre. Vielmehr ist es so, dass hier zum Vorschein kommt, zu welchem Zweck diese Geschichte überhaupt erzählt werden kann. Niza begreift, dass sie nicht erzählen kann, um an ein factum brutum, an eine ‚Wahrheit‘ zu kommen, denn sie wird in jeder Geschichte entweder an eine Stelle gelangen, an der sie sich entscheiden muss, oder an eine Stelle, an der es ihr an Quellen mangelt. Wie bereits das Symbol der heißen Schokolade gezeigt hat, kann es nicht darum gehen, zu einem Ursprung zurückzugehen, den es vielleicht nicht gibt und bei dem Niza niemals ankommen kann. Es kommt nicht auf den Ursprung einer Genealogie an, sondern auf ihre Deutung. Im Bewusstsein dieser Möglichkeit liegt die Freiheit, im Bewusstsein, dass jede Art von Geschichte – auch die eigene Genealogie – eine Auslegung ist, der andere Versionen als Möglichkeit beigestellt sind. Geschichte und Genealogie haben kein Sein an sich, sondern sind Produkte von Auslegungsmacht. Man darf deswegen freilich nicht behaupten, so etwas wie Wahrheit könne es nicht geben und alle Auslegungen seien gleichermaßen legitim. Wie bereits die Interpretation der Schokolade in Bezug auf Weiblichkeit gezeigt hat, ist eine historisch gewachsene Machtkonstellation, die prinzipiell auch anders organisiert sein könnte, deswegen kein bisschen wirkungslos. Eher wäre das Gegenteil der Fall: Dem Text geht es gerade darum zu zeigen, dass ein legitimes, wenn nicht sogar gebotenes Anliegen ist, eine weibliche Gegengeschichte zu erzählen, die notwendigerweise eine Geschichte der stumm gebliebenen sein muss.

Da ein allgemeingültiges, für alle Zeiten klärendes Aufrollen der Familiengeschichte also nicht möglich ist, jeder erfolgsversprechende Selbstentwurf die eigene Genealogie also nicht zu einem Ursprung zurückverfolgen, sondern im Lichte seiner eigenen Situation neu interpretieren und auf sich selbst beziehen muss, wird eines klar: Die befreiende Aufarbeitung, die sicherlich das zentrale Thema des Romans ist, kann nicht, wie von Niza ursprünglich intendiert, von dieser stellvertretend für Brilka vorgenommen werden. Das Manuskript befreit nicht Brilka, sondern Niza! Diese bemerkt zwar selbstverständlich, dass der Text auch ihr einige Klarheit verschafft, scheint die Dynamik allerdings nicht in Gänze zu durchblicken:

[…] ich verdanke aber diese Zeilen vor allem dir, Brilka.

Ich verdanke sie dir, weil du das achte Leben verdienst. Weil man sagt, dass die Zahl Acht gleichgesetzt ist mit der Ewigkeit, mit dem wiederkehrenden Fluss. Ich schenke dir meine Acht.

Uns verbindet ein Jahrhundert. Ein rotes Jahrhundert. Auf immer und Acht. Du bist dran, Brilka. Ich habe dein Herz adoptiert. Ich habe meines weggeschleudert. Nimm meine Acht an.[4]

Obwohl Niza diese Aussage uneingeschränkt positiv zu meinen scheint, lässt der Text doch erkennen, dass diese Acht, nicht nur eine eschatologische, erlösende Unendlichkeit bedeuten könnte, sondern auch eine unendliche Wiederholung des Leids. Ein Bezug auf Freud kann das deutlich machen, dessen Psychoanalyse ganz wie Nizas Unterfangen von der Grundüberzeugung getragen wird, dass eine Einsicht in eine leidvolle Dynamik ihre Auflösung herbeiführen könne und der damit immer im Hintergrund dieses Romans steht – obwohl er durchaus auch beim Namen genannt wird. Denn in seinem Spätwerk entwickelt er die Theorie des Todestriebs anhand des Phänomens des Wiederholungszwangs. Wiederholung – noch dazu unendliche – hat im psychoanalytischen Kontext also immer die Konnotation des selbstzerstörerischen Handelns wider die eigene Einsicht. Wo Niza vom Erfolg ihrer Anstrengung spricht, sind also durchaus Signale zu erkennen, die fraglich erscheinen lassen, ob das achte Leben für Brilka nicht doch ein Leben der sich wiederholenden Gewalt sein könnte. An anderer Stelle scheint die Erzählerin reflektierter zu sprechen und zu vermuten, dass die von ihr verfasste Geschichte nicht schon auch Brilkas Erlösung sein müsse: „Denn ich hatte die Gegenformel zur Zauberformel gefunden: dich, Brilka, und ich war mir sicher, dass du auch deine eigene Gegenformel finden würdest, die alle Flüche unschädlich machen würde.“[5] Nizas Aussagen sind nicht eindeutig. Wie hier exemplarisch gezeigt, könnte interpretiert werden, dass sie Brilka auffordert, die von ihr erkämpfte Freiheit zu nutzen, andererseits können diese Stellen auch so gelesen werden, dass sie Brilka auffordert, sich selbst zu befreien.

Entscheidend ist, dass der Text zeigt, dass eine writing cure, oder eine sonst irgendwie geartete Suche nach Selbsterkenntnis vernünftigerweise keinen Ursprung suchen kann, um von dieser Quelle aus sichere Auskunft über das eigene Selbst zu erhalten. Ein gelungener Selbstentwurf, das zeigt die Art, wie Niza arbeitet, muss sich vor allem der eignen Freiheitsgrade in der Interpretation bewusst werden und diese nutzen. Die Genealogie der Familie aufzuschreiben, kann nicht den Sinn haben zum Ursprung zu gelangen, sondern muss aus ihr einen eigenen Sinn destillieren, muss sie selbst neu interpretieren. Deswegen muss Brilka selbst die Macht über die Auslegung an sich nehmen.

Der Schluss ist hinsichtlich des Gelingens von Brilkas Leben also durchaus offen. Niza bereitet ihr weniger den Weg durch ihr Manuskript, als dass sie ihr ein Beispiel einer Arbeit gibt, die Brilka selbst auch noch zu leisten haben wird.

Hinsichtlich der Möglichkeit einer gerechten Erinnerung allerdings macht der Roman eine deutlich negativere Aussage: Diejenigen, an die man sich erinnern müsste, sind vergessen. Die Menschen, denen der Roman virtuell eine Stimme verleiht, haben in der Realität keine. Der Text zeigt zunächst, dass dies an sich eine Ungerechtigkeit ist, darüber hinaus aber auch, dass die Dynamik, die anhand des Selbstentwurfs seiner Erzählerin abgelaufen ist, in der Realität nicht möglich ist, da die echten Stasias, Kittys, Christines, Sopois und alle Frauen, die in Nizas Erzählung zu Wort gekommen sind, stumm bleiben mussten. Auch wenn man dem Text darin folgt, dass die Macht über die Interpretation dasjenige ist, was es gilt, sich zu erkämpfen, muss doch etwas da sein, was interpretiert werden kann. Man kann davon sprechen, dass der Roman eine weibliche Gegengeschichte ist, aber man darf das nicht als eine Lösung eines Problems verstehen, so als entstünde durch ihn tatsächlich eine solche Gegengeschichte und die Ungerechtigkeit, von der er erzählt, sei gesühnt. Vielmehr ist er eine Anklage, dass es eine solche Geschichte nicht gibt.

 

Literatur

[1] Haratischwili, Nino: Das achte Leben (für Brilka). Frankfurt a.M. 2014, S. 521 f.

[2] Ebd., S. 521 f.

[3] Ebd., S. 523.

[4] Ebd., S. 1271.

[5] Ebd., S. 1273.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka). Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2014.
1280 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002084

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