In großen Schritten durch Nyamata

„Plötzlich umgab uns Stille“ ist ein weiteres eindringliches Zeugnis des französischen Autors Jean Hatzfeld über den Völkermord in Ruanda

Von Florian BirnmeyerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Florian Birnmeyer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der französische Autor und Journalist Jean Hatzfeld beschäftigt sich seit 16 Jahren mit dem Genozid in Ruanda. Seine (bisher) fünf Bücher über den Völkermord an den Tutsi 1994 verleihen den Überlebenden, Tätern und Nachgeborenen eine Stimme. Sein neuestes ins Deutsche übersetzte Buch „Plötzlich umgab uns Stille“ zeichnet das eindrückliche Portrait des 66-jährigen Genozid-Überlebenden Englebert Munyambonwa aus Nyamata im Süden Ruandas. Im Gegensatz zu Hatzfelds anderen vier Veröffentlichungen über den Genozid in dieser Gemeinde handelt es sich diesmal nicht um ein polyphones Zeugnis. Vielmehr konzentriert er sich auf die Sichtweise einer einzigen Person, des Zeugen Englebert Munyambonwa.

Englebert Munyambonwa und Jean Hatzfeld kennen sich seit dessen erster Reise in das ostafrikanische Land kurz nach Ende des Völkermords 1994. Im allgemeinen Schockzustand begegnet dem Reporter an seinem ersten Tag in Nyamata mit Munyambonwa ein Überlebender, der sich trotz der unmenschlichen Massaker nicht nur seine Heiterkeit und Lebensfreude bewahrt hat, sondern auch seinen Witz; der zudem Französisch spricht und im Laufe der wiederkehrenden Besuche des Franzosen zu einem guten Freund wird.

Zu Beginn des Buchs entführt der Autor in das Nyamata, wie es sich ihm im Jahr 1994 bei seiner Ankunft darbot: „Nyamata erwachte nur langsam aus der dumpfen Lähmung, die der Genozid hervorgerufen hatte. […] Der Marktflecken sah sich ins Chaos gestürzt. Die Menschen versuchten, ihre Trauer zu überwinden, gegen das Elend anzukämpfen und, wenngleich vergeblich, die Leere zu füllen.“ 50.000 von insgesamt 59.000 Tutsi wurden in Nyamata mit Macheten, Knüppeln und einfachen Schlagwaffen getötet. In der lokalen Kirche, die bei vorhergehenden Massakern an den Tutsi ebenso wie öffentliche Gebäude und Kirchen im restlichen Ruanda stets eine sichere Zuflucht geboten hatte, starben allein am 15. April 1994 mehrere tausend Menschen. Insgesamt wurden in Ruanda innerhalb von circa drei Monaten mindestens 800.000 Tutsi und oppositionelle Hutu auf grausame Weise umgebracht. Hatzfelds Werk über Englebert Munyambonwa macht durch die Fokussierung auf einen Überlebenden die unvorstellbaren Opferzahlen, das Grauen des Genozids greifbar.

Munyambonwa wird zunächst kurz aus der journalistischen Außenperspektive portraitartig vorgestellt. Hauptteil des Buchs ist der Zeugenbericht des Ruanders in Ich-Form, den Hatzfeld auf der Basis von Gesprächen mit seinem guten Freund verfasste: Englebert Munyambonwa steht jeden Morgen um sechs Uhr auf, wandert energisch durch die Straßen und die ländliche Gegend von Nyamata und trifft sich am Abend mit Bekannten, um in einer der Kneipen des Orts zu trinken, zu plaudern und zu spaßen. Er ist weder der Geselligkeit noch dem Alkohol abgeneigt und liebt es zu spazieren: „Im Gehen weiche ich dem Pessimismus aus“, sagt er selbst über seine täglichen Spaziergänge, „Ich gehe in großen Schritten, ich unterhalte mich mit den Leuten, die ich zufällig treffe, ohne mich für irgendjemand Bestimmtes zu entscheiden.“

Neben der Beschreibung seines heutigen Lebens berichtet Munyambonwa, was er vor dem Völkermord tat und wie es für Tutsi unter einer aufkeimenden völkischen Hutu-Ideologie immer schwieriger wurde. Außerdem ist zu erfahren, wie er und andere Verfolgte sich während der mehrere Monate anhaltenden und vom Staat orchestrierten Hetzjagd auf Tutsi im ruandischen Busch und Papyrussumpf versteckten.

Engleberts Besitz passt heute in einen einzigen Koffer, wenngleich sein Großvater einst Tutsi-König war: Yuhi Mazimpaka, der Ruanda unter belgischer Kolonialherrschaft regierte und „mir ein bisschen ähnlich war“ (S. 19), weil jener ebenso wie Englebert gerne plauderte, viel trank und ein guter Erzähler war. „Plötzlich umgab uns Stille“ entpuppt sich auch als Geschichte einer ehemals privilegierten ruandischen Familie über drei Generationen hinweg. Die Erzählung eines familiären Abstiegs und kompletten gesellschaftlichen Wandels am Beispiel des Englebert Munyambonwa verlebendigt so die Geschichte Ruandas vom Kolonialismus über den Völkermord bis in die Gegenwart.

„Plötzlich umgab uns Stille“ verleiht in guter deutscher Übertragung einem Lebemann, Alkoholiker, Außenseiter und Überlebenden des Genozids eine Stimme. Dieser hatte bereits kurz nach Ende des Völkermords den Entschluss gefasst, sich dem Kampf ums Über- und Weiterleben zu stellen, einem Kampf, der Opfer wie Täter bis heute verfolgt. Der durchaus widersprüchliche Englebert Munyambonwa, der im Genozid wie jede und jeder andere Tutsi zahlreiche Verwandte verlor, erhält durch dieses Buch von Hatzfeld nicht nur ein eigenes literarisches Zeugnis, welches das Fremd- und Selbstportrait des Protagonisten nebeneinanderstellt, sondern auch eine Würdigung als guter und wertgeschätzter Freund.

Das Buch ist eine kurze Lektüre mit ernstem Inhalt. Die lebensfrohe und humorvolle Art des Protagonisten macht Hoffnung. Sein Alkoholismus und die manchmal anklingende Verdrängung der Genozid-Erlebnisse sprechen hingegen eine andere Sprache, nämlich die des wiederkehrenden Leidens. Das ambivalente Portrait Engleberts verdeutlicht, wie schwierig es ist, über die Traumata des Völkermords hinwegzukommen. Lobenswert ist, dass Hatzfeld den Menschen Englebert möglichst realitätsgetreu zu portraitieren versucht. Er verschweigt weder Unvorteilhaftes noch stellt er das erlebte Elend der Hauptperson voyeuristisch dar. Hatzfelds aufrichtiger und liebenswerter Freund hat keinen Sonderstatus, sondern wird letztendlich wie jeder Zeuge in Hatzfelds anderen Büchern behandelt.

Der Franzose versteht sich als Chronist der Menschen aus Nyamata, als Mittelsmann und Sprachrohr. Da dabei eben auch traumatische Erfahrungen eine wichtige Rolle spielen, ist der Band keine leichte Lektüre. Trotz der Kürze ist der Inhalt brisant und aufwühlend  – wie die anderen Zeugnisbücher des Autors.

Obwohl seit den blutigen drei Monaten in Ruanda mehr als 20 Jahre vergangen sind, beschäftigt das Geschehen die dortige Gesellschaft bis heute und wohl auch in Zukunft. Und auch Jean Hatzfeld lassen die Ereignisse nicht los: Er versucht in seinen Veröffentlichungen zu dem Thema, einige Zeitzeugnisse festzuhalten, dadurch vor dem Vergessen zu bewahren und einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Gerade in Frankreich wurde der anfangs medial wenig beachtete und bisweilen verharmloste oder falsch eingeschätzte Ruanda-Genozid durch Hatzfelds Werk einer größeren Öffentlichkeit bekannt.

Hatzfelds Bücher sind dabei formal weder journalistische Interviews noch fiktionale Erzählungen oder historiographische Dokumente; denn die Zeugenberichte werden als Berichte in Ich-Form unter dem Namen der jeweiligen Person veröffentlicht. Der Autor selbst klassifiziert seine Bücher als Sammlungen von „récits“, Erzählungen, und veröffentlicht sie als literarische Werke unter seinem Namen. Der französische Schriftsteller, dessen Name auf den Buchcovern steht, tritt jedoch nur teilweise selbst als Erzähler in Erscheinung. Die eigentlichen Helden sind die ruandischen Zeuginnen und Zeugen wie Englebert Munyambonwa. Auf Deutsch sind bisher neben Plötzlich umgab uns Stille  noch zwei weitere der fünf Werke Jean Hatzfelds zum Ruanda-Genozid erschienen. Im ersten Buch, Nur das nackte Leben. Berichte aus den Sümpfen Ruandas (2004), berichten 14 überlebende Tutsi aus Nyamata von ihrer persönlichen Zeit in den Sümpfen und vom Weiterleben. In Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermords in Ruanda (2003) sprechen hingegen zehn verurteilte und inhaftierte Genozid-Täter über ihre Verbrechen. Die Erzählungen der Opfer und der Täter ergänzen sich im Rahmen von Hatzfelds Ruanda-Projekt, indem sie ein und dasselbe Geschehen aus zwei Perspektiven beleuchten.

Titelbild

Jean Hatzfeld: Plötzlich umgab uns Stille. Das Leben des Englebert Munyambonwa.
Übersetzt aus dem Französischen von Ahlrich Meyer.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2016.
109 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-13: 9783803127518

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