Der große unabgeschlossene Roman

Gerhard Henschel schreibt weiter am eigenen Leben

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit mehr als zehn Jahren können Leser Gerhard Henschels autobiografischem Romanzyklus folgen, in dem er am Beispiel seines Alter Ego Martin Schlosser sein Leben zur Literatur verdichtet. Schlossers Weg führt dabei von einer glücklichen Kindheit bei Koblenz über eine Jugend im öden, emsländischen Meppen hin zu mehr oder weniger ruhelosen Studien- und Wanderjahren. Dass die Reihe mit dem Durchbruch als Schriftsteller enden könnte, wäre denkbar. Das aber ist wohl nicht geplant. Zudem verfügt der 1962 geborene Henschel über ein beachtliches Publikum. Das jedoch ist ihm nicht mit einem bestimmten Band zugeflogen, sondern er bekam es nach und nach durch Arbeiten für Zeitungen und Zeitschriften. Dazu gehörten „taz“, „Titanic“ oder deren längst verblichenes Konkurrenzblatt „Kowalski“.

Von dieser langsamen, aber stetigen Karriere erzählt auch der Romanzyklus, dessen siebter Band Arbeiterroman gerade erschienen ist. Wie schon bei den Vorgängern – zuletzt dem 2015 erschienenen Künstlerroman – täuscht der generische Gattungsname. Tatsächlich bilden die Bücher eine einzige fortlaufende Erzählung ohne konventionelle Spannungsbögen. Mit Schlosser als Zentralfigur rekonstruieren sie minutiös den Alltag der alten Bundesrepublik, von Familienfesten und den wechselnden Beziehungen der Hauptfigur bis hin zu Werbeslogans, Popsongs und Kommentaren zu aktuellen politischen Ereignissen. Diese Erzählweise ist an Arno Schmidt, stärker aber noch an Walter Kempowski geschult, den Schlosser persönlich kannte, und der, wie schon in den Vorgängerbänden, auch hier wieder als Nebenfigur auftaucht – diesmal allerdings nur in Erwähnungen Dritter. Tatsächlich sind die Martin-Schlosser-Romane ähnlich wie Kempowskis Deutsche Chronik gebaut, nämlich aus Hunderten kurzer und kürzester Absätze, manche pointiert, manche pointenreich, wobei Henschel auch vor Kalauern nicht zurückschreckt. Ebenfalls in einem anderen Punkt arbeitet der Schriftsteller ähnlich wie sein Vorbild, nämlich streng dokumentarisch: Zur Buchpräsentation des Arbeiterromans lud Hoffmann und Campe Blätter wie den „Spiegel“ und die „Welt“ in den Keller von Henschels Haus in Bad Bevensen, wo er ein Privatarchiv eingerichtet hat. Dort bewahrt er nicht nur seine eigenen Arbeiten, sondern auch eine Fülle von Material zu seiner Familiengeschichte auf, das er in seinen Texten verwertet.

Der Arbeiterroman erzählt zwar lediglich aus den Jahren 1988 bis 1990, aber in ihm kulminieren viele Erzählstränge, die Henschel schon in den Vorgängerbänden angelegt hatte. Noch eine geringe Rolle spielt der Fall der Mauer, aber die politischen Ereignisse laufen bei Henschel ohnehin eher als historisches Hintergrundrauschen mit: Die Figuren beziehen Stellung, aber ihren Alltag ändern die Ereignisse nicht. Mit der Beziehung zur Aachener „Öko-Tussi“ Andrea, die die letzten Bände durchzog, ist Schluss. Viel dramatischer aber ist das Ende, das die unglückliche Ehe der Eltern findet: Die Mutter stirbt an Krebs. Ihr Sterben und die Desorientierung des Vaters schildert Henschel ohne großes Pathos, aber doch anrührend. Trotzdem bleibt der Roman konsequent, indem er zeigt, wie der Tod den Alltag einfärbt, der dabei trotzdem weiterläuft. Auch der Selbstmord seines Verwandten Gustav erschüttert den Erzähler.

Ein Arbeiterroman ist das Buch aber nicht nur, weil wir den Erzähler beim Malochen als Lagerarbeiter einer Spedition erleben (daher die Europaletten auf dem Cover) oder als furchtlose Thekenkraft in der Kleinstadtkneipe Na Nu. Vor allem beginnt die Arbeit als Schriftsteller, die sich schon durch die beiden Vorgängerbände zog, nun Früchte zu tragen. Dabei sind die Anfänge denkbar bescheiden – Schlosser liefert gelegentliche Beiträge für das Stadtmagazin „Diabolo“ in seinem Wohnort Oldenburg. Bisher war nur von den Mühen der Ebene zu lesen, aber nun nimmt die Karriere des Protagonisten Fahrt auf. Das liegt vor allem daran, dass er mit dem Berliner Essayisten Michael Rutschky, der die kleine Zeitschrift „Der Alltag“ herausgibt, einen Mentor gewinnt. Rutschky erkennt das Potenzial von Schlossers Arbeiten, macht Verbesserungsvorschläge und druckt erste Texte. Am Ende des Arbeiterromans kann Schlosser seine ersten Texte in „Kowalski“ veröffentlichen. Ein wichtiges Etappenziel ist erreicht.

Die verschiedenen Aspekte der Handlung – Privatleben, Kulturgeschichte, Politik und die Arbeit als Schriftsteller – werden nicht direkt aufeinander bezogen, so dass etwa die Auseinandersetzung mit dem Tod die Bedingung für den künstlerischen Durchbruch wäre. Beides wird protokolliert, nebeneinander gestellt. Dadurch werden die Absurditäten und Widersprüche des individuellen Lebens sichtbar, und gleichzeitig werden die völlig verschiedenartigen Elemente der Handlung automatisch als Teil von etwas Größerem gezeigt. Das Leben als langer, nur zeitweise ruhiger Fluss. Man darf gespannt sein, wie es im nächsten Band weitergeht – er ist als Dorfroman angekündigt und dürfte 2018 erscheinen.

Titelbild

Gerhard Henschel: Arbeiterroman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2017.
576 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783455405750

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