Was bisher geschah

Karl-Heinz Hense versucht in seiner Erzählung „Schattenmann“ Licht ins Dunkel familiärer Miseren zu bringen

Von Johanna MangerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Manger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Männer auf einer Bank vor dem Justizgebäude in der Hauptstadt. Einer, der unbekannt und namenlos bleibt, zeichnet, der andere lässt den Blick schweifen, um in skizzenhaften Erinnerungen sein bisheriges Leben zu rekonstruieren – ein in Karl-Heinz Henses Erzählung Schattenmann immer wiederkehrendes Bild, das den Leser aus der kriminellen Vergangenheit des erzählenden Protagonisten Otto zurück in die Gegenwart holt. Erinnerungsfetzen an eine gescheiterte Familie fügt Karl-Heinz Hense zu einem ernüchternden Gesamtbild zusammen, wobei er selbst sprachlich zu scheitern droht und Themen wie Beziehung, Kriminalität und Alkoholismus einen sehr klischeehaften Charakter verleiht.

Otto beginnt bereits in der Schule zu klauen und etabliert sich schnell als Drogendealer, der auch vor anderen dubiosen Geschäften nicht zurückschreckt, mit denen er neben dem Scheinstudium seinen Lebensunterhalt verdient und auch der Mutter gelegentlich finanziell unter die Arme greift. Obwohl er sich häufig mit der Polizei herumärgern muss und sogar im Gefängnis landet, scheint er das kriminelle Dasein kaum zu hinterfragen. Bis zu dem Tag, an dem es in jenem Gerichtsgebäude zu einer einschneidenden Begegnung kommt: Während einer Gerichtsverhandlung steht der wegen eines Raubüberfalls angeklagte Otto plötzlich seinem ehemaligen Bundeswehrgenossen Friedes gegenüber, den er nachts, ohne ihn zu erkennen, überfallen hatte. Es folgt ein grundlegender Lebenswandel.

Von nun an entsagt Otto jeglicher Kriminalität und versucht, seine fragwürdige Entwicklung zu ergründen. Antworten sucht er dafür vor allem in der Geschichte seiner Familie, deren Wunsch, sich vom bäuerlichen Landmilieu zu befreien und den Sprung in eine bessere Gesellschaftsschicht zu schaffen, von Grund auf kläglich scheitert. Ottos Mutter Rike flüchtet sich am Ende ihres verbitterten Lebens mehr und mehr in übertriebene Religiosität, während Vater Franz und Schwester Anna ihren Frust nur noch durch übermäßigen Alkoholkonsum ertragen können. In Sachen Beziehung klappt es in der Verwandtschaft ebenso wenig wie bei Otto selbst. Dafür ist vor allem die immer schnell eintretende sexuelle Frustration verantwortlich, die durch keinerlei wirkliche Hingabe aufgefangen werden kann und entweder zu Scheidungen oder zum frustrierten Nebeneinanderherleben führt – in einer so stereotyp materialistischen Welt, wie Hense sie entwirft, scheint das aber auch nicht verwunderlich: Der Reiz junger Frauen, die nur auf ihr Äußeres reduziert werden, ist nun einmal ebenso flüchtig wie die Faszination für teure Autos, die als Barometer für männliche Attraktivität gelten.

Was die Figuren verbindet, ist nicht ihre emotionale Nähe zueinander, sondern vielmehr die seelische Einsamkeit, die sie alle teilen und die Unfähigkeit, tiefergehende Beziehungen einzugehen. Gerade dadurch, dass der Erzähler die meist klischeegeladenen Gefühlszustände ständig nur oberflächlich benennt, als wolle er Erklärungen abgeben, bleiben uns die Figuren im Grunde fremd. Erwachende Liebesgefühle werden erschreckend unromantisch auf „einen gewissen maskulinen Appetit auf […] weibliche Attraktivität“ reduziert, Anna spinnt sich in ihrer Verzweiflung „in einen Kokon aus Fatalismus ein“ und mit dem „offenbar aufgebrauchten Liebesvorrat“ erklärt sich Otto auch die zunehmend erkaltende Beziehung zu seiner Frau Sybille. Durch solche sarkastisch wirkenden Kommentare hat man das Gefühl, der Protagonist selbst stünde in ironischer Distanz zu seiner eigenen Geschichte und nehme diese gar nicht ernst. Diese Distanz wird dadurch verstärkt, dass Otto, der eigentlich von seinen Erlebnissen meist in der Ich-Perspektive erzählt, häufig die Position eines auktorialen Erzählers einnimmt und von sich in der dritten Person spricht.

Auch die oft umständliche, teils geschwollen wirkende Sprache Henses schafft beim Leser mehr Distanz als Verständnis. Der Vater zum Beispiel „achtet des eitlen Wunsches seiner Tochter nach einer Model-Karriere nicht“ (ja, so der Wortlaut!), wenn er auch von einem „gewissen Erzeugerstolz“ erfüllt ist. Es drängt sich die Frage auf, wie sehr die gestelzt und veraltet wirkenden Formulierungen tatsächlich beabsichtigt sind. Stellenweise hat man gar den Eindruck, als solle die auf wenige Themen reduzierbare Erzählung in ihrer Einfachheit durch sprachliche Raffinessen (und zu häufig verwendete Füllwörter) aufgebessert werden. Doch Synonyme wie „fahrbarer Untersatz“ für Auto, „Beischlafversuche“ für Sex oder „Veloziped“ für Fahrrad wirken eher gekünstelt und abgehoben.

Der fehlende Bezug zwischen der sprachlichen Form und dem Inhalt der Erzählung kann nur auf einer abstrakteren Ebene gefunden werden: In den insgesamt episodenhaft wirkenden Erzählsträngen, die kaum in Beziehung zueinander treten, obwohl die Lebensgeschichten der Figuren ja eigentlich sehr eng miteinander verwoben sind, scheint sich deren emotionale Distanz zueinander widerzuspiegeln. Auch bleibt an vielen Stellen offen, welche Bedeutung die oft sehr detaillierten Beschreibungen einzelner Begebenheiten für den kriminellen Werdegang Ottos haben.

In Schattenmann wird letztendlich fast alles gesagt und erklärt, aber wenig erzählt. Die Erzählung wird ihrem Titel insofern gerecht, als dass der eigentliche Charakter der Figuren geradezu im Schatten der kategorisierenden Sichtweise und der juristisch wirkenden Sprache des Erzählers verborgen bleibt. Man wünscht dem Text etwas mehr Offenheit für die poetische Einfachheit des Alltäglichen, das Geschichten erzählt, ohne erklärt werden zu müssen und dem Leser die Freiheit gewährt, sich selbst einen Zugang zu den Figuren und ihren Lebensgeschichten zu verschaffen.

Ob sich Otto durch die Abwendung von der Kriminalität auch vom materialistischen Klischeedenken befreit, bleibt offen. Am Ende kommt der Protagonist immerhin zu der Einsicht, dass es ihm und seiner Schwester als Kind vor allem an „emotionale[r] Orientierung […] mit positiven, sinnvollen Zielsetzungen“ fehlte. Diese Erkenntnis wirkt zwar wie ein kleiner Lichtblick, der aus der düsteren Vergangenheit hervorscheint, doch macht sie das sprachlich misslungene Werk Henses kaum lesenswerter.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2017 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2017 erscheinen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Karl-Heinz Hense: Schattenmann. Erzählung.
Shaker Verlag, Aachen 2017.
155 Seiten, 13,90 EUR.
ISBN-13: 9783956315589

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