Hommage und Provokation

Der Roman „An Liebe stirbt man nicht“ von Nathalie Azoulai

Von Stephanie BungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Bung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Herbst publizierte der Secession Verlag Zürich unter dem Titel An Liebe stirbt man nicht den von Paul Sourzac ins Deutsche übersetzten Roman von Nathalie Azoulais Titus n’amait pas Bérénice, der 2015 im Pariser Verlag P.O.L. erschienen war. Ausgezeichnet mit dem Prix Médicis und auch für den renommierten Prix Goncourt vorgeschlagen, weckte der Roman in Frankreich hohe Erwartungen. Bereits der Titel der Originalausgabe stimulierte das Interesse seines bildungsbürgerlichen Publikums, das den Satz „Titus n’aimait pas Bérénice“ natürlich problemlos als Anspielung auf die Tragödie Bérénice (1670) von Jean Racine identifizieren konnte. In diesem zum Herzen der französischen Klassik gehörenden Stück geht es um die Unvereinbarkeit von Realpolitik und individuellem Liebesglück, da Titus in seiner Eigenschaft als römischer Kaiser keine ausländische Königin (Bérénice) heiraten darf, zumindest nicht, ohne des Volkes Zorn auf sich zu ziehen und einen signifikanten Machtverlust zu riskieren. Die Zeitgenossen Racines wurden durch diesen glücklos liebenden Kaiser unweigerlich an ihren eigenen Herrscher erinnert, nämlich den jungen Ludwig XIV., der sich seinerzeit die Eheschließung mit Maria Mancini, einer Nichte des Kardinals Mazarin, aus dem Kopf hatte schlagen müssen. Genauso wie Racine, der mit seiner Figurenkonstellation an das kollektive Gedächtnis der Franzosen appellierte, weiß auch Nathalie Azoulai um das Vergnügen der Wiedererkennung, mit dem sie eine Leserschaft belohnt, die ihre Klassiker in- und auswendig kennt. Es ist daher eine spannende Frage, ob ihr Roman auch außerhalb des literarischen Feldes erfolgreich sein wird, für das er ganz offensichtlich geschrieben wurde.

Der Roman ist eine Liebeserklärung an das Frankreich des 17. Jahrhunderts und somit an jene Epoche, die die Franzosen auch heute noch als ihr Grand Siècle bezeichnen. Dabei legt die Autorin auf die Fremdheitserfahrung, die man mit dieser Vergangenheit machen könnte, deutlich weniger Wert als auf ein vermeintlich universelles Empfindungsvermögen, das erkläre, warum man sich heute noch so sehr für Racine begeistern kann. Im Gewand einer fiktionalisierten Biographie stattet sie nicht nur ihn mit einer für den heutigen Leser nachvollziehbaren Handlungslogik aus, sondern lässt auch seine Zeitgenossen, allen voran den Sonnenkönig selbst, im Lichte einer modernen Psychologie agieren. Dabei hält sie sich jedoch strikt an die historischen Gegebenheiten, hat sehr genau recherchiert und die einschlägige Forschung zur Kenntnis genommen. Auch gelingt es ihr durchaus, dem nach wie vor ungebrochenen Interesse an Racine eine ästhetisch höchst ansprechende Form zu geben, die zugleich imstande ist, biographische Informationen zu vermitteln. Allerdings werden sich jene Leserinnen und Leser enttäuscht sehen, die jenseits der Fakten eine gewisse Sensibilität für die strukturellen Eigenarten der Frühen Neuzeit erwarten. So verleiht die Autorin dem zehnjährigen Racine beispielsweise die Intuition eines impressionistischen Malers, wenn sie ihm beim Anblick des in der Herbstsonne rot glühenden Ackerlandes die Worte in den Mund legt: „Wenn ich Maler wäre, […] würde ich diesen Kontrast malen, ich würde die Erde rot malen.“ Die hier zum Ausdruck kommende empfindsame Sinnlichkeit, durch die sie den jungen Künstler insgesamt charakterisiert, vermag dabei sogar noch zu überzeugen. Auch dass sich die einzigartige Sprache seiner Dramen aus jener Spannung speist, die einerseits durch die von den Geistlichen in Port-Royal gelehrten Tugenden, geistige Disziplin und grammatikalische Präzision, und andererseits durch eine an der sinnlich erfahrbaren Welt geschulten Vorstellungskraft aufgebaut wurde, ist keineswegs abwegig. Im Gegensatz dazu ist jedoch der Gedanke, dass sich Racine in späteren Jahren als ebenbürtiger Partner seines Königs imaginiert hätte, mit den Wahrnehmungsmustern der Zeit nur schwer vereinbar. Die folgende Passage trägt wenig zum historischen Verständnis der handelnden Personen bei und mutet im Kontext vormodernen Verhaltens selbst unter Berücksichtigung ihres fiktionalen Charakters seltsam an: 

Der König will Flandern erobern. […] Manchmal kann Jean sich schwer vorstellen, dass dieser tanzende, die Dichtung schätzende junge Mann sich eines Tages mit Blut und Schlamm bedecken wird. Aber letztlich, sagt er sich, agiert jeder auf seinem eigenen Schauplatz. Wenn wir gemeinsam voranschreiten, werden meine Stücke überall gespielt, während er seinerseits neue Länder erobert. Und während ich über die Geister walte, wird er der Herrscher über die Körper sein.

Und dies ist nicht die einzige Stelle, an der ein solch egalitäres Verhältnis von König und Künstler imaginiert wird. So liest man beispielsweise abermals in einem späteren Kapitel über die Tagträume des Jean Racine:

Der König fehlt ihm. Gerade hat er fünf Monate bei der Armee verbracht und ist glücklicherweise unverletzt zurückgekehrt. Jean hat keinerlei Vorstellung vom Leben auf dem Schlachtfeld. Er stellt es sich schlammig und feucht vor, von all den Gebeten widerhallend, mit denen die Soldaten zu Gott flehen. Zwischen ihm und dem König sind die Rollen klar verteilt. Ihm die Schatten und Schimären, dem König die Soldaten, die Pferde, die Kanonen. 

Warum dieser ständige, unzeitgemäße Vergleich mit dem Herrscher? Welchen Zweck erfüllen diese fiktiven Gedankenspiele in der Ökonomie des Romans? Vielleicht geht es der Autorin darum, Racine auf allen Ebenen als einen Vorläufer modernen, in diesem Falle fast schon demokratischen Empfindens zu zeichnen. Vielleicht will sie auf diese Weise auch nur eine gewisse Überheblichkeit des Dichters zum Ausdruck bringen, die man ihm sogar in der Forschung zuweilen unterstellt hat. Gleichwohl kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es an diesen Stellen eigentlich die Autorin selbst ist, die ihren Lesern ein Doppelportrait von Kunst und Krone präsentieren will. So drängt sich im Zuge der Romanlektüre mehrfach der Verdacht auf, dass sie ihr Publikum nicht nur mit einer literarischen, sondern auch mit einer politischen Ikone ködern will, nicht nur mit Racine, sondern auch mit Ludwig XIV. Auf diese Weise schreibt Azoulai sich geschickt in das Gedächtnis eines Landes ein, das seine Schriftsteller zumindest retrospektiv tatsächlich wie Könige behandelt und ihnen einen Platz innerhalb seines kulturellen Erbes einräumt, der sich mit demjenigen seiner Herrscher durchaus vergleichen lässt. 

Diese Einschreibung geschieht keineswegs willkürlich. So ist die Rahmenhandlung, in die das fiktionalisierte Leben des Jean Racine eingebettet ist, in unserer Zeit angesiedelt und entlang einer zentralen Thematik, der Liebe, moduliert. Ein verheirateter Mann namens Titus trennt sich von seiner Geliebten namens Bérénice. Die junge Frau sucht Linderung ihres Schmerzes in der Lektüre der zwölf Theaterstücke Racines. Nach und nach verfällt sie dem Zauber der Sprache und will verstehen, was das für ein Mann gewesen sein könnte, der vor so langer Zeit imstande war, das Wesen der Liebe aus – wie ihr scheint – weiblicher Perspektive so gut zu erfassen. Interessanterweise will ihre Umwelt sie von diesem Vorhaben, d.h. von der Beschäftigung mit einem Künstler, den man als Galionsfigur der französischen Nation begreift, abhalten: 

Ach komm, hör auf, lass besser die Finger von Racine. Wieder warnt man sie mit Nachdruck. Du wirst dir daran noch die Zähne ausbeißen. Deine armen kleinen Hände werden diese Marmorstatue niemals greifen können. Racine gehört dir nicht, Racine ist Frankreich. 

Einmal mehr hat man den Eindruck, dass sich die Autorin hier indirekt selbst an ihre Leserinnen und Leser wendet, indem sie eine Stimme erklingen lässt, die sie möglicherweise aus eigener Erfahrung kennt. Es handelt sich um eine selbstgewisse Stimme, welche die französische Literatur als ihr Eigentum zu betrachten scheint. Als Emblem eben dieses Eigentums gehört Racine nach Ansicht der Stimme nicht in die Hände einer Frau, geschweige denn in die Hände einer (vermeintlich) Fremden. Zwar wird an keiner Stelle eine Aussage darüber gemacht, woher die Bérénice des Romans – im Unterschied zu derjenigen des Theaterstückes – stammt. Aber Nathalie Azoulai, selbst Französin und Literaturwissenschaftlerin, ist das Kind ägyptischer Einwanderer, was sie für eben jene Stimme sensibilisiert haben dürfte, die sie hier imaginiert. Vor diesem Hintergrund lässt sich ihr Roman, gerade weil er sich so offensichtlich und an manchen Stellen wenig subtil in das kollektive Gedächtnis der Franzosen einschreibt, auch als Provokation begreifen. So gesehen handelt es sich um die selbstbewusste Geste einer Frau, die für literarische Zugehörigkeit jenseits nationaler Grenzen eintritt und sie zugleich eloquent umsetzt. Als eine solche Geste, mit der sich die Autorin im literarischen Feld Frankreichs positioniert, ist dieser Roman in jedem Falle hochinteressant. Es mag ein Portrait des emblematischen Künstlers entstanden sein, das unter historischen Gesichtspunkten nicht immer vollständig überzeugt. Wer sich für das Grand Siècle als Blütezeit der Künste und der Literatur interessiert, könnte sich, neben der bereits erwähnten Parallelisierung des Autors mit Ludwig XIV., vor allem an der etwas schablonenhaften Darstellung der Salonkulturen stoßen. Andererseits wurden jedoch insbesondere der junge Racine und seine Kindheit in Port Royal sehr einfühlsam und ansprechend ausgemalt. Und nicht zuletzt ist es nach wie vor spannend, der Frage nachzugehen, wie es diesem Autor des 17. Jahrhunderts gelungen ist, der Liebe in all ihren Facetten eine so überzeugende Form zu verleihen, dass seine Stücke bis heute auf allen Bühnen der Welt gespielt werden.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Nathalie Azoulai: An Liebe stirbt man nicht.
Paul Sourzac.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2017.
300 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783906910161

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