Zupaddeln auf die Todeswalze: Hinweise auf drei ältere Bücher von Ulrich Horstmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Ulrich Horstmanns Werk verschränken sich die Sujets Apokalyptik, Melancholie und individuelle Todesangst. Dies illustriert auch das fast zeitgleiche Erscheinen dreier Bücher, in die Horstmanns Jahrzehnte währende Auseinandersetzung mit den genannten Themen einfließt. Ihr gemeinsamer Nenner: Erkenntnis verdankt sich immer mentalen Grenzerfahrungen und ist ohne sie nicht möglich. Auch die psychische Stabilität des Künstlers oder Intellektuellen ist Horstmann zufolge nur auf einem Umweg zu erreichen: Ein Ausweg zeigt sich allenfalls im Durchstehen und Aushalten von Ausweglosigkeiten. Man muss sich (imaginativ) vernichten, um weiterleben zu können.

In Abschreckungskunst arbeitet Horstmann eine bereits in seinen frühen Essays entfaltete These anhand von Beispielen (post-)apokalyptischer Romane, Filme, Theaterstücke und Songs insbesondere der 1970er- und 1980er-Jahre heraus. Nämlich, dass uns die Kunst das Schlimmste ausmalt, um es zu verhindern. Die apokalyptische Fantasie, so Horstmann, habe das Kunststück fertiggebracht, mentale Rückstände aufzuarbeiten, das Unvorstellbare greifbar zu machen und uns mit der Simulation des Ernstfalls abzuschrecken. Noch in den Manövern und Kriegsspielen der Militärstrategen werden Aggressionen wirkungsvoll abgearbeitet.

Dazu passt unter leicht verschobenem Blickwinkel die Anthologie Schattenspiele. Das Buch versammelt Texte von Autoren, welche „die Wirklichkeit imaginativ vervielfältigt und vertausendfacht, die Geschichte über Geschichte entdeterminiert und auch den biologischen Schlußstrich überschrieben“ haben. Ähnlich wie in Abschreckungskunst geht es hier um das Ausdenken einer kontrafaktischen Gegenwelt: die literarische Hades-Reise. Den eigenen Tod imaginativ vorausgefühlt haben, inklusive Rückkehr aus dem imaginierten Totenreich, so findet Horstmann, verhilft Schriftstellern von Homer bis Samuel Becket zu einer heilsamen Ernüchterung und aktiviert große innere Kraftquellen.

Bei dem Band Die Untröstlichen handelt es sich um die Neuausgabe einer älteren Anthologie (Die stillen Brüter. Ein Melancholie-Lesebuch, 1992). Darin versammelt Horstmann melancholisches Treibgut von Dichtern, Schriftstellern, Philosophen und Gelehrten. Wer diese Texte liest, wird feststellen, dass die Schwermut für Horstmann nichts mit Trübsinn gemeinsam hat, sondern in Wirklichkeit eine bewundernswerte Form der „Klarsicht“ ist. Der Melancholiker lässt sich aus den Selbsttäuschungsmustern herausfallen und betrachtet die Wirklichkeit illusionslos. Auch hier ist Erkenntnis durch ein ungeheures Wagnis erkauft, sie entsteht im Zustand des „freien Fall(s)“, also unter Schmerzen, im „Zupaddeln auf die Todeswalze“.

Horstmanns Dialektik ist nicht nur Diagnose, sondern auch lustvoll inszeniertes ästhetisches Programm, das er sogar an seiner eigenen Person exemplifiziert hat (vgl. hier). Nicht umsonst prangt auf dem Titel der Brüter ein Ausschnitt von Théodore Géricaults berühmtem Floß der Medusa.

Frank Müller

Anmerkung der Redaktion: Diese Erinnerung an drei 2011 und 2012 erschienene Bücher von Ulrich Horstmann steht im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des ersten Bandes einer Edition von Horstmanns Gesamtwerk, an der unser Mitarbeiter Frank Müller beteiligt ist und auf die wir gesondert hinweisen.

Titelbild

Ulrich Horstmann (Hg.): Die Untröstlichen. Ein Melancholie-Lesebuch.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2011.
160 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783650239761

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Titelbild

Ulrich Horstmann (Hg.): Schattenspiele. Eine Lesereise ins Jenseits der Dichter.
Lambert Schneider Verlag, Darmstadt 2011.
206 Seiten, 9,95 EUR.
ISBN-13: 9783650237811

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Titelbild

Ulrich Horstmann: Abschreckungskunst. Zur Ehrenrettung der apokalyptischen Phantasie.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2012.
192 Seiten, 25,90 EUR.
ISBN-13: 9783770552887

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