Humanisten vs. Klerus

Die Dunkelmännerbriefe als Parodie auf die Scholastik

Von Rolf SchönlauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Schönlau

Vor 500 Jahren begeisterte sich die intellektuelle Welt – also alle, die Latein lesen und schreiben konnten – für die „Epistolae obscurorum virorum“ (Dunkelmännerbriefe), zwei Bücher, die ohne Nennung von Herausgeber, Offizin (Verlag), Druckort und Erscheinungsjahr beziehungsweise mit erfundenen Angaben publiziert wurden. Der erste Band von 1515 enthielt 41 Briefe und wurde in der revidierten Ausgabe von 1516 um sieben Briefe ergänzt, der zweite von 1517 umfasste 62 Briefe. Als Empfänger der insgesamt 110 Briefe ist der Kölner Theologe Ortwin Gratius (ca. 1480-1542) angegeben. Die Absender der Briefe des ersten Bandes kamen aus ganz Deutschland, vor allem aus den Universitätsstädten, die des zweiten Bandes auch aus Italien. Schon die sprechenden Namen vieler Briefschreiber, wie Franz Gänseprediger, Gindolf Holzhacker oder Konrad Dollenkopf, verweisen auf den parodistische Charakter der Texte.

Epistole obscurorum virorum, Titelseite, 1517 (Quelle: Wikimedia Commons)

Die zeitgenössische Leserschaft war bestens informiert über den Kontext, in dem die Dunkelmännerbriefe standen, den so genannten Pfefferkorn-Reuchlin-Streit. Johannes Pfefferkorn (1469-1522/23), ein konvertierter Kölner Jude, veröffentlichte zwischen 1507 und 1509 vier Schriften gegen die Juden, an deren Übersetzung ins Lateinische Ortwin Gratius mitwirkte. Daraufhin erhielt Pfefferkorn 1509 ein Mandat Kaiser Maximilians I., jüdische Bücher zu konfiszieren, darunter vor allem den Talmud. Der Mainzer Erzbischof Uriel von Gemmingen erhob Einspruch und bestellte in kaiserlichem Auftrag drei Gutachter – den Kölner Großinquisitor Jacob van Hoogstraten, den aus dem Judentum konvertierten Kölner Theologen und Priester Viktor von Carben sowie den Tübinger Hebraisten Johannes Reuchlin (1455-1522).

Zwischen Pfefferkorn und Reuchlin, der sich für religiöse Toleranz aussprach, entspann sich ein veritabler Schriftenstreit. Auf Reuchlins Gutachten von 1510, in dem Pfefferkorns Konversion kritisch hinterfragt wird, antwortet dieser 1511 mit seinem „Handspiegel“. Reuchlin kontert noch im selben Jahr mit der Veröffentlichung des Gutachtens als „Augenspiegel“, woraufhin Pfefferkorn 1512 den „Brandspiegel“ veröffentlicht, was Reuchlin 1513 zu einer „Verteidigung gegen die Kölner Verleumder“ veranlasst. In letzterer Schrift macht Reuchlin auch vor persönlichen Verleumdungen nicht Halt und behauptet, Pfefferkorns Frau unterhalte unsittliche Beziehungen zu Domnikanermönchen. Im Gegenzug spricht Pfefferkorn dem Hebraisten Reuchlin die wissenschaftliche Qualifikation ab, weil seine Hebräischkenntnisse mangelhaft seien.

Johannes Pfefferkorn und Johannes Reuchlin, der mit gespaltener Zunge doziert,
Köln 1521 (Quelle: Infobank Judengasse Frankfurt am Main)

Als Reuchlin gerade noch verhindern kann, 1513 vor Hoogstratens Inquisitionsgericht in Mainz geladen zu werden, wird die Privatfehde zur öffentlichen Debatte über Geistesfreiheit und Toleranz. Die Creme der deutschen Humanisten mit Ulrich von Hutten, Philipp Melanchton, Hermann von dem Busche, Georg Spalatin, Willibald Pirckheimer oder Konrad Peutinger sichern Reuchlin in Briefen ihre Unterstützung zu. 1514 veröffentlicht dieser eine Auswahl der Briefe als „Clarorum virorum epistolae”. Schon der Langtitel hebt auf Reuchlins Renommee als Gelehrter ab (hier in der deutschen Übersetzung): „Briefe berühmter Männer auf Latein, Griechisch und Hebräisch, zu verschiedenen Zeiten abgesandt an Johannes Reuchlin aus Pforzheim, Doktor beider Rechte“.

Die „Clarorum virorum epistolae” sind die Folie, vor der die im folgenden Jahr publizierten „Epistolae obscurorum virorum“ zu lesen sind. Nicht nur, was die Titelbildung angeht, sondern auch in der Grundidee der obskuren Sammlung: Die Briefe der „dunklen Männer“ sind an ihren verehrten Meister Ortwin Gratius adressiert, wie die der hellen (geistreichen, berühmten) Männer an Johannes Reuchlin. Mit dem Unterschied allerdings, dass die Dunkelmännerbriefe zu parodistischen Zwecken fingiert sind, um Pfefferkorn, die Kölner Geistlichen, den ganzen Klerus und überhaupt die scholastische Theologie lächerlich zu machen.

Ein Auszug aus dem 13. Brief, der in der Forschung als Kernstück des ersten Bandes gilt, verdeutlicht die parodistischen Mittel. Das ungelenke Küchenlatein, das auch in der deutschen Übersetzung ansatzweise herauskommt, charakterisiert die Parteigänger Pfefferkorns als grobschlächtig und ungebildet, nicht zu vergleichen mit den feingeistigen Humanisten, die drei Sprachen (Latein, Griechisch und Hebräisch) beherrschen. Wenn, wie im Beispielbrief, die Hurerei der Geistlichen streng scholastisch mit Obersatz, Untersatz und Schlussfolgerung von der Bibel abgesegnet wird, gleicht das einer Breitseite auf Sinn entstellendes Zitieren und Argumentieren mit Syllogismen. Ein köstliches Beispiel für trockenes Bücherwissen ist schließlich der Briefempfänger und Theologe, der die Kunst zu lieben aus Ovids „Liebeskunst“ gelernt hat.

Magister Conrad von Zwickau grüßt den Magister Ortvinus

Nachdem Ihr mir geschrieben habt, daß Ihr Euch nicht mehr um jene Leichtfertigkeiten bekümmert und die Weibspersonen nicht mehr lieben oder vielmehr hernehmen wollet außer ein- bis zweimal im Monat, so kann ich mich nur wundern, daß Ihr solches schreibt. Doch ich weiß das Gegenteil. Es befindet sich hier ein Geselle, der kürzlich aus Köln angekommen und Euch wohlbekannt ist und auch dort immer um Euch war. Dieser sagt, daß ihr die Frau des Johannes Pfefferkorn beschlaft; und er versicherte mir dies wahrheitsgemäß und beschwor es, und darum glaube ich es auch. Ihr seid ja so gar liebenswürdig und wißt auch gute Worte zu geben, und dazu noch kennet Ihr vollkommen die Kunst zu lieben aus dem Ovid. Auch sagte mir ein gewisser Kaufmann, es heiße in Köln, auch magister noster Arnold von Tongern bediene sich ihrer als Unterlage; allein das ist nicht wahr, da ich wahrhaftig weiß, daß er noch keusch ist und nie ein Weib berührt hat. Allein, auch wenn er es getan hätte oder tun würde – was ich aber nicht glaube –, so wäre er deshalb doch nicht so schlecht, weil Irren menschlich ist. Ihr schreibt mir viel von dieser Sünde, daß es keine größere Sünde in der Welt gebe, und führet viele Schriftstellen an. Ich weiß wohl, daß es nicht recht ist, aber doch findet man auch in der Heiligen Schrift, daß einige auf diese Weise gesündigt haben und gleichwohl selig geworden sind. So Simson, der bei einer Hure schlief, und doch geriet nachher der Geist des Herrn über ihn. Auch kann ich den Gegenbeweis gegen Euch folgendermaßen führen: „Jeder, der nicht boshaft ist, empfängt den Heiligen Geist; Simson aber ist nicht boshaft, ergo empfängt er den Heiligen Geist.” Ich halte den Obersatz für richtig, da geschrieben steht: „In eine boshafte Seele wird der Geist der Weisheit nicht kommen”; aber der Heilige Geist ist der Geist der Weisheit: ergo … Der Untersatz ist klar; denn wenn jene Sünde der Hurerei etwas so gar Schlechtes wäre, so wäre der Geist des Herrn nicht über Simson geraten, wie doch klar im Buch der Richter steht. […]

Ulrich von Hutten, Holzschnitt, ca. 1522 (Quelle: Wikimedia Commons)

Mehr als 400 Jahre blieb die Urheberschaft der Briefe im Dunkeln. Erst 1904 legte der Germanist und Literaturhistoriker Walther Brecht schlüssig dar, dass die Texte des ersten Band von 1515 fast ausschließlich auf der Feder des Humanisten Crotus Rubeanus (1480 bis um 1545) stammen, die des zweiten Bandes von 1517 auf Ulrich von Hutten (1488-1523) zurückgehen. Crotus Rubeanus studierte ab 1498 in Erfurt und war ein Studienfreund von Martin Luther und Ulrich von Hutten.

Luther konnte sich für die satirischen Angriffe gegen Klerus und scholastische Theologie, deren zweiter Teil wenige Monate vor seinen 95 Thesen erschien, nicht begeistern und nannte den Verfasser einen „Hanswurst“.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg