Anderswohin, ganz unfreiwillig

Wer Jean Amérys Aufsätze und Bücher in der Werkausgabe nachliest, wird mit schockierenden Aktualitäten konfrontiert. Ein dringendes Plädoyer für die Lektüre eines der wichtigsten Publizisten des 20. Jahrhunderts

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Was hat die vergangene Aktualität eines bestimmten geschichtlichen Ereignisses für historische Folgen, oder: wie schwer wiegt sie auf der Waagschale der Geschichte?" fragt sich Jean Améry in seinem Text "Terror der Aktualität" (1971). Klugerweise vom Herausgeber Stephan Steiner dem siebten Band der Klett-Cotta-Ausgabe der Werke Amérys, "Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte", statt eines Vorworts vorangestellt, zeigt schon dieser unscheinbare Essay, wie hellsichtig und unumgehbar Amérys Erörterungen gerade heute immer noch - oder schon wieder - zu lesen sind.

Israels Kriege

Im Sommer 2006, während die vorliegende Rezension entstand, befand sich Israel einmal mehr im Krieg mit jenen Nachbarn, die es ein für allemal seiner Existenz berauben möchten.

Bereits 1971 erinnert sich der Auschwitzüberlende Améry, am Beispiel Israels über die vermeintlich schnell verblassende Aktualität gewisser tagespolitischer Umstände sinnierend: "Im Mai 1967, unmittelbar vor Ausbruch des arabisch-iraelischen Sechstagekrieges verfaßte ich meinen Aufsatz 'Zwischen Vietnam und Israel'. Das Land mußte mir - aber gewiß nicht nur mir - als das schwache, bedrohte Opferland erscheinen, das schon vor der Gefahr stand, zu einem überdimensionalen Auschwitz am Mittelmeer zu werden. Jedoch, als erst der Sieg kam, traten die israelischen Soldaten mit den ehernen Tritten römischer Eroberer auf die Weltszene. Das Publikum, auf das es mir ankam, wollte sie durchaus als Besatzer schlimmsten nazistischen Stils und amerikanisch-imperialistischen politischen Inhalts sehen. Es war schwer, anzukommen gegen diese 'Aktualität'."

Besser kann man auch heute nicht beschreiben, was die verzerrte Sicht auf den "Nahost"-Konflikt bestimmt: Israelische Bürger, Frauen, Kinder und Shoah-Überlebende suchten zuletzt für viele Wochen in Bunkern vor den unablässig niederregnenden Raketen der libanesischen Hisbollah Schutz. Ihr Staat musste sie gegen eine reale Bedrohung verteidigen - und nicht, wie man hierzulande gerne behauptet, gegen eine paranoide Einbildung traumatisierter Nachkommen von Holocaust-Opfern, die die Shoah bloß als moralischen Blankoscheck für wiederholte und überzogene militärische 'Vernichtungsfeldzüge' gegen hilflose libanesische und palästinensische Zivilisten missbrauchen. Besonders in den europäischen Medien spielte man die unablässigen Raketenangriffe der Hisbollah immer wieder herunter: Die iranische Regierung und ihre terroristischen Verbündeten sorgten gleichzeitig für einen im Vorfeld selbst vom israelischen Militär unterschätzten Waffen-Nachschub.

Der iranische Präsident Ahmadinedschad leugnet in öffentlichen Reden schon seit Längerem offen den Holoccaust und phantasiert ungeniert über die Auslöschung Israels. Sein antisemitischer "Gottesstaat" steht mittlerweile sogar kurz davor, in den Besitz der Atombombe zu gelangen - ohne dass die internationale Gemeinschaft bislang die wirklich nötigen Schritte unternommen hätte, dies rigoros zu unterbinden (vgl. auch Henryk M. Broders Essay "WIR KAPITULIEREN!" in DER SPIEGEL 33/2006). "In Israel muß jeder Jude um sein Leben zittern, sei er auch der tapferste", erinnert Améry in seiner Rede "Der ehrbare Antisemitismus" (1976). "Und mit ihm alle Juden in allen Ländern der Erde. - Mag sein, es weiß, begreift das nur, wer Zeuge des Mordrausches im Dritten Reich war."

Schon 1973, zur Zeit des Jom-Kippur-Kriegs, schrieb Améry deutlich, was er von einer Linken hielt, die bereits damals glaubte, ihren Antisemitismus hinter dem Wort "Antizionismus" verstecken zu können: "Wer die Existenzberechtigung Israels in Frage stellt, der ist entweder zu dumm, um einzusehen, daß er bei der Veranstaltung eines Über-Auschwitz mitwirkt", heißt es in "Juden, Linke - linke Juden. Ein politisches Problem ändert seine Konturen", "oder er steuert bewußt auf dieses Über-Auschwitz hin".

Die Wirklichkeit und Möglichkeit von Auschwitz

"Unsere Zeit ist nicht die Zeit des Antisemitismus, sondern die Zeit von Auschwitz. Und der Antisemit unserer Zeit will nicht mehr seine Abneigung gegenüber Juden ausdrücken, er will Auschwitz", bemerkt der Nobelpreisträger Imre Kertész in seinem Beitrag zu dem immer noch sehr instruktiven Sammelband Stephan Steiners, "Jean Améry [Hans Maier]", der 1996 bei Stroemfeld herauskam. Er enthält u. a. Aufsätze von Jan Philipp Reemtsma, der mittlerweile preisgekrönten Améry-Biografin und Améry-Werkausgaben-Gesamtherausgeberin Irene Heidelberger-Leonard und Henryk M. Broder, der sich seit den 70er-Jahren oft und gern auf Améry bezogen hat. Was Kertész, der wie Améry das Vernichtungslager Auschwitz überlebte, mit seinem Wort einer "Zeit von Auschwitz" meint, findet seine Entsprechung in Amérys Bemerkung, das paradigmatische Vernichtungslager der Nationalsozialisten sei nach 1945 "weltnotorisch" geworden. "Ich trage auf meinem linken Unterarm die Auschwitz-Nummer", erinnerte Améry 1966, "die liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz. Wenn ich mir und der Welt, einschließlich der religiösen und nationalgesinnten Juden, die mich nicht als einen der Ihren ansehen, sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten."

Broder hat diesen Satz bereits in Steiners Sammelband von 1996 zitiert, und er schreibt dort über den spezifisch linken Judenhass zu Zeiten des Jom-Kippur-Kriegs im ihm eigenen spöttischen Ton: "Die Neue Linke nahm es den Juden übel, daß sie wieder einmal überlebt hatten. Zu gern hätte man sich mit ein oder zwei Millionen toter Juden solidarisiert, die Opfer an die linke Brust gedrückt und ihnen ein paar Gedenkbücher und Dokumentarfilme gewidmet."

Mehr denn je empörte sich die Weltöffentlichkeit auch in diesem Sommer wieder darüber, dass sich Israels Militär mit ungewissem Ausgang und bislang durchwachsenem Erfolg zunächst einmal selbst dagegen zu wehren begonnen hatte, dass seine demografisch übermächtigen Nachbarn danach trachteten, es ein für allemal von der Landkarte zu radieren. Diesen Überlebenskampf nimmt man den Israelis immer noch krumm, ja nennt ihn neuerdings allen Ernstes "unverhältnismäßig" und "inakzeptabel". Nichts ist also heilsamer, als Amérys politische Schriften wieder vorzunehmen, um sich daran zu erinnern, warum es den Staat Israel gibt - und warum man gut daran tut, der so genannten 'öffentlichen Meinung' über dieses kleine Land und seine militärische Notwehr zu widersprechen.

Dialogisches Denken

Améry argumentiert in seinen Essays stets betont subjektiv und selbstkritisch, er macht sich angreifbar und reflektiert diese Angreifbarkeit in seinen Texten wiederum in einer bedächtigen Weise, wie man es zuvor und danach nur in wenigen Fällen und nur bei vereinzelten Autoren vergleichbar hat lesen können. Améry schmuggelte als "Geheimagent der Unzufriedenheit" (Charles Baudelaire) ein radikales Denken in bürgerliche Zeitungen, Zeitschriften, das Fernsehen und den Rundfunk, das dort heute kaum noch vorstellbar wäre, wie Steiner in seinem Nachwort feststellt: "Wie konnte das alles in diesen Medien erscheinen? Mit diesem intellektuellen Anspruch? Mit diesem Satzbau? Mit diesen dezidierten und unmaskierten Haltungen?"

Die Antwort liegt wohl einerseits "im Verschwinden einer Redakteursgeneration, die noch an ernsthaften Debatten statt an Diskussions-Clownerien interessiert war", wie Steiner vermutet. Andererseits aber eben auch in der unbeirrbaren dialogischen Qualität der Aufsätze Amérys, ihrer "Revision in Permanenz" (1977), die hierin übrigens auch stark an die Charakteristika der stärksten Bücher Sigmund Freuds erinnern - auch wenn sich Améry zeitlebens eher für die Soziologie interessierte: "Nicht um die Verblüffung seines Publikums ist es ihm zu tun, sondern um ein radikales Zu-Ende-Denken bei gleichzeitigem Abwägen von Gegenargumenten, Widersprüchen und Dreinreden", fasst es Steiner zusammen.

Ursprünge radikaler Argumentationen

Ähnlich wie der jüdische Schriftsteller Wolfgang Hildesheimer beschreibt auch Améry 1978 in seinem autobiografischen Text "Mein Judentum" den 'hochnotpeinlichen' Prozess, in dem ihn die Erfahrung der Judenverfolgung zur Zeit des Nationalsozialismus bedingungslos sein "Judesein" lehrte. Und zwar, obwohl er von einem persönlichen "Judentum" niemals habe sprechen können, wie der Autor immer wieder betont. Frappierend ist an seinem Text zudem, dass Améry in ihm seine Leser genau wie Hildesheimer damit schockiert, dass er gerade seine Opfergeschichte zum Anlass dazu nimmt, die Existenz jener "Rassen" zu bejahen, deren Konstrukt einst zu seiner eigenen Verfolgung diente: "Ich weiß, das Wort Rasse ist verpönt. Aber nur ein Narr kann leugnen, daß es Menschenrassen gibt und diese sich nicht nur in physischen Eigenschaften manifestieren (dunkle, helle, rötliche Hautfarbe etc.), sondern auch in psychischen und Intellektuellen. Ich habe keine Beweise dafür, bin mir auch bewußt, daß moderne Biologen diese meine Meinung kaum würden anerkennen wollen. Aber wiegen nicht am Ende Erfahrungen eines langen Lebens schwerer als ein paar umstrittene und morgen vielleicht zu total veränderten Hypothesen führende Laboratoriumsarbeiten?"

Mit anderen Worten: Améry beginnt nach der erlittenen NS-Verfolgung, sich ausgerechnet und dezidiert auf dasjenige Stereotyp zu berufen, das sich seine Peiniger von ihm machten. Ähnlich wie Hildesheimer beharrt er damit stolz auf seinem Anderssein als Jude, also darauf, dass sein kritischer "Intellekt und meine seelische Befindlichkeit jüdisch sind [...] - und nun mag, wer da will, mich einen üblen 'Rassisten' nennen!"

Katholisch erzogen und ohne seinen im Ersten Weltkrieg gefallenen jüdischen Vater jemals bewusst kennengelernt zu haben, zeigten Améry seine Gestapo-Folterer, das sie es seien, die definitiv zu entscheiden hätten, ob ein gewisser blonder und blauäugiger Hans Maier, wie Améry damals laut Pass noch hieß, nun "Jude" sei oder nicht: "Die Gesellschaft wollte mich als Juden, ich hatte den Urteilsspruch anzunehmen; ein Rückzug in die Subjektivität, aus der heraus ich hätte vielleicht sagen können, ich 'fühlte' mich nicht als Jude, wäre belangloses, privates Spiel gewesen. Ein Jahrzehnt danach erst las ich in Sartres 'Réflexions sur la question juive', daß Jude einer sei, den die anderen als einen Juden ansehen. Dies war präzise mein Fall."

Trotz eines regelrechten eigenen Ekels vor der jiddischen Sprache und den religiösen Ritualen derjenigen Verfolgten, mit denen sich der Atheist Améry später in Frankreich zusammen interniert und dann nach Auschwitz deportiert fand, wird dem plötzlich zur Vernichtung Bestimmten klar, warum er dennoch dazugehören soll zu dieser Gemeinschaft: "Es kam dahin, daß wir Juden uns prügeln ließen ohne Widerstand. Ein einziges Mal schlug ich zurück im fehlgehenden Glauben, ich könne solcherart meine Menschenwürde wiedergewinnen. Dann sah ich ein, es habe keinen Sinn. Der Jude war das Opfertier. Er hatte den Kelch zu trinken - bis zum allerbittersten Ende. Ich trank. Und dies wurde mein Judesein."

Verteidigung der Zuflucht

Améry überlebte, und daraus folgte in den 60er und 70er-Jahren bis zu seinem Freitod im Jahre 1978 auch seine beharrliche Solidarität mit einem Staat, den auch heute wieder gerade so viele Linke gerne dazu verdammt sehen möchten, doch bitteschön ein solches "Opfertier" zu bleiben: "Um das Phänomen Israel zu begreifen", schreibt Améry 1973, müsse man "vollumfänglich die jüdische Katastrophe begreifen. [...] Israel ist - aber wie soll man einem jungen Menschen das deutlich machen? - kein Land wie irgendein anderes: es ist die Zufluchtstätte, wo Überlebende und Verfolgte nach langer Wanderschaft sich in tiefer Erschöpfung niederließen".

Es geht also laut Améry in Israel um nicht mehr und nicht weniger als die Möglichkeit, sich endlich eine letzte Rückzugsmöglichkeit vor dem Antisemitismus in aller Welt zu bewahren. "Für mich ist Israel keine Verheißung, kein biblisch legitimierter Territorialanspruch, kein Heiliges Land", stellt Améry in "Mein Judentum" klar. Es sei für ihn wirklich "nur Sammelplatz von Überlebenden, ein Staatengebilde, wo jeder einzelne Einwohner noch immer um seine Existenz bangen muß".

Und dennoch betont sogar derjenige, der den Gaskammern von Birkenau wie durch ein Wunder selbst entkam: "Stets von neuem mache ich den Versuch, mich [von Israel] zu distanzieren. Es gelingt allerwegen nur teilweise. Ich bin ein wacher Kritiker israelischer Politik, zögere nicht, mir Wohlwollen zu verscherzen, Freundschaften zu gefährden, wenn ich öffentlich die augenblicklich im Amte befindliche israelische Regierung als eine irrationalistisch-chauvinistisch inspirierte mit Schärfe ablehne", lenkt Améry ein, um dann trotzdem entschlossen hinzuzufügen: "Wo es aber dann jählings ans Herz der Dinge geht und ich Gefahr wittere für das verzweifelt um sich schlagende Ländchen, ist, jenseits eines Judentums, auf das ich mich nicht berufen kann, weil ich es nicht besitze, mein Judesein am Ende doch ausschlaggebend. Ich ergreife Partei. Für Israel."

Im Zeitalter der deutschen Rehabilitierung

Text für Text der Werkausgabe dieses großen Publizisten des 20. Jahrhunderts erstaunt der Leser mehr und kann nicht anders, als den in klarer Sprache verfassten Argumentationen Amérys geradezu atemlos zu folgen.

Einerseits ist hier ein offener Brief wie derjenige an den ehemaligen SS-Mann und "Merkur"-Autor Hans Egon Holthusen (1967), der lange vor dem späten SS-Geständnis eines Günter Grass in der angesehenen Zeitschrift jovial von seinem ehemaligen Eintritt in die NS-Elite-Organisation schrieb wie über einen lässlichen, ja vielleicht sogar zu Teilen noch heute verständlichen Lausbubenstreich, ein unschätzbares Zeitdokument. Andererseits verwehrt sich Améry hier in einer zunächst unfassbar freundlichen, dann aber doch hart zuschlagenden Rhetorik gegen eine Gleichsetzung der Lebenserfahrungen von Täter und Opfer, die auch angesichts der international umstrittenen aktuellen Berliner Ausstellung "Erzwungene Wege" des "Zentrums gegen Vertreibungen" und der Präsidentin des Bunds der Vertriebenen, Erika Steinbach, abermals so aktuell erscheinen muss wie ehedem: "Sie gingen zur SS, freiwillig", schreibt Améry an Holthusen. "Ich kam anderswohin, ganz unfreiwillig".

Mehr muss zur Unterscheidung dieser unterschiedlichen Lebenserfahrungen wohl auch heute nicht gesagt werden - diese Differenz zu begreifen, fällt allerdings gerade auch den nachgeborenen Generationen, die den Nationalsozialismus mehr aus ihrem Kinobesuch von Bernd Eichingers Hitler-Empathie-Schinken "Der Untergang" (2004) oder aus den unvermeidlichen TV-Sendungen Guido Knopps kennen, umso schwerer. Améry aber erkannte bereits in den 70er-Jahren, dass die "Zeit der Rehabilitierung" für die deutsche Schuld in Film, Funk und Fernsehen gekommen war -und zwar als "internationaler Trend".

Und wenn sich heute Linke und Rechte, antizionistische 'autonome' Regionalisten, "No Globals", Tübinger Turbo-Ökos, Marburger Bibelkreise, begeisterte "Junge Welt"- und taz-Leser, pensionierte Deutschlandfunk-Hörer, junge katalanische Zapatisten und islamistische Antisemiten gleichermaßen wie so genannte liberale Demokraten in aller Welt wieder darin einig sind, man habe vom Zionismus als "Rassismus" zu sprechen und Israel als "Apartheits-" bzw. "Terror-Staat" zu bekämpfen - so sei ihnen das ins Stammbuch geschrieben, was Améry bereits 1975 in einem offenen Brief an Erich Fried schrieb: "Ich stehe, sage ich, ein für Israel, denn in diesem Staate wehrt sich ein Häuflein Verzweifelter gegen eine Welt, in der sich die multinationalen Konzerne mit den neomarxistischen Denkspielern und verwirrten Gewalttätern aufs Herrlichste einig sind. Die sich mißverstehende 'Linke', die nicht aufmuckt gegen den gräßlichen Gorilla von Uganda", kommentiert Améry in Bezug auf damalige weltpolitische Konflikte, "noch gegen den fanatisierten Religionswahnsinnigen Ghadafi, ist allerweilen bereit, 'nationale Befreiungsbewegungen' von der IRA bis zu den bretonischen Autonomisten, jubelschreiend zu begrüßen. Nur wo es sich um die Juden und um Israel handelt, da wird eine für einmal authentische Bewegung einer ewig gemarterten Minorität, die endlich ihre Emanzipation erringen will, zum 'Imperialismus', möglichst zum 'verbrecherischen'." Und Améry fügt im Blick auf die USA hinzu, die den Linken damals wie heute als imperialistisches Ur-Zentrum des Bösen in der Welt galten: "Als ob die Israelis sich ihren einzigen 'Alliierten', den sie erleiden müssen und der seinerseits nicht zögern wird, sie zu ihm passender Zeit fallenzulassen, ausgesucht hätten!"

Ideologiekritischer Scharfsinn

Wie sehr sich die israelische Situation noch einmal würde zuspitzen können, ahnte Améry also richtig seinerzeit - auch wenn seine Prophetie noch nicht so weit reichte, zu wissen, dass Israel im Jahr 2006 in seiner Not sogar schon so weit sein würde, den Staat, aus dem einst der weit gebrachte Versuch einer Vernichtung aller Juden ausging, um Hilfe zu bitten: Deutschland.

Die Beobachtung Amérys, wonach der Antisemitismus im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus enthalten sei "wie das Gewitter in der Wolke", führt zu der sich wie ein roter Faden durch seine politischen Essays ziehenden Beobachtung, dass es nach 1968 vor allem und zunehmend die Linke war, die begann, Positionen zu vertreten, die ehemals der extremen Rechten eigen waren. Dies zeigt Améry auch in seinem nicht minder verblüffend aktuell gebliebenen Essay "Regionalismus: Notwendigkeit, Ideologie - oder Ersatzrevolution? Randnotizen zur Publikation 'Thema: Regionalismus'" (1977), einer Kritik an einer im Verlag Klaus Wagenbachs erschienen Ausgabe der Zeitschrift "Tintenfisch".

Hier begann bereits jener 'alternative' Geist zu rumoren, aus dem später die ökologische und pazifistische Partei der "Grünen" entstand, und Améry erkannte bereits Ende der 70er-Jahre mit scharfem analytischen Blick die international sich manifestierenden Gefahren der wiederkehrenden Ideologie eines regionalistischen Lebens 'im Einklang mit der Natur', gegen einen angeblichen 'inneren Kolonialismus' der Nationen: "Waren nämlich vordem die Verfechter von Brauchtum und provinzialistischer Identität fast durchweg Leute des rechten Lagers, bemühte Oberlehrer, die Volksliedertexte und mündlich überlieferte Volksaussprüche sammelten und die allerwegen kleine Herders haben sein wollen und jedenfalls im weitesten Wortsinne Romantiker, so haben wir es, nähern wir uns dem Phänomen des modernen Regionalismus an, mit linken, ja allenfalls linksradikalen Tribunen der Region des Dialekts zu tun."

Améry begriff also früher als die meisten, dass konstruierte 'Identitäten' und 'Kulturen' - seien es "okzitanische", "bretonische", "baskische", "korsische" oder "katalanische" - auf direktem Wege zurück in die gefährliche Ideologie des Nationalismus führten. So waren für ihn die zentralen Fragen diejenigen danach, "wo 1. der Regionalismus zugleich ein Nationalismus ist und inwieweit 2. die großen klassischen Nationalstaaten Frankreich und England nicht als Nationalstaaten alle in ihnen vereinten Kulturen und regionalen Besonderheiten gerade durch den Zentralismus und durch die Hochsprachen, aus denen dann die Hochkulturen wurden, auf eine höhere Ebene hoben und damit den Individuen größere Chancen zur schöpferischen Entfaltung gaben, als es innerhalb des regionalen Idylls möglich gewesen wäre."

Daraus zu folgern, dass ideologischer Ökologismus und Regionalismus trotz ihres linksalternativen bis revolutionären Gestus' letztendlich reaktionäre "Denkgespinste" seien, war zu der Zeit, als Améry dies schrieb, ein offener Affront, mit dem man sich 'zwischen alle Stühle' setzte. Und wer derartiges heute - etwa in einem prosperierenden Land wie Katalonien - in Diskussionen einzubringen wagt, riskiert immer noch - oder mehr denn je - eine Tracht Prügel.

Überhaupt hat sich leider gezeigt, dass sich Amérys zeitweise sogar noch wohlwollende Vermutung, "man müsse diese verwirrten Geister, die Jungsozialisten, die orthodoxen Kommunisten, die Maoisten, die Trotzkisten und die Linksradikalen am Rande des Spektrums, nur kräftig durchschütteln, damit sie wieder zu sich kommen und begreifen, was sie eigentlich tun" (Broder), auch und gerade in Sachen Antisemitismus nicht bewahrheitet hat. "Hier irrte Améry in einem wichtigen Punkt", spitzt Broder bereits 1996 zu. "Die antisemitisch-antizionistische Linke betrieb nicht das Geschäft ihrer Widersacher, spielte nicht die Rolle der nützlichen Idioten, sie fand sich mit ihrern Gegnern in einer großen Koalition zusammen, deren Grundlage die beiden Partnern eigene Abneigung gegen Juden war. Der Antisemitismus hatte schon immer eine gruppenübergreifende identitätsstiftende Funktion, er war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Linke und Rechte, Revolutionäre und Reaktionäre, Proletarier und Bourgeois verständigen konnten."

Versuche autobiografischer und literarischer Emanzipation

"Das jede schriftstellerische Arbeit, auch die theoretische, autobiographische Hintergründe, ein autobiographisches Substrat hat, ist eine weitum bekannte, fast schon triviale Tatsache; es kommt nur auf den Grad und die Dichte des autobiographischen Elements an, das in die Konzeption Eingang findet", schreibt Améry in seinem Artikel "Geschichte einer Arbeit. Suche nach einer Existenz" (1972).

Es ist jener bilanzierende Text, in dem der Publizist auf die Anfänge seiner Arbeit zurückblickt und überschlägt, dass er in den ersten 27 Jahren seit seiner Befreiung im Jahr 1945 rund 5.000 Zeitungsartikel, "die zusammen etwa 15.000 Buchseiten ausmachen würden, eine fast erschreckend umfangreiche Produktion", verfasst haben musste. Dass er so lange bloß als "Lohnschreiber" und nicht als Schriftsteller reüssierte, machte Améry bis zu seinem Freitod im Jahr 1978 zu schaffen. Zu den wenigen vielbeachteten Büchern, die ihn über den Status des Journalisten hinaushoben, zählt sein wohl radikalstes Buch, das Helmut Heißenbüttel einmal als "Summe" von Amérys Denken bezeichnete: "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod" (1976).

Werkgenetisch als Fortsetzung des Buchs "Über das Altern. Revolte und Resignation" (1968) konzipiert, bezeichnete Améry diese Schrift als seine "persönlichste": "Es soll ein Buch werden, das den Freitod ganz von Innen her darstellt", schrieb er 1975 an seinen Verleger. Bereits 1974 hatte Améry nach der kühlen Aufnahme seines Roman-Essays "Lefeu oder der Abbruch" einen gescheiterten Suizidversuch unternommen. In ihrem Nachwort arbeitet die Herausgeberin Monique Boussart die literarischen und philosophischen Zusammenhänge heraus, aus denen Améry sein "schonungsloses, zumal konkretes Ausloten der Suizid-Problematik" entwickelte. Auch wenn Boussart der gängigen Interpretation des Texts als einer "Chronik eines angekündigten Suizids" dezidiert entgegenarbeitet, so wird doch bei der Lektüre der Studie Amérys deutlich, wie unvermeidlich der Autor hier wiederholt auf seine prägenden Erlebnisse während der NS-Zeit rekurriert.

Améry begreift den Freitod als "absurden Freiheitsrausch" - und dass diese Sicht mit dem zu tun hat, was er vor 1945 erlitt, zeigt das letzte Bild seines Schlusskapitels "Der Weg ins Freie": "Denn noch der Suizidär, wenn er der Absprung-Schwelle sich annähert, muß Anmaßungen des Lebens sich gewachsen zeigen, anders fände er den Weg nicht ins Freie und wäre wie der KZ-Häftling, der es nicht wagt, an den Draht zu laufen, die Abendsuppe möchte er noch verschlingen und dann das heiße Eichelgebräu am Morgen und wieder eine Rübensuppe mittags, so geht es weiter."

Die ersten Sätze des Kapitels lauten: "Die Zelle ist vielleicht vier Meter lang, zwei Meter breit. Jedes Ausschreiten gelangt, kaum angefangen, an seine unüberschreitbare Grenze. Wie lange soll dies ausgehalten werden?" Damit dürfte klar sein, dass Améry aus einer biografischen Situation heraus über den Freitod schreibt, die nicht mit den Gelegenheitsdepressionen irgendwelcher exhibitionistischer Talkshowheuler im nachmittäglichen Kabelfernsehen heutiger Tage zu verwechseln ist.

Und man muss unwillkürlich an Jan Philipp Reemtsmas Feststellung in Steiners zitiertem Sammelband denken, wonach Améry gerade dort nicht von sich spreche, wo er in seinen Texten "ich" schreibe - vor allem, wenn man den letzten Satz in "Hand an sich legen" liest. Dort also, am Ende seines Freitod-Diskurses, scheint Améry im Gegensatz dazu direkt auf ein zerstörtes Ich zu schauen, "als blickte er durch ein Mikroskop auf irgendetwas Fremdes" (Reemtsma) - mit einer aus der Distanz gewonnenen Nüchternheit, die aus ihrer eigenen Beschädigung heraus paradoxe Kraft zu schöpfen scheint, ohne Ich zu sagen: "Es steht nicht gut um den Suizidär, stand nicht gut für den Suizidanten. Wir sollten ihnen Respekt vor ihrem Tun und Lassen, sollten ihnen Anteilnahme nicht versagen, zumalen wir ja selbst keine gute Figur machen. Beklagenswert nehmen wir uns aus, das kann ein jeder sehen. So wollen wir gedämpft und in ordentlicher Haltung, gesenkten Kopfes den beklagen, der uns in Freiheit verließ."

Der 'Weg ins Freie'

Amérys letztes Buch war "Charles Bovary, Landarzt" (1978), ein komplexer Versuch einer Neufassung der "Madame Bovary" Gustave Flauberts, in gleichzeitiger Auseinandersetzung mit Amérys lebenslangem philosophischem Vorbild: Jean Paul Sartre. Dass Herausgeber Hanjo Kesting, der seinerzeit die Rundfunkversion des Texts federführend gestaltete und parallel dazu einen ausführlichen Briefwechsel mit Améry führte, der im Werkband 4 auch zu Teilen abgedruckt ist, über 60 Seiten für sein Nachwort benötigt, zeigt, wie viel zu diesem Buch immer noch zu sagen bleibt - beziehungsweise wie wenig bislang davon verstanden wurde.

"En cas de malheur würde ich es bleiben lassen", schrieb Améry an seinen Lektor Hubert Arbogast, in banger Erwartung der ersten Rezensionen seines Werks. Nicht zu Unrecht nennt Irene Heidelberger-Leonard diese Botschaft in Anbetracht des wenig später erfolgten Suizids Amérys "zweideutig". Amérys dann tatsächlich kurz nach Erscheinen des Essay-Romans vollzogener Freitod wirkte wie ein letzter hinzugefügter Satz, der seinem Werk eine komplett neue Bedeutung gab. Hans J. Fröhlich schrieb damals in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung": "Da dieses Buch plötzlich aus lauter letzten Sätzen besteht, möchte ich keinen einzigen missen. [...] Ich habe den Chiffrencharakter dieser scheinbaren Entgleisungen nicht erkannt. Ich habe, was peinigend war, als peinlich verdrängen wollen, weil ich nicht bereit war, Amérys radikales Denken anzunehmen." Es ist an der Zeit, dass dies geschieht.


Titelbild

Stephan Steiner (Hg.): Jean Améry (Hans Maier). Mit einem biographischen Bildessay und einer Bibliographie.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
303 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-10: 3861091216

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Jean Améry: Werke. Band 3: Über das Altern. Revolte und Resignation Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod.
Herausgegeben von Monique Boussart.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
537 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-10: 3608935630

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Jean Améry: Werke. Band 7: Aufsätze zur Politik und Zeitgeschichte.
Herausgegeben von Stephan Steiner.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2005.
679 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-10: 3608935673

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Jean Améry: Werke. Band 4: Charles Bovary, Landarzt. Aufsätze zu Flaubert und Sartre.
Herausgegeben von Hanjo Kesting.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2006.
402 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-10: 3608935649

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