Moritz im Taschenformat?

Über die "Erfahrungsseelenkunde" und einige andere Schriften und Dichtungen von Karl Philipp Moritz

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die zweibändige von Heide Hollmer und Albert Meier herausgegebene Karl Philipp Moritz-Edition im Deutschen Klassiker Verlag ist 1999 erschienen. Die vorliegende einbändige Taschenbuchausgabe entspricht dem ersten Band der "Werke" der gebundenen Ausgabe seitengenau. Lobenswert ist, dass weder das Satzbild verkleinert noch sonstige typografische Veränderungen gegenüber der Originalausgabe vorgenommen wurde. Damit hält man einen soliden Band der Frankfurter Klassikerbibliothek in der Hand, dessen Inhalt ein wenig Aufmerksamkeit geschenkt werden soll.

Der Leser findet von den "Dichtungen" von Moritz "Anton Reiser", "Andreas Hartknopf", "Blunt oder der Gast", "Fragmente aus dem Tagebuch eines Geistersehers" und Auszüge aus den Schriften zur "Erfahrungsseelenkunde". Damit enthält dieser Band schon mehr als nur einen repräsentativen Querschnitt durch das Werk von Moritz. In der Einleitung zum "Magazin zu Erfahrungsseelenkunde" formuliert Moritz ein literarisches Programm: "Wenn man sonst in irgend einer Sache eine Zeitlang fortgeschritten ist, so ist es nötig, seine Gedanken einmal wieder auf den Hauptgegenstand zurückzurufen, und zu untersuchen, wohin der Weg uns eigentlich führen soll - dies kann aber in dem Fall, wo man Wahrheit sucht, nicht wohl statt finden, weil man sich hier das Ziel nicht selber setzen darf, sondern abwarten muß, wohin der Weg führen wird." Moritz ist mit seinem ganzen Magazin einer tiefen aufklärerischen Position verhaftet. Was sich in seinen Romanen abzeichnet, wird mit dem "Magazin" auf noch breiterer empirischer Materialbasis exemplifiziert: "Dies heißt nichts anders, als die Wahrheit muß um ihrer selbst willen gesucht werden; sie muß uns das höchste Gut sein; und alles Erwünschte und Angenehme, was nicht mir ihr bestehen kann, in unsern Gedanken überwiegen."

Dieses aufklärerische Konzept spiegelt sich in dem "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" in den publizierten Fallstudien wider. Es geht über eine Sammlung empirischer medizinischer Berichte hinaus. Schon aufgrund ihrer Entstehungszeit sind die Studien eine unschätzbare Quelle für den Wissenschaftshistoriker der Medizingeschichte. Darüber hinaus sind es aber vor allem literarische Texte, die in ihrer Auswahl und Vielschichtigkeit die gesellschaftliche Befindlichkeit der 1780er Jahre repräsentieren und den heutigen Leser auf die "psychologischen Möglichkeiten" von Literatur verweisen. Moritz baut mit seinem Magazin in mehr oder weniger erfreulicher Zusammenarbeit mit seinen Mitherausgeber einen Textkorpus auf, der bislang kaum einer detaillierten und näheren Untersuchung unterzogen wurde - ein fruchtbares Feld für den Kulturwissenschaftler, wenn er sich denn der umfangreichen Lektüre annehmen würde. Das gesamte "Magazin" wurde als unkommentierter Nachdruck 1978/79 und 1986 innerhalb der "Schriften in dreißig Bänden" (Greno, Nördlingen) ebenfalls unkommentiert als Nachdruck herausgegeben. Bei den Reprintausgaben ist es vor allem der fehlende Kommentar, der den Zugang zur Lektüre versperrt. Dies ist bei der vorliegenden Ausgabe vermieden worden. Zwar war man auf Auszüge beschränkt und es konnte nicht der gesamte Textkorpus im Rahmen der Edition wiedergegeben werden, aber die Auszüge aus dem "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde", die die Herausgeber in der hier vorliegenden Edition vorstellen, gewähren einen repräsentativen Überblick und in Hinblick auf die Reprintausgaben einen hervorragenden Einstieg. Dabei sei vor allem auch auf den kenntnisreichen Kommentarteil des vorliegenden Bandes verwiesen.

Neben den anderen Schriften und Dichtungen ist den Herausgebern mit der Edition der Texte aus der "psychologischen Zeitschrift", wenn man sie denn so nennen will, eine bemerkenswerte Auswahl aus einer der frühesten und spannendsten Sammlungen zur Psychologie gelungen. Zwar konnten nicht alle von Moritz verfassten Beiträge berücksichtigt werden, aber liest man die Texte als eine Art Einführung in Übungen zur Kulturwissenschaft, dann kann man ihnen eine fachübergreifende Dimension abgewinnen, die einen neuen Blick auf einen bisher nahezu unberücksichtigt gebliebenen kulturwissenschaftlichen Textkorpus ermöglicht.

Neben diesem Band hat der Herausgeber Albert Meier noch die Werkmonografie "Karl Philipp Moritz" (Reclam) verfasst, die eine kenntnisreiche Ergänzung zum vorliegenden Band ist. Ebenso bietet der Katalog zu der in Hannover bis zum 14. Oktober 2006 veranstalteten und von Christof Wingertszahn konzipierten Ausstellung zum sozialen Kontext von "Anton Reiser" einen hervorragenden Einblick in die gesellschaftliche Folie des Romans. Man kann diesbezüglich auf die von Wingertszahn bestellte Edition des "Anton Reiser", die im Kontext der neuen Moritz-Ausgabe an der Akademie erscheint, gespannt sein.


Titelbild

Albert Meier: Karl Philipp Moritz.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
295 Seiten, 6,60 EUR.
ISBN-10: 3150176204

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Titelbild

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsseelenkunde.
Herausgegeben von Heide Hollmer und Albert Meier.
Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
1361 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 3618680082

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